Rhein-Neckar, 27. Januar 2020. (red/pro) Vor 75 Jahren befreiten Soldaten der sowjetrussischen Roten Armee die Menschen des Konzentrationslagers Auschwitz (poln. Oswiecim). Allein in diesem Lager hatten die Mörder der nationalsozialistischen Diktatur über eine Million Menschen vernichtet, die meisten waren Juden. Seit Tagen berichten Medien rauf und runter – warum eigentlich? Das ist Terminjournalismus, nichts weiter. Und es ist kontraproduktiv, was die Erinnerung an die Opfer und die Auseinandersetzung mit dem mörderischen System angeht, wenn man sich moralisch überhöht.
Von Hardy Prothmann
Ich verdanke auf gewisse Weise einem russischen Soldaten mein Leben.
1944 war einer meiner Großväter eingezogen worden, um im sächsischen Erzgebirge Gebirgsjäger auszubilden. Er war damals 16 Jahre alt und bildete 14-16-jährige Jungs im Klettern und Skifahren aus. Heute würde man sagen, sie waren Kindersoldaten. Weder er noch seine „Kameraden“ kamen an die Front, niemand hat je einen Schuss abgegeben, aber sie wurden von der Sowjetarmee als Soldaten interniert.
Als mein Großvater eine günstige Gelegenheit erkannte, schlich er sich aus dem Lager, als es plötzlich „Stoy“ rief. Er lief weiter und wartete auf den Schuss. Der blieb aus.
Mein Großvater erzählte mir davon, als ich ebenfalls 16 war. Und er erzählte, dass er wie die meisten Deutschen ein positives Bild von Adolf Hitler, dem Führer, hatte. Was sich erst nach dem Krieg änderte, als er, wie viele hatte er bis 1945 dies und jenes gehört, das gesamte Ausmaß des nationalistischen Völkermords an über sechs Millionen Juden und weiteren Menschen, die als „unwertes Leben“ bezeichnet wurden, erfuhr.
Wenn man so will, war auch mein Großvater ein Nazi aus Überzeugung. Ein Jugendlicher zwar, aber eben ein Bewunderer Hitlers. Er unterscheidet sich darin nicht von Millionen anderen Deutschen. Wie viele andere hat er sich geläutert, als er erkannte, wie menschenverachtend, tödlich und zerstörerisch die NS-Ideologie und die daraus erfolgten Taten waren.
Ich habe mich damals oft gefragt, was ich wohl gedacht hätte, hätte ich damals gelebt. Hätte ich gedacht wie mein Großvater? Oder wäre ich in den Widerstand gegangen? Das Ergebnis meines Nachdenkens ist ernüchternd: Ich weiß es nicht.
Menschen waren und sind immer anfällig für Ideologien. Wenigstens das habe ich verstanden und wenn ich mich heute in der Welt umschaue, hat sich daran wenig geändert. In allen Ländern, die autoritär bis diktatorisch geführt werden, leben Menschen, die sich mit diesen Systemen irgendwie arrangieren. Es gibt wie immer die absolut Überzeugten, die Mitläufer und die Widerständler.
Wenn ich an die Schulzeit zurückdenke, gebe ich offen zu, dass mir die Quasi-Entnazifizierung irgendwann zu den Ohren rauskam. Diese immerwiederkehrende Belehrung über die Schuld der Deutschen. Meine Eltern sind beide nach dem Krieg geboren, ich 1966 – was und welche Schuld sollten sie und ich haben?
Das hält sich bei mir bis heute. Jeder nach 1945 geborene Deutsche ist definitiv ohne Schuld, was die Verbrechen von Nazi-Deutschland und insbesondere den Holocaust angeht. Ebenso wie alle zuvor Geborenen, die in Zeiten der Nazi-Diktatur Kinder oder Jugendliche waren.
Schuldzuweisungen außerhalb einer Gerichtsverhandlung sind meistens ein politisches Machtmittel, indem eine Gruppe eine andere beherrschen will und sich als das moralisch Gute gegen das unmoralisch Böse positioniert.
Wenn die Worte müssen, sollen, nicht dürfen, auftauchen, sollte man immer vorsichtig sein und fragen, wer hier vorschreibt, was man muss, soll oder nicht darf.
Niemand muss sich an den Holocaust erinnern und jeder darf sich dafür nicht interessieren ohne dafür moralisch abgewertet zu werden. Wenn man versucht, auf die Menschen Zwang auszuüben, tritt eher eine Abwehrhaltung ein. (Dazu hat Cicero ein sehr interessantes Interview mit Jens-Christian Wagner, Leiter Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten, geführt.)
In einem freien Land mit Meinungsfreiheit kann sich jeder selbst entscheiden, wofür er sich in welchem Umfang wann interessiert. Und jeder kann versuchen, andere für etwas zu interessieren.
Als ich 1989 einen Bekannten in Paris besucht habe, lernte ich an einem Abend ein altes Ehepaar kennen, die zum Essen zu dem schwulen Stewart und seinem chinesischen Partner, ein Künstler, gekommen waren. Wir parlierten auf Französisch so etwa zwei Stunden, als der damals 76-jährige Mann in einwandfreiem Deutsch zu mir sagte: „Das Gespräch mit Ihnen hat mir die Hoffnung zurückgegeben.“ Ich dachte, ich hätte mich verhört. Hatte der Mann gerade deutsch mit mir gesprochen? Er hatte.
1943 war er als Jude von Deutschland nach Frankreich geflohen, hatte im Widerstand gekämpft und seit seiner Flucht kein Wort deutsch mehr gesprochen. Da saß ich nun, 23 Jahre alt, jünger als er damals bei seiner Flucht, und redete mit einem Überlebenden des Holocaust, der mir gleichzeitig mit der Wucht seiner sehr nachdenklichen Schilderung klar machte, was „historisches Erbe“ heißt. Man entkommt ihm nicht, solange sich jemand daran erinnert. Schon gar nicht, wenn dieser jemand es selbst erlebt hat.
Ich habe mich damals neu sortiert und den Entschluss gefasst, dass ich mich erinnern will – was ein großer Unterschied zu müssen oder sollen ist. Ich bin wie heutzutage die allermeisten Deutschen im Land nicht schuld am Holocaust, aber ich gedenke zu allen möglichen Anlässen den Opfern der Nazi-Verbrecher.
Meine Entscheidung, die Erinnerung wach zu halten, ist freiwillig und von der Überzeugung getragen, dass Menschen unter gewissen Bedingungen zu jeder Grausamkeit fähig sind – egal ob damals, heute oder in Zukunft.
Die Vernichtung von über sechs Millionen Juden ist eine historisch singuläre Tatsache. Es gab und gibt andere Völkermorde. Doch wie auch bei einfachen Morden lassen sich diese niemals vergleichen. Die systematische, ja gar industriell-logistisch organisierte Vernichtung von Menschen in diesem Ausmaß schon gar nicht.
Die Bundesrepublik Deutschland kann als Rechtsnachfolger des Dritten Reichs niemals aus der politischen Verantwortung für diese Verbrechen entlassen werden. Der einzelne Bürger hingegen schon – niemand kann dazu verpflichtet werden, die Erinnerung wach zu halten. Politisch agierende Personen und Gruppen, ob einzeln oder organisiert, sind daher gut beraten, das Interesse am Thema zu wecken und Bürger zu interessieren, statt sich moralisch zu überhöhen.
Meine Entscheidung, die Erinnerung wach zu halten, hat noch eine weitere persönliche Komponente. In meiner Jugendzeit in Frankenthal gab es in den 80-iger Jahren sehr viele rechtsradikale Skinheads, mit denen ich mich häufig geprügelt habe – immer dann, wenn diese andere angegriffen oder bedroht hatten.
Diese Typen hatten versucht, den öffentlichen Raum zu übernehmen. Debattieren war nicht, dafür waren die meisten zu dumm und einige auch ideologisch verblendet ohne „politisch“ zu sein, weil dafür jeder Plan fehlte. Es ging nur um Macht und Gewalt, nichts sonst. Einige kamen in den Knast, andere bekamen ständig aufs Maul, andere wurden älter, mussten Geld verdienen, hatten Familie und irgendwann war es vorbei mit dem Skinhead-Getue.
Zur gleichen Zeit kam die Anti-Atomkraft-Bewegung auf, ebenfalls ideologisch aufgeladen ohne Ende. Für mich wurde schnell klar, dass mir alle Gruppierungen suspekt sind, die vorgeben die „Wahrheit“ zu kennen und Andersdenkende ausschließen bis hin zur Anwendung von Gewalt. Bei Antifa-Demos werde ich als „Nazi-Hardy“ begrüßt. Warum? Weil ich kritisch über Radikale und Extremisten berichte und die Antifa für mich eine linksradikale bis linksextremistische Vereinigung ist, die selbst faschistische Methoden zur Einschüchterung von Menschen anwendet.
Die ewigen Mahner heutzutage, die ein neues „Weimar“ erkennen, wissen ebenfalls nicht, wovon sie reden. Unsere Zeiten sind nicht mit denen der Weimarer Republik zu vergleichen. Nicht nur in Deutschland herrschen andere Verhältnisse – die Welt ist viel enger zusammengewachsen und es gibt nirgendwo auch nur ansatzweise eine Gefahr einer Wiederholung des Nazi-Terrors.
Viele Medien thematisieren dies aber immer wieder. Der Grund ist ein einfacher: Sie wollen spannende Inhalte liefern und was könnte spannender sein als ein „eskalierender Konflikt“ oder eine „große Gefahr“. Das ist im Kern ein verantwortungsloses Theater, allerdings mit negativen Folgen, denn die Gesellschaft polarisiert sich zusehends.
Gegen ideologische Polarisierungen helfen nur gute Argumente und viel Geduld, diese immer wieder vorzutragen – und zwar ohne die andere Seite herabzuwürdigen, bis auf eine Ausnahme: Extremisten muss man Extremisten nennen und zwar ganz gleich, ob rechtsradikal, linksradikal oder religiös-radikal ideologisiert. Regelmäßige RNB-Leser kennen diese Position genau.
Im Rahmen meiner journalistischen Arbeit habe ich mich über die vergangenen Jahrzehnte häufig mit Kriegen und Kriegsgebieten auseinandergesetzt. Es gibt keine „sauberen Kriege“, sondern es werden immer von allen Kriegsverbrechen verübt. Mal mehr, mal weniger, aber immer zu viele. Die Opfer sind ganz überwiegend Zivilisten, unschuldig und unbeteiligt. Diese Welt ist leider so.
Der Holocaust aber hat mit Kriegsverbrechen nichts zu tun – der Holocaust (oder Shoa) ist die hässlichste Fratze des Hasses, die Menschen sich je aufgesetzt haben. Diese Massenvernichtung von Menschen ist historisch einmalig und das wird sie nur bleiben, wenn man sich daran erinnert und für die Umstände interessiert, die dazu geführt haben.
Deutschland steht in der Verantwortung, sich des Holocaust zu erinnern und als gesellschaftlich-politisch-kulturelles System dafür Sorge zu tragen, dass die Opfer nicht vergessen und die Täter und die Ursachen benannt werden.
Dazu braucht es immer wieder Aufklärung und den Willen, sich auszutauschen, um für ein mitmenschliches Miteinander zu werben, dafür einzutreten und im Zweifel mit allen Mitteln zu verteidigen. Aber bitte nicht mit moralischer Überheblichkeit, sondern mit einer demokratischen Überzeugung. Und zwar nicht nur zu „Jahrestagen“, sondern täglich im Alltag.
Darüber sollten alle „Nie wieder“-Mahner nachdenken, die gleichzeitig immer wieder Israel kritisieren. Denn auch die Israelis erinnern sich und müssen sich bis heute gegen andere verteidigen, die sie vernichten wollen, weil sie Juden sind.