Kiel, 24. Oktober 2023. (red/kb) Die (namenlose) Sturmflut, die in der Nacht zum vergangenen Samstag über die Küstengebiete in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern hereingebrochen ist, hat verheerende Schäden verursacht. Unsere Mitarbeiterin und Autorin Katharina Beckmann kommt vom Rhein und lebt seit langem in Kiel. Der Strand, an dem sie noch vor kurzer Zeit den Geburtstag ihrer Tochter gefeiert hat, gibt es nicht mehr. Sie schildert Ihre Eindrücke (Stand Montag) in einem sehr lesenswerten Text.
Von Katharina Beckmann (Fotos: privat)
Nachdem der Sommer dieses Jahr hier im Norden pünktlich zum Juli blau gemacht hatte, hat er es nach hinten raus nochmal richtig gut mit uns gemeint.
Noch vor rund vier Wochen konnten wir deshalb den Geburtstag unseres Kindes am Strand feiern, und auch noch im Oktober konnte man ein Bad wagen, ohne Frostbeulen zu bekommen.
Den Geburtstagsstrand gibt es nicht mehr

War schön. Ist weg
Am vergangenen Wochenende ging hier niemand, der bei Sinnen war, freiwillig ins Wasser, und den Strand an dem die Geburtstagsparty stieg, gibt es so nicht mehr.
Kiel und seine Häfen und Strände wurden am 20.10.2023 von einer schweren „Sturmflut“ getroffen, die nicht nur Wellen, Sand, Seegras, Boote, Bäume, Molen, Deiche und Gehwege, sondern auch einige Fragen aufgeworfen hat.
Rund 2.000 Menschen wurden in Schleswig-Holstein evakuiert, die Schäden gehen in die dreistellige Millionenhöhe. Eine Person kam, soweit bisher bekannt, ums Leben.
Kein Gesabbel – aber man wird drüber reden müssen
Der durchschnittliche Deutsche hört von Kiel gefühlt einmal im Jahr, nämlich zur Kieler Woche, und auch der Kieler selbst scheint bisweilen überrascht davon zu sein, in einer Landeshauptstadt zu leben.
Der Rest des Landes vergisst uns ansonsten, außer man will mit den Kindern in die Ferien „an die See“; und uns ist das eigentlich auch ganz recht. Man mags halt ruhig und ohne viel Gesabbel.
Der vergangene Freitag auf Samstag sollte jedoch nicht nur die Bewohner unserer Küsten, sondern alle daran erinnern, dass dies ein fataler Denkfehler ist.
Die „Sturmflut“ – die (wenn auch von allen Medien und sogar offiziellen Stellen als solche kolportiert) streng genommen gar keine war, da die Ostsee kaum Tidenhub beziehungsweise Flutwasserstand hat, weshalb es hier Sturmhochwasser genannt wird – diese Flut wurde durch den Sturm aus östlicher Richtung verursacht, der bereits im Laufe des Donnerstags auch beim sturmfesten, ja oft beinahe wetterapathischen Norddeutschen ordentlich Eindruck machte.

Sturmflut oder Hochwasser?
Sonst heißt es: Sturm ist, wenn das Schaf keine Locken mehr hat
Zum Abend hin machte sich dann die buchstäbliche Stille vor dem Sturm breit.
Wenn man an den Stränden und Häfen Kiels (und vermutlich auch in jedem anderen Ort der deutschen Küste) Touristensouvenirs kaufen will, kommt man nicht an Postkarten und Tassen mit fraglichem Design und zwar nicht plattdeutschen, aber platten Sprüchen wie „Sturm ist, wenn das Schaf keine Locken mehr hat“ vorbei.
Mindestens Windstärke 10 also, mit orkanartigen Böen. Freitag hatte man dann eher den Eindruck von „Sturm ist, wenn das Schaf wegfliegt“.
Und auch das Wasser stieg schneller und an vielen Orten höher als erwartet. In Kiel waren es rund 2 Meter über Normalwert. Hoch genug, um die Hafenmolen zu überwinden, die Strände entlang der Förde zu verschlingen und erheblichen Schaden an allen Arten von Bauwerk und Befestigung entlang der Küstenlinie zu verursachen.
Nach dem Sturm scheint wieder die Sonne
Heute ist Montag. Ich stehe im Olympiahafen in Schilksee.
Die Sonne scheint.
Die Ostsee vor mir strahlt blau und unverdächtig.
Der Hafen ist betriebsam wie zur Kieler Woche, aber mit Betonung auf der Arbeit meinenden Wortbedeutung. Es gibt noch mehr Unterschiede: Statt Dekoflaggen, Werbung und Sponsorenbannern liegen überall Sandsäcke herum. Und überall hängt Seegras, wird zusammengesammelt, rumgefahren, verladen.
Die Fischer fahren wieder raus
Es gibt in Kiel in dieser Woche auch keine Fressbuden oder Shoppingstände für Seglerklamotten. Die Fischbrötchenbude hat geschlossen und der einzige Stand gehört zu einer Versicherung für Boote, die nicht nur Papierkram erledigt, sondern auch gleich mit eigenen Motorbooten mit anpackt.
Auch jetzt geht es hier vor allem um die Boote. Zum Segeln ist heute aber keiner hier, eher um festzustellen, ob man noch was zum Segeln hat und zu retten, was zu retten ist.
Boote mit aufgerissenem und regelrecht rausgehacktem Rumpf liegen aufgedockt, Boote hängen an Kränen, werden getrailert.
Auch am dritten Tag nach dem Höhepunkt der Flut liegen aber auch immer noch Boote unter Wasser, wie Spielzeug hingeworfen im Sand, stecken in der Kaimauer und verbogenen Geländern. Immer wieder höre ich, dass auch Boote über die Außenmole in die Förde hinaus gespült wurden.
Die Stimmung ist speziell. Die Einheimischen kennen das Meer. Man lebt damit, und dazu gehört anzuerkennen, dass die Natur mehr Kraft hat als man selbst. Es herrscht nüchtern-geschockter Pragmatismus. „143 kmh!“ ruft der Fischer laut und gestikulierend aus, legt dabei aber schon wieder mit seinem Kutter ab. Andere sind vor allem froh, wenn das eigene Boot nicht gesunken oder irreperabel zerstört ist und man schaut verstohlen zu den Masten, die noch überall schräg aus dem Wasser ragen.
Es gibt keine absolute Sicherheit
Schlecht informiert gefühlt hat sich keiner. „Man ist es gewohnt, den Wetterbericht im Blick zu behalten“, sagt eine Betroffene. Anders als zum Beispiel in Flensburg hatte es für Kiel keine KATWARN- oder NINA-App-Warnmeldungen gegeben.
Und auch eine noch präzisere Prognose hätte nichts daran geändert, dass man nicht alle Boote auf einmal hätte aus dem Wasser holen können. Wer konnte, hat das getan oder seinen Besitz so gut und so lang es ging vorbereitet. „Absolute Sicherheit gibt es nicht“, ist man sich einig.
Wer kann, arbeitet. Dazu brauchen die meisten aber nicht nur alle Mann an Deck, sondern eine Bergungscrew, Kräne, Taucher, Slipper, Bootsbauer und Techniker und so weiter und so fort.
Der Millionenschaden ist „beeindruckend“
Er könne sich vor Aufträgen kaum retten, bestätigt ein Bootsmechaniker. Die Schadensbehebung werde sich lang hinziehen, zumal die Nachfrage das Angebot bei weitem übersteigt. Und das könnte nicht nur ein Problem bei der Reparatur von Booten, sondern auch bei der Instandsetzung der Molen und Befestigungen sein. „Firmen die sowas machen brauch man normalerweise ja nicht“, sagt er. Ist das so?
Der Millionenschaden im sonst so schicken und cleanen Olympiahafen Schilksee ist im Wortsinn „beeindruckend“. Doch bewegt man sich die Küstenlinie weiter entlang zum Bülker Leuchtturm, machen sich schnell noch ganz andere Vibes breit.
Ich will angesichts dessen, was international los ist, nicht davon sprechen, es sehe teilweise aus wie in einem Kriegsgebiet. Und es ist auch nicht das Ahrtal – hier ist nur eine Person ums Leben gekommen. Man hat offenbar ausreichend gewarnt und evakuiert.
Und was die an die 50 gesunkenen Boote in Kiel angeht, mag manch einer sogar denken, dass Segeln halt ein Luxushobby ist, für dessen Risiken man privat verantwortlich ist.
Wer für sich aber als Sailing City wirbt, steht mit in der Verantwortung. Und es sind eben nicht nur die zerstörten Boote. Wenn man jetzt hier die wie weggesprengten Wege, abgerissenen Uferkanten, , weggeschleuderten Steinbrocken und entwurzelten Bäume sieht, versteht man das Wort Gewalt in „Naturgewalt“ sehr „plastisch“.

Schön „aufgereiht“
Singuläres Ereignis?
Das höchste Hochwasser seit 1904. Eine Naturkatastrophe mit Jahrhundertrhythmus. Schlimm, aber selten. Stimmt doch. Oder? Und da ist sie natürlich, die Frage, die inzwischen sicherer nach jedem Extremwetterereignis auftaucht als Schnee zu Weihnachten: Ist das eine Folge des Klimawandels?
Um es kurz zu machen: Die Autorin weiß es nicht, und wird das Rätsel an dieser Stelle auch nicht lösen.
Worauf sie aber hinweisen will: Wetter und Klima sind nicht dasselbe. Stürme und Hochwasser sind singuläre Wettereignisse, die örtlich und zeitlich begrenzt auftreten.
Beim Klima geht es um langfristigere Entwicklungen – welche die Häufigkeit von Wetterereignissen wie Fluten natürlich beeinflussen kann. Insofern wäre es denkbar, dass es nicht 120 Jahre dauert, bis die Ostküste erneut von einem Sturmhochwasser dieses Ausmaßes getroffen wird. Doch selbst wenn man dies sicher ausschließen könnte, bleibt man mit dem inzwischen als sicher angenommenen Anstieg des Meeresspiegels konfrontiert.
Und sieht das hier aus, als wäre man darauf irgendwie vorbereitet?
Ich sitze am mit Seegras, Schlick, Schnecken und Steinen überzogenen Strand zwischen einem nun wie tiefergelegten Klettergerüst und den Überresten eines Strandkorbs und lasse meinen Blick schweifen. Wie das sein könnte, wenn der Meeresspiegel steigt, ist auf einmal eine mehr als naheliegende Frage. Und wenn er es dauerhaft tut, reichen bereits viel kleinere Stürme, um das Hinterland zu überschwemmen – denn hinter den zu niedrigen und maroden Deichen ist ein teils sogar tiefer gelegenes, schutzloses Hinterland, das mit nichts darauf vorbereitet ist.
Hallo Deutschland – ihr seid unser Hinterland: #allhandsondeich
Und das ja nicht nur hier:
Im Kreis Rendsburg-Eckernförde wurde Freitagabend Katastrophenalarm ausgelöst, in Flensburg stieg das Wasser auf 2,20 über Normalwert und in manchen Gebieten gab es noch Sonntag keinen Strom, Arnis an der Schlei wurde überflutet nachdem der Deich brach, Schleswig, Damp, Laboe, Lübeck, Heiligendamm, Kühlungsborn, die Liste der betroffenen Orte ist lang.
Hallo Deutschland, hier ist der Norden, und auch du bist unser Hinterland!
#AllHandsonDeich sollte es heißen, und zwar vor allem in Richtung der politisch Verantwortlichen und am besten gestern.
Die schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli hat einen Unterstützungsfonds des Landes gefordert, um die Schäden der „Sturmflut“ zu bewältigen. Sowas wäre nicht verkehrt.
Christopher Vogt, FDP-Landtagsfraktionschef in Schleswig-Holstein hat sich bereits für eine Prüfung und Anpassung der Küstenschutzkonzepte und des Katastrophenschutzes ausgesprochen.
Inzwischen hat Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) auch finanzielle Hilfen zugesichert. Auch sein Umweltminister (Tobias Goldschmidt, Grüne) kündigte umfassende Anstrengungen zum Küstenschutz an, unter anderem einen Gesamtplan Ostseeküste bis 2100.

Joh
Es wird mehr „Sturmfluten“ geben
Wichtig und richtig. Äußerst passend und mit perfektem Timing veröffentlichte das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie am Montag Ergebnisse ihrer Studien zur Küste im Klimawandel: „Mehr Sturmfluten in der Deutschen Bucht“ prognostiziert man hier für das Ende dieses Jahrhunderts. Für die Ostseeküste potentiell an durchschnittlich 10 Prozent mehr Tagen im Jahr und schreibt explizit: „Die Erkenntnisse dienen der wissenschaftsbasierten Politikberatung.“ Man kann nur hoffen, dass das Gehör findet.
Aber Küstenschutz geht über Kiel, über die nördlichen Bundesländer hinaus. Absolute Sicherheit gibt es nicht, da hat die Seglerin aus Schilksee recht. Aber wer sich nicht vorsieht, hat in jedem Fall das Nachsehen.
Ergänzend wäre daher ein Sonderfonds des Bundes zur Vorbereitung der Küstenregionen und zum Schutz auch des Hinterlandes angesichts eines steigenden Meeresspiegels absolut angebracht.
Und zwar nicht nur an der Nord-, sondern auch an der Ostseeküste. Ein Blick in die Niederlande zeigt, wie kreativ man andernorts bereits heute ist, um morgen auch noch einen Lebensraum zu haben.
Oder einen Ort, um mit den Kindern in die Ferien zu fahren oder Geburtstag zu feiern.

Foto: privat
Zur Autorin: Katharina Beckmann (36) hat Geschichte, Politikwissenschaft und Internationales Recht in Göttingen und Kiel mit Abschluss Master studiert. Ihre Interessengebiete sind Politik, Gesellschaft und Natur. Zunächst war sie Leserin und Kommentatorin auf unseren Facebook-Seiten. Wegen ihrer fundierten Äußerungen wurde sie angeworben. Seit Frühjahr 2022 arbeitet sie für das RNB im Back-Office. Seit September auch als Autorin.
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