Südwesten/Stuttgart, 14. Februar 2020. (red/pro) Die Anti-Terror-Übung BWTEX (Baden-Württembergische Terrorismusabwehr Exercise) Mitte Oktober auf dem Truppenübungsplatz Heuberg (Stetten am kalten Markt) gilt mit rund 2.500 Teilnehmern als bislang größte Anti-Terror-Übung in Deutschland. Recherchen des RNB zeigen, dass das Stuttgarter Innenministerium von einer dauerhaften Terrorlage ausging – denn erst, wenn die Polizei die Lage nicht mehr mit eigenen Mitteln beherrschen kann, kann die Bundeswehr hinzugezogen werden. Und auch andere Szenarien werden als durchaus möglich gedacht – sonst bräuchte man die ja nicht üben.
Von Hardy Prothmann
Die Ausgangsfrage für unsere Recherche war die Auswertung der verfügbaren Informationen. Dabei fiel auf, dass vor allem ein Gerät in Szene gesetzt worden war – der GTK Boxer (Gepanzertes Transport-Kraftfahrzeug oder Gruppen-Transport-Kraftfahrzeug), der als Transport- oder Sanitätsfahrzeug oder Schützenpanzer konfiguriert werden kann. Rund 700 Fahrzeuge plant die Bundeswehr für ihren Bestand als notwendig, aktuell sind wohl 400 Fahrzeuge im Einsatz.

Quelle: heldt wikipedia gemeinfrei
Bei der Übung wurde ein Terroranschlag in Konstanz von 15 Angreifern angenommen, die mit automatischen Waffen und Sprengstoffgürteln ausgerüstet waren. Es kommt zu Kampfhandlungen in der Innenstadt – 30 Menschen getötet, 70 teils schwer verletzt. Die Bundeswehr unterstützt die Polizeikräfte – unter anderem mit dem Einsatz des GTK Boxer, um erste Hilfe zu leisten und Verletzte zu versorgen.
Dauerhafte Terrorlage angenommen
Doch wo kamen die Radpanzer her? Der nächste Standort, wo GTK Boxer stationiert sind,
befindet sich über 300 Kilometer entfernt im bayerischen Erding. Selbst wenn alles optimal liefe, von der Alarmierung, über die Genehmigung des Einsatzes bis zum Eintreffen des Geräts vor Ort, würden viele Stunden vergehen – schwer verletzten Personen wäre nicht mehr zu helfen. Allein die Fahrtzeit würde vier Stunden benötigen – ohne Staus auf der Autobahn.
Auf Anfrage teilte uns das Innenministerium mit:
„Der Einsatz der Bundeswehr in einer solchen Lage ist immer abhängig von der Verfügbarkeit der Kräfte und Fahrzeuge. Grundsätzlich kommt der Einsatz der Bundeswehr im Innern aus verfassungsrechtlicher Sicht nur dann in Betracht, wenn es sich um eine katastrophische Lage handelt, bei der die Polizei die Lage nicht mehr mit eigenen Mitteln beherrschen kann. Dies kann zum Beispiel – wie auch in der Übung angenommen – dann der Fall sein, wenn sich über Monate hinweg in Deutschland bereits mehrere Terroranschläge ereignet haben und konkrete Terrorwarnungen bestehen. In solchen Fällen löst die Bundeswehr einen sog. Militärischen Katastrophenalarm aus und stellt eine hohe und schnelle Verfügbarkeit von Kräften und Material her. Deshalb kann ein schneller Einsatz unter günstigen Bedingungen durchaus realistisch sein.“
Die Genehmigung würde über das Bundesverteidigungsministerium nach Artikel 35 Grundgesetz erteilt.
Das Undenkbare denken
Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte am 17. Oktober 2019 im Landtag: „Es geht darum, alles zu tun, um ein solches Szenario, wie es dieser Übung zugrunde liegt, bereits im Vorfeld zu verhindern. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer Verantwortung für die Sicherheit in diesem Land hat, der muss auch das Undenkbare denken und für eine solche Lage, von der ich hoffe, dass sie niemals eintreten wird, bestmöglich gewappnet sein. Deshalb tun wir dies mit großem Aufwand, und ich bedanke mich bei allen Beteiligten, die diese große Übung seit vielen, vielen Monaten vorbereitet haben, für ihre Arbeit. Dies dient dem Schutz unserer Bevölkerung, dem Schutz der Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger. Möge der liebe Gott verhüten, dass ein solches Anschlagsszenario jemals eintritt!“

Innenminister Thomas Strobl informiert sich in Mannheim über die Einsatzübung.
Also das Undenkbare denken, gerade dann, wenn der liebe Gott es nicht mehr verhütet? Übersetzt heißt das: Das Innenministerium geht davon aus, dass es zu solchen Anschlägen kommen kann. Weiter geht es davon aus, dass die Polizeikräfte alleine eine solche Lage nicht mehr beherrschen und deswegen die Unterstützung der Bundeswehr benötigen – ob im Südwesten oder sonstwo in Deutschland.
Realistische Übung?
Doch war die Übung realistisch geplant? Von 15 Angreifern wurden 13 getötet und zwei schwer verletzt, die man festgenommen hat. Heißt, es gab nur 17 Todesopfer bei dieser Terrorattacke und nur 70 Verletzte. Zum Vergleich: Beim bislang größten Terroranschlag in Westeuropa, dem Attentat vom 13. November 2015 in Paris, starben 130 Opfer während der Tat, 683 wurden verletzt, davon 97 schwer wie viele später starben, ist uns nicht bekannt. 11 Personen verübten an verschiedenen Orten die Attentate mit Maschinenpistolen, Messern, Bomben und Sprenggürteln, sieben starben während der Tathandlungen. Auf Nachfrage teilt das Innenministerium mit:
„Die Auswirkungen eines solchen Anschlagsszenarios ist weder vorhersehbar noch nach bestimmten Schemata berechenbar. Es wurde unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen eine Übungsanlage entwickelt, die für die Kräfte ein forderndes und realitätsnahes Szenario darstellt.“

Ist das realitätsnah? Einsatzzug schützt sich mit einfachen Staubmasken vor Rizin.
Wie viele der Opfer Zivilsten waren und wie viele Einsatzkräfte, konnte das Ministerium nicht mitteilen. Aus Sicherheitsgründen habe man auf den Einsatz von Farbmarkierungsmunition verzichtet – insofern sei auch nicht feststellbar, wer durch welche Kugeln getroffen worden war.
Bevölkerung wird nicht vorbereitet
Ein dringendes Problem wurde bereits vor dem Einsatz deutlich – Polizei, Rettungskräfte und Bundeswehr können nicht per Funk miteinander kommunizieren, weil sie unterschiedliche Technik einsetzen. Also behalf man sich mit Telefonen, Verbindungsoffizieren, die tatsächlich hin- und herliefen sowie „taktischen Zeichen“. Und auch der Inhalt der Kommunikation führte zu Verwirrung, weil beispielsweise „eine Streife“ bei Polizei und Bundeswehr eine andere Bedeutung hat.
Was Polizei und Bundeswehr hier übten, „auf das Undenkbare vorbereitet zu sein“, gilt nicht für die Bevölkerung: Ein Handlungsleitfaden für die Bevölkerung für Terrorfälle ist aus unserer Sicht nicht zielführend. Wir setzen zunächst darauf, in einer solchen Lage mittels Systemen zur Warnung der Bevölkerung, Rundfunk- und Mediendurchsagen sowie über social media-Kanäle schnell gezielte und konkrete Verhaltenshinweise an die Bevölkerung im Einzelfall weiterzugeben, teilt das Innenministerium auf Anfrage mit.
Übersetzt: Die Bevölkerung wird nicht auf das Undenkbare vorbereitet. Warum, wird nicht erklärt. Solche Handlungsleitfäden gibt es nur für die BOS-Einheiten (Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben). Wer das Haus nicht verlässt, kann trotzdem gefährdet sein – je nach Munitionstyp können auch Mauern durchschlagen werden. Die neue Munition für die MP7, eine Kriegswaffe mit der die Polizei in den vergangenen Jahren ausgerüstet worden ist, um „schlagkräftig“ gegen Angreifer mit automatischen Waffen zu sein, durchschlägt locker Fahrzeuge – um beispielsweise Personen „bekämpfen“ zu können, die sich hinter einem Fahrzeug verschanzen.
Hinzu kommen weitere Übungen wie bereits in Hauptbahnhöfen deutschlandweit – auch im September 2018 übte man im Stuttgarter Hauptbahnhof eine Terrorlage. Im September 2019 „verhinderte“ man bei einer Übung in der Mannheimer Franklin-Kaserne einen geplanten Giftgasanschlag – hier nahm man ein Rizin-Labor an. Wie „gut“ Polizeikräfte dabei ausgestattet waren, sah man eindrucksvoll beim Mannheimer Einsatzzug – die Beamten, die den Einsatz absicherten, hatten Baumarkt-Masken vorm Gesicht, während Spezialkräfte in hermetischen Gummianzügen sich vor dem möglichen Gift schützen.
Ganz offenbar geht das Innenministerium davon aus, dass solche Szenarien jederzeit Realität werden könnten – sonst müsste man das ja nicht üben.
Sind „einfache Tatmittel“ nicht realistischer?
Seit dem Attentat in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, wo der Tunesier Anis Amri insgesamt 12 Menschen mit einem gestohlenen Lkw tötete und 55 Menschen verletzte, seien laut Bundeskriminalamt neun Anschläge mit islamistisch-terroristischem Hintergrund in Deutschland verhindert worden. Allein im November 2019 seien es zwei erfolgreiche Abwehrungen gewesen.
Betrachtet man sich die Zahlen auch anderer Anschläge, sind die vermeintlichen Einzeltäter in Summe „erfolgreicher“, was den „Body-Count“ angeht. Hier sind die Tatmittel vor allem Fahrzeuge und Messer. Beide können ohne viel Aufwand und vor allem bei geringem Risiko besorgt werden, während Waffen und Material für den Bombenbau viel eher auffallen und damit mögliche Attentäter schneller erkannt werden können.

Die Terrorübung in Mannheim fand großes mediales Interesse – nur welcher der Reporter hat wirklich Ahnung vom Thema?
Die Welt am Sonntag berichtete zum Jahresende:
„Mit Blick auf diese Häufung sieht der Leiter der neuen Abteilung „Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus“ im BKA, Sven Kurenbach, einen möglichen Zusammenhang zum Tod des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi. US-Soldaten hatten den meistgesuchten Terroristen der Welt im Oktober in Syrien aufgespürt, auf der Flucht sprengte er sich in die Luft. „Nach dem Tod des IS-Anführers wurde in radikalislamistischen Kreisen vermehrt zum Terror im Westen aufgerufen“, sagte Kurenbach. „Der Trend geht dabei zu Anschlägen mit einfachen Tatmitteln. Schusswaffen spielten bei Anschlagsplanungen hierzulande zuletzt weniger eine Rolle.“
Wieso trainiert man also mit einer solchen Großübung einen eher unwahrscheinlichen Fall, während der „Trend“ eher zu „einfachen Tatmitteln“ geht? Will man möglicherweise Handlungsfähigkeit suggerieren – sind solche Übungen nur eine Beruhigungsmaßnahme für die Bevölkerung oder stört das eher den öffentlichen Frieden, wenn sich Behörden vorbereiten, aber die Bevölkerung „nicht mitgenommen wird“?
Die Zahl der Gefährder, die zu Anschlägen bereit sein könnten, soll bei aktuell rund 2.300 Personen liegen – hinzu werden in Zukunft die „Rückkehrer“ kommen. Kampferprobte Mörder, den man nichts zutrauen muss, sondern die bereits bewiesen haben, dass sie zu allem fähig sind. Und dazu all die, die in den kommenden Jahren wieder aus den Gefängnissen entlassen werden, plus die, die im Ausland leben. Siehe Paris – hier kamen einige der Attentäter aus Belgien.
„Gefährdern trauen die Behörden zu „jederzeit einen Terroranschlag“ zu verüben. Als relevant wird beispielsweise eingestuft, wer im extremistischen Spektrum eine Führungsrolle hat, als Unterstützer gilt oder enge Kontakte zu Gefährdern unterhält. „All diese Personen rund um die Uhr im Blick zu behalten, ist nicht möglich“, betonte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. „Pro Person bräuchte man bis zu 40 Beamte. Wir konzentrieren uns deshalb auf die, die wir als besonders gefährlich betrachten“, berichtete der Bayerische Rundfunk am 14. April 2019.
Anis Amri gehörte offenbar nicht zu den besonders „gefährlichen Personen“ und konnte deshalb zwölf Menschen ermorden und 55 teils schwer verletzen.
Laut einer Studie von „statista“, veröffentlicht im Sommer 2015 fürchten sich rund 70 Prozent der Deutschen vor Terroranschlägen – ein klares Zeichen, dass hier viel Aufklärung fehlt, denn rein statistisch ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, sehr gering.
Mangelnde Medienkompetenz, zu wenig Wissen über die tatsächlichen Gefahren und das richtige Verhalten werden die Menschen weiter verunsichern – um das zu ändern, braucht es eine breite gesellschaftliche Debatte. Doch auch Medien müssen auf die Schulbank – denn die meisten haben keinen Plan, wie man vernünftig über Terror berichtet, ohne den Schrecken weiter zu verbreiten und damit das Ziel der Terroristen zu erfüllen.