Halle, 10. Oktober 2019. (red/pro) Wie immer bei Terrorlagen wetteifern Medien um die neuesten Nachrichten, obwohl sie zunächst so gut wie nichts wissen. Was man an Material in die Finger bekommt, wird in Endlosschleife gezeigt. Damit unterstützt man das, was Terroristen haben wollen. Aufmerksamkeit. Wie immer ist es ein Dilemma: Medien müssen informieren, das ist ihre Aufgabe, aber wenn sie informieren, verbreiten sie auch den Terrorakt. Das RNB hat diese Thematik schon häufiger angemahnt, aber es gibt nach wie vor keine gesellschaftliche Debatte und keine einfache Lösung dazu. Wir schildern, was die Fakten sind. Bilder und Videos zeigen wir keine.
Hinweis: Dieser Text schildert den uns bekannten Tatablauf eines rechtsterroristischen Angriffs vom 09. Oktober 2019 in Halle/Saale, bei dem zwei Menschen ermordet worden sind sowie zwei weitere schwer verletzt wurden. Diese Informationen sind für Kinder und Jugendliche nicht geeignet. Um den Text legal lesen zu können, müssen Sie sich über unseren Dienstleister Steady kostenfrei anmelden, das geht unkompliziert und Sie schließen kein kostenpflichtiges Abo ab.
Von Hardy Prothmann
Der Rechtsterrorist von Halle hat seine Taten per Helmkamera live ins Internet übertragen – ähnlich wie der Mörder im neuseeländischen Christchurch am 15. März 2019. Im Gegensatz zu diesem hatte er aber keine modernen automatischen Waffen, sondern vermutlich eine nachgebaute Maschinenpistole sowie selbstgebaute Schrotflinten. Im Video ist zu sehen, wie er auf auf mindestens sechs weitere Menschen schießt oder anlegt. Weil die Waffen Ladehemmung hatten, überlebten diese Menschen.
Einzeltäter erschießt zwei Menschen
Entgegen anderer Medienmeldungen ist klar und eindeutig erkennbar, dass der Mann vor Ort in Halle als Einzeltäter gehandelt hat. Zunächst fährt er zur Synagoge und stellt fest, dass diese verschlossen ist. Er beginnt seinen Angriff rund sieben Minuten nachdem die Aufzeichnungen begonnen hat. Hier erschießt er etwa zwei Minuten später sein erstes Opfer von hinten. Eine Frau, die zufällig an ihm vorbeiläuft und ihn anspricht.
Er wirft einen Sprengsatz über die Mauer der Synagoge. Dann versucht er mit einer selbstgebastelten Bombe das Tor zu sprengen, was nicht gelingt. Dann sucht er nach einem anderen Zugang, den es nicht gibt. Dann schießt er mehrfach mit einer der selbstgebauten Schrotflinten auf eine Seiteneingangstür zum Friedhof der jüdischen Gemeinde. Auch diese Tür hält stand. Letztlich wirft er einen Sprengsatz über die Steinmauer, die die Synagoge umgibt.
11 Minuten nach Beginn versucht er auf einen Mann zu schießen, der angehalten hat und ausgestiegen ist, um nach der Frau zu schauen. Die Waffe hat Ladehemmung. Der Mann kann wegfahren.
Fünf Minuten nach Beginn des Angriffs auf die Synagoge schießt er in die Luft.
Währenddessen fahren zahlreiche Autos vorbei – hat niemand die Polizei über den Notruf 110 informiert? Das ist nicht vorstellbar.
Zwar flucht der Mann ständig, weil nichts von dem gelingt, was er vorhat. Aber trotzdem handelt er in aller Ruhe. Insgesamt dauert sein Angriff auf die Synagoge rund sieben Minuten, bis er ins Auto steigt, um sich „dann halt Kanaken“ zu suchen.
Zu Beginn des Videos nennt er sich „Anon“, was mutmaßlich für „anonymous“ steht. Er hetzt in schlechtem Englisch gegen Juden, die seien die „Ursache allen Übels“.
Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass es sich bei seinen Taten um einen antisemitischen, rassistischen und rechtsterroristischen Angriff handelt, der nicht aus einem Affekt heraus passiert, sondern lange vorbereitet ist und sich an den Massenmord von Christchurch anlehnt. Im Fahrzeug, einem VW mit Euskirchener (Nordrhein-Westfalen) Kennzeichen hat er Kartons voller Rohrbomben und Molotowcocktails. Er trägt eine Art Kampfmontur und eine Art Stahlhelm. Zudem hat er eine Weste an.
Er fährt von der Synagoge weg, einige Straßen weiter sieht er rund eine Minute später einen Dönerimbiss, steigt aus und läuft über eine viel befahrene Hauptstraße in den Laden. Er trägt offen zwei Gewehre und einen Sprengsatz in der Hand. Immer noch ist weit und breit keine Polizei zu sehen. Er wirft den Sprengsatz, der an der Hauswand abprallt und auf der Straße explodiert.
Er betritt den Laden, will schießen, die Waffe hat Ladehemmung. Immer wieder. Drei Männer gehen in Deckung, sind hilflos. Immer wieder lädt er nach, aber die Waffe schießt nicht. Er nimmt die andere Waffe und schießt rund zwei Minuten nach der Ankunft am Dönerladen auf einen Handwerker, der sich in eine Ecke kauert. Er verlässt den Imbiss, geht zurück zum Auto, startet es, wendet über die Hauptstraße und hält in der Nähe des Imbiss.
Zuvor hat er auf einen flüchtenden jungen Mann geschossen. Er schießt auf zwei andere Handwerker, die fliehen. Er verfolgt sie, bricht ab und geht zurück in den Imbiss, wo er erneut mehrfach auf den Mann feuert, den er bereits getroffen hatte.
Polizei erst 15 Minuten nach Beginn des Terrorakts vor Ort
Als er den Laden verlässt, gut 22 Minuten nach dem Beginn seiner Terrortat und 15 Minuten, nachdem er den Angriff auf die Synagoge gestartet hatte, sieht er in großer Entfernung Polizei und beschießt auch diese.
Mehrmals lädt er nach, bis seine Waffe zerbricht. Er wird angeschossen, was bei der großen Entfernung von rund 70 Metern als „Glückstreffer“ anzusehen ist und liegt zunächst neben dem Auto auf der Straße, kommt nach einigen Sekunden wieder hoch, setzt sich hinters Steuer, wendet das Auto und flüchtet rund eine Minute nach dem Beginn des Schusswechsels. Man hört weitere, einzelne Schüsse, die offenbar Polizisten abgeben. Offenbar wird er von der Polizei nicht verfolgt.
Den Helm hat er nun abgenommen, die Kamera filmt nicht mehr seine Sicht, sondern irgendwas im Auto. Dann scheint er die Kamera aus dem Auto zu werfen oder verlässt das Auto und lässt die Kamera liegen, die bis hier rund 29 Minuten aufgezeichnet hat. Diese nimmt weiter vorbeifahrende Autos auf und das Video endet mit einem blauen Himmel nach rund 36 Minuten. (Hier stellt sich die Frage, ob er weiter in der Nähe war, sonst hätte die Kamera ohne Datenverbindung nicht streamen können. Vielleicht ist das die Zeit, in der er das Taxi in seine Gewalt bringen wird.)
Er soll gewaltsam ein Taxi gestohlen und mit diesem weiter geflohen sein, bis er auf der Bundesstraße 91 nach einem Unfall festgenommen werden konnte. Der Mann soll 27 Jahre alt und Deutscher sein.
Laut ersten Informationen der Polizei soll der Mann aus Sachsen-Anhalt nicht als gefährlicher Gewalttäter bekannt gewesen sein. Sicher ist nach unseren Informationen, dass er vor Ort die Taten alleine begangen hat. Im Video ist zu hören, wie er seine Verletzung nach dem Schusswechsel beschreibt. Dabei ist unklar, ob er mit sich selbst redet oder mit jemandem telefoniert.
Ob es weitere Mittäter oder Unterstützer gibt, müssen nun die Behörden ermitteln.
Dringende Fragen an den Innenminister
Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) wird dringend Fragen beantworten müssen. Beispielsweise, wieso nicht auch nur ein Streifenwagen zum Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, an der Synagoge postiert war, in der sich rund 50 Menschen zum Gottesdienst eingefunden hatten. Dass insbesondere in Sachsen-Anhalt und auch in Halle die gewaltbereite Neonazi-Szene ein massives Sicherheitsproblem ist, darf als mehr als bekannt vorausgesetzt werden.
Und wieso verstrichen vom Beginn des Angriffs bis zum Erscheinen der Polizei insgesamt rund 15 Minuten? Wieso wurde der Täter nicht unmittelbar verfolgt?
Die jüdische Gemeinde erhebt zu Recht schwere Vorwürfe gegen die Polizei: „Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock. Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös. Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt. Wie durch ein Wunder ist nicht noch mehr Unheil geschehen“, teilte der Zentralrat der Juden in Deutschland am Abend mit.
Laut Medienberichten konnte ein Gemeindemitarbeiter über eine Überwachungskamera das Geschehen außerhalb beobachten. Die Menschen hätten sich daraufhin in der Synagoge verbarrikadiert. Glücklicherweise ist es dem Terroristen nicht gelungen, in das Gelände einzudringen – aber auch nur, weil er absolut dilettantisch vorging und seine Waffen glücklicherweise weitgehend untauglich waren.
Lesen Sie dazu auch unseren Kommentar.