Rhein-Neckar/Berlin, 26. September 2016. (red/pro) Wir dokumentieren die Rede der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) im Wortlaut nach dem Desaster – aus Sicht der CDU – der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin. Wir erweitern diese Dokumentation durch redaktionelle Anmerkungen im Rahmen unserer „Montagsgedanken“ mit gesellschaftlich relevanten Texten zur Zeit. Unsere Leser haben bei uns niemals „Merkel muss weg“ gelesen. Wir halten solche Sätze für empörend. Aber wir schreiben Sätze wie: „Sie plappern gegenüber der Öffentlichkeit entweder vollständig inkompetent oder lügen diese vollständig schamlos an.“ Lesen Sie die komplette Rede der Bundeskanzlerin und unsere Anmerkungen dazu.
Anm. d. Red.: Die Dokumentation beruht auf einem Video der CDU, das auf youtube eingestellt worden ist. Die Worte der Bundeskanzlerin bei der Pressekonferenz vom 19. September sind von uns im Wortlaut protokolliert worden. Die Textteile in kursiver Schrift sind Anmerkungen durch Rheinneckarblog.de und stellen Meinungsäußerungen dar.
Rede der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU), Pressekonferenz nach der Berlin-Wahl. Protokoll: Redaktion Rheinneckarblog.de. Quelle: CDU.
Ja, meine Damen und Herren, die gestrige Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus hat für die CDU ein sehr unbefriedigendes, ein enttäuschendes Ergebnis erbracht. Die CDU hat gegenüber dem letzten, schon nicht guten Ergebnis, noch einmal fast 6 Prozent eingebüßt. Die große Koalition hat keine Mehrheit mehr. Und das ist sehr bitter.
Anm. d. Red.: Die CDU hat nicht 6 Prozent eingebüßt, sondern 6 Prozentpunkte. Möglicherweise hat sich die Bundeskanzlerin hier „versprochen“. Man sollte erwarten können, dass eine Bundeskanzlerin den Unterschied zwischen „Prozent“ und „Prozentpunkten“ kennt. 2011 erreichte die CDU bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus noch 23,4 Prozent, 2016 nur noch 17,6 Prozent.
Wir haben natürlich im Präsidium und im Bundesvorstand ausführlich darüber beraten, und ich möchte hier dennoch zunächst die Gelegenheit nutzen, Frank Henkel und allen Berliner Freunden trotz aller Enttäuschung für ihren großartigen Einsatz zu danken.
Nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern hatte ich ganz gegen die sonstige Gewohnheit und gegen die gute Übung nicht die Gelegenheit, umfassend zum Wahlergebnis Stellung zu nehmen. Ich war in China beim G20-Gipfel und das war dafür nicht der richtige Ort, so gerne ich das auch damals schon getan hätte.
Deshalb möchte ich Sie heute gerne, vielleicht auch etwas ausführlicher als sonst, an meinen Gedanken teilhaben lassen, die ich mir natürlich angesichts der Situation gemacht habe. Sowohl die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern als auch die gestern in Berlin haben zweifellos jeweils ihre landespolitischen Komponenten. Die Ergebnisse haben auch ihre landespolitischen Gründe – aber eben nicht nur.
Ich bin Parteivorsitzende. Ich drücke mich nicht vor der Verantwortung. Und ich übernehme selbstverständlich auch hier den Teil Verantwortung, der bei mir als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin liegt.
Wenn eine Ursache für das schlechte Abschneiden auch der CDU ist, dass manch einem Richtung, Ziel und Grundüberzeugung unserer Flüchtlingspolitik nicht ausreichend erklärt worden sind, so möchte ich mich gerne darum bemühen.
Anm. d. Red.: Bis hier gibt es vor allem viel „Blabla„, aber keine faktischen Stellungnahmen.
Nicht zum ersten Mal – definitiv nicht zum ersten Mal – aber vielleicht noch einmal nachdrücklicher. Der Satz “Wir schaffen das” ist Teil meiner politischen Arbeit. Er ist Ausdruck von Haltung und Ziel. Viel ist in diesen eigentlich alltagssprachlichen Satz hineininterpretiert, ja sogar hineingeheimnist worden. So viel, dass ich ihn inzwischen am liebsten kaum noch wiederholen mag, ist er doch zu einem schlichten Motto, beinahe einer Leerformel geworden, und die Diskussion um ihn zu einer immer unergiebiger werdenden Endlosschleife.
Anm. d. Red.: Der Satz ist eine klare Leerformel. Da braucht man nichts „hineingeheimnisen“. Siehe unseren Artikel vom 31. August 2016: „Ein Jahr, „wir schaffen das“
Manch einer – und das zählt besonders – fühlt sich zudem von diesem Satz provoziert. Und so war der kurze Satz natürlich nie gemeint. Ich habe ihn anspornend, dezidiert anerkennend gemeint, denn ich bin zutiefst von der Hilfsbereitschaft und Schaffenskraft der Deutschen – aller hier lebenden Menschen überzeugt.
Anm. d. Red.: Wir sind erstaunt, dass Frau Dr. Merkel nach wie vor davon ausgeht, dass „alle hier lebenden Menschen“ ihrer Meinung sind.
-Anzeige- |
Aber ich weiß auch, dass wir gemeinsam viel zu schultern haben, dass sich das aber in den übertrieben oft wiederholten drei Worten nicht sofort abbildet. Die Aufgabe, hunderttausenden Menschen, die schon zu uns gekommen sind, mindestens vorübergehend Schutz zu geben, macht sich nicht mal eben einfach so, und schon gar nicht über Nacht.
Anm. d. Red.: Wir können nicht erkennen, dass Frau Dr. Merkel Teil von „wir“ ist. Die Bundeskanzlerin erklärt bis heute nicht, was es meint, dass „wir“ das über Nacht schaffen. Das hat sicher niemand erwartet. Aber das Datum, bis wann „das“ geschafft wird, bleibt sie in ihrer Rede schuldig. Seriöse wissenschaftlicher gehen von mindestens 15-20 Jahren aus. Betrachtet man die vielen Probleme der Integration insbesondere von türkischstämmigen Muslimen, sind mehrere Jahrzehnte eher realistisch. Es sind zudem nicht „Hunderttausende“ Menschen 2015 gekommen, sondern weit über eine Million und 2016 werden es zusätzlich weit über 300.000 Menschen sein. Und niemand weiß aktuell, wie es in den kommenden Jahren weitergehen wird.
Meine Aufgabe ist hierbei, die Arbeit der Bundesregierung zu organisieren, dafür zu sorgen, dass Länder und Kommunen ausreichend unterstützt sind, um die zu uns kommenden Menschen bestmöglich unterzubringen. Um diejenigen, die bleiben dürfen, und das auch wollen, schnellstmöglich zu integrieren, und die, die nicht bleiben dürfen, konsequent zurückzuführen.
Anm. d. Red.: Wir haben erhebliche Zweifel, dass die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung bislang vernünftig und verbindlich auf die Sorgen der Länder und Kommunen eingegangen sind. Von hier kommen nur unerhörte Notsignale. Die angebliche konsequente Rückführung findet nicht statt.
Das alles sagt sich schnell, es geht aber nicht schnell. Auch, weil wir in den vergangenen Jahren weiß Gott nicht alles richtig gemacht haben. Weil wir auch wirklich nicht gerade Weltmeister bei der Integration waren. Weil wir zum Beispiel auch zu lange gewartet haben, bis wir uns der Flüchtlingsfrage wirklich gestellt haben. Wir müssen uns also jetzt gleichsam selbst übertreffen. Auch ich.
Anm. d. Red.: Hierzu verweisen wir auf einen unserer Texte vom 21. September 2015 – also vor einem Jahr: „Zwischen selbstreferentieller Hilfsbesoffenheit und realer Herausforderung„. Vielleicht sollte die Bundesregierung öfter mal Rheinneckarblog.de lesen. Denn wir landen einen Punkttreffer nach dem anderen. Wieso wusste unsere kleine Redaktion schon vor einem Jahr, was die Bundesregierung angeblich nicht wusste? Wieso hat sich diese nicht kritischen Fragen gestellt, die man bei uns kostenfrei nachlesen konnte? Weil man keine Millionen für ein „Gutachten“ eingeholt hatte?
Auch ich habe mich lange Zeit gerne auf das Dublin-Verfahren verlassen, das uns Deutschen – einfach gesprochen – das Problem abgenommen hat. Das war nicht gut. Und wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen, um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns dann im Spätsommer 2015 eher unvorbereitet traf.
-Anzeige- |
Anm. d. Red.: Das ist aus unserer Sicht eine persönliche Bankrott-Erklärung und an fehlender Solidarität europäischer Politik nicht zu übertreffen. Das „Dublin“-Verfahren als Garant dafür, dass man sich mit dem Flüchtlingsproblem nicht befassen muss? Das macht uns mit offenem Mund fassungslos. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin: Wir könnten Ihnen mit einer Stunde Recherche und Tausenden Quellen aus dem Stand nachweisen, dass Ihre Formulierung „unvorbereitet traf“ ein einziger Hohn ist. Sie plappern gegenüber der Öffentlichkeit entweder vollständig inkompetent oder lügen diese vollständig schamlos an. Beides ist unerträglich.
Seitdem bemühen wir uns mit ganzer Kraft darum, die Dinge zu gestalten, zu ordnen, zu steuern. Und vieles ist dabei schon erreicht worden, sehr vieles. Dennoch weiß ich, dass es an vielen Stellen auch immer noch hakt.
Anm. d. Red.: Die „ganze Kraft“ sind Milliarden von Steuergeldern, die durch die Aufnahme von über einer Million Flüchtlinge im vergangenen Jahr nötig wurden und werden. Die „Abrechnung“ ist noch vollständig intransparent. Und vor allem die Kommunen sitzen auf hohen Kosten und Folgekosten, die noch niemand zutreffend kalkulieren konnte. Nach unserer Auffassung wird viel Wohlfahrt und Leistung zu Lasten der deutschen Bevölkerung eingeschränkt werden müssen. Das kann man schon so machen, wenn „wir“ das wollen. Aber ob „wir“ das wollen, ist aus unserer Sicht noch vollständig unklar.
Mir ist klar, dass es nicht gut war, dass die Flüchtlinge zu lange und zum Teil immer noch in Turnhallen untergebracht waren, dass Asylverfahren im Schnitt immer noch zu lange dauert, dass wir im Moment noch zu wenig Sprachkurse anbieten könne, nicht ausreichend Lehrerinnen und Lehrer haben, und dass die große Aufgabe der Integration in den Arbeitsmarkt noch vor uns liegt.
Wir arbeiten daran, unermüdlich. Wir haben Gesetze in Kraft gesetzt, zum Beispiel im Bereich der Sicherheitsstrukturen und der Sicherheitsbehörden, um noch effektiver vor Terroranschlägen zu schützen, nicht nur, aber auch weil eben nicht jeder Flüchtling in guter Absicht in unser Land gekommen ist.
Anm. d. Red.: Frau Bundeskanzlerin – vor 2014 war die Gefahr von Terroranschlägen eine „abstrakte Lage“. 2016 gab es die ersten Terroranschläge in Würzburg und Ansbach. Wir haben dazu exklusiv berichtet: Die Zahl der Terrorverdächtigen geht sprunghaft in die Höhe – auch durch Ihre Entscheidung „Wir schaffen das“. Erklären Sie Angehörigen von Toten und Verletzten persönlich, wie diese das schaffen sollen?
Wir haben im BAMF zusätzliche Stellen geschaffen. Alle reißen sich dort ein Bein aus, um die Dinge voranzubringen, aber Sie wissen auch, dass ich nicht nur die staatlichen Stellen im Blick habe, sondern ich werde auch nicht müde zu sagen: Ich bin nach wie vor begeistert, wie unermüdlich sich so viele ehrenamtliche Helfer einsetzen, wie sie ja auch kompensieren, was wir zum Teil staatlicherseits noch nicht ausreichend organisiert haben.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin – der „Staat“ sind nicht Sie und die Behörden. Sondern die Bürgerinnen und Bürger. Ohne die, das stellen Sie zutreffend fest, wäre Ihnen Ihr „Wir schaffen das“ gehörig um die Ohren geflogen. Diese Helfer haben nicht „kompensiert“ – sie waren und sind der Garant dafür, dass so viele Menschen untergebracht werden konnten. Wer nicht aktiv geholfen hat, gibt seine Steuern für staatliches Handeln. Das ist auch ein aktiver Beitrag. Sie, Frau Bundeskanzlerin, zeichnen sich durch „nicht ausreichend“ aus, wie Sie selbst feststellen. Als noch nicht einmal „befriedigend“, „gut“ oder sogar „sehr gut“.
Gibt das alles nun Anlass, meinen Kurs in der Flüchtlingspolitik ganz oder teilweise zu korrigieren, wie es laut einer Umfrage vor einer Woche 82 Prozent der Befragten sich wünschen. Wenn ich der schieren Zahl präzise entnehmen könnte, welche Kurskorrektur sich diese Menschen genau wünschen, so wäre ich gerne bereit, darüber nachzudenken, und auch darüber zu sprechen. Darüber gibt diese Umfrage nun aber keine Auskunft.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin. Sie wissen also nicht, was die Menschen sich wünschen? Und wissen deshalb nicht, worüber Sie nachdenken sollten? Sie machen eine Umfrage für keine Auskunft verantwortlich? Meinen Sie das wirklich so oder nur Ihre arroganten Redenschreiber, deren despektierliche Haltung Sie hochoffiziell vortragen? Die Menschen machen sich Sorgen und Sie erklären, Sie wüssten nicht, worum es geht? Das ist erschütternd.
Wenn gemeint sein sollte, dass die Menschen schlichtweg keine Fremden, speziell keine Menschen islamischen Glaubens bei uns aufnehmen wollen, dann stehen dem unser Grundgesetz, völkerrechtliche Bindungen unseres Landes, aber vor allem auch das ethische Fundament der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und meine persönlichen Überzeugungen entgegen. Den Kurs kann ich und die CDU nicht mitgehen.
Anm. d. Red.: Ach, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben keine Ahnung, was gemeint ist, machen sich aber Gedanken, was gemeint sein „könnte“? Wir übersetzen Ihnen Mal unsere Erfahrung vor Ort. Den Bürgerinnen und Bürgern ist es piepegal, an was andere Menschen glauben. Das gilt auch für Christen und speziell solche, die sich in einer angeblich christlichen Partei engagieren. Den Menschen geht es um etwas anderes – sie machen sich Sorgen, weil sie täglich aus den Nachrichten erfahren können, dass es Menschen gibt, die sich zu einer bestimmten Religion bekennen und deswegen andere Menschen missachten, missbrauchen oder sogar umbringen. Und diese „Sorgenträger“ fragen sich, wieso diese Schandtaten durch das Grundgesetz, völkerrechtliche Bindungen und ethische Fundamente der CDU begründet sein sollten – und fragen sich, wenn dem so wäre, ob das noch tragbar ist.
Wenn die 82 Prozent mir aber eigentlich sagen wollen, unabhängig davon, welche konkreten Einzelmaßnahmen auch immer wir Politiker nach rechtlicher und politischer Abwägung beschließen: Es soll sich die Situation nicht wiederholen, wie wir es im vergangenen Jahr in Folge einer humanitären Notlage hatten, mit einem in Teilen zunächst unkontrollierten und unregistrierten Zuzug, dann kämpfe ich genau dafür, dass sich das nicht wiederholt. Dem dienen alle Maßnahmen der letzten Monate.
Die Wiederholung dieser Situation will niemand – auch ich nicht.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wir sind erstaunt, wie viele Richtungswechsel Sie im Stande sind einzuschlagen. Sie referieren auf Grundgesetz, auf Völkerrecht auf Ethik und kämpfen dafür, dass sich „Wir schaffen das“ nicht wiederholt? Sie machen uns schwindelig. Sie erklären gerade, dass Ihre Entscheidung, die „gut“ war, nicht wiederholt werden darf. Und dass die gute Lösung ist, dass Sie dafür alles dafür getan haben, um Ihre Entscheidung nicht wiederholbar zu machen. Muss da noch jemand mitkommen?
Ich möchte nichts versprechen, was ich nicht halten kann, aber auch jetzt kommen schon immer weniger Menschen zu uns. Das ist natürlich auch eine Folge des Schließens der Balkan-Route. Dabei hilft aber vor allem – und das weiß ich, dass das umstritten ist, aber dabei hilft vor allem das EU-Türkei-Abkommen.
Ich halte es nach wie vor für ein sehr wichtiges, sehr sinnvolles Abkommen, auch wenn es immer noch nicht komplett ausverhandelt ist, wenn wir zum Beispiel an die Visa-Regelung denken. Aber es ist uns mit diesem Abkommen beispielsweise bereits gelungen, das Schlepperwesen in der Ägäis wirksam zu bekämpfen. Das hat auch vielen Menschen das Leben gerettet, und das ist großartig.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin. Sie verdrehen die Sachlagen in einer dermaßen unerträglichen Art und Weise, dass uns schlecht wird. Sie behaupten tatsächlich, dass Sie Menschenleben gerettet hätten? Kennen Sie die Zahlen des UNHCR tatsächlich nicht? Bis dato im Jahr 2016 sind 3.210 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Soweit bekannt. Rekord! Diese Zahl ist aus unserer Sicht eine unmittelbare Folgen der Schließung der Balkanroute. Und Sie wagen es, das Wort „großartig“ in den Mund zu nehmen?
Und mit diesem Abkommen setzen wir an dem wichtigsten Punkt unserer Flüchtlingspolitik an, dem Bekämpfen der Ursachen von Flucht. Das ist unverzichtbar und das ist gut und richtig.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin. Wir achten Sie. Wir achten das Amt. Aber – mit Verlaub – wir sind ebensowenig wie unser Leserinnen und Leser nicht bereit, Ihren Worten zu folgen. Das Abkommen mit der Türkei ist alles, aber sicher keine Bekämpfung der Ursachen von Flucht. Die Ursachen von Flucht liegen in Krieg, Vertreibung und Armut. Damit hat das Türkei-Abkommen gerade mal gar nichts zu tun. Dieses dient allein der Bekämpfung von noch mehr Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. Damit erfüllen Sie Bedürfnisse der Bevölkerung und Forderungen der AfD – aber ersparen Sie doch bitte allen Menschen mit Verstand Ihren interpretatorischen Nonsens.
Dagegen gar nicht gut ist, wie die Europäische Union derzeit insgesamt und speziell in der Flüchtlingspolitik verfasst ist. Ich habe es mehrfach gesagt und ich wiederhole es auch jetzt: Wir haben in Europa noch immer kein gemeinsames Verständnis, die Flucht so vieler Menschen tatsächlich als das zu erkennen, was sie ist: Eine globale und eine moralische Herausforderung. Und wir müssen daraus die nötigen Schlussfolgerungen in Europa ziehen und dass das noch nicht gelungen ist, das beschwert auch mich.
Anm. d. Red.: Solange „Dublin“ noch „funktioniert“ hat, haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, keine großen Sorgen um Griechenland und Italien gehabt. Wo war in früheren Jahren Ihre Solidarität? Sie persönlich haben 2010 „Multikulti für gescheitert erklärt“ und verlangen jetzt von „uns“, dass wir die „Herausforderung“ von „Mega-Multikulti“ stemmen.
Und ich setze mich deshalb unvermindert mit ganzer Kraft dafür ein, dass wir hier wieder das wecken können, wofür die Europäische Gemeinschaft einst stand: Solidarität und Wertezusammenhalt. Bratislava war dafür allenfalls ein Anfang.
Anm. d. Red.: Wann genau war das mit „Solidarität und Wertegemeinschaft“ nochmal?
All das, was ich Ihnen hier sage, wird niemanden überzeugen, der immer nur, und das auch noch ausdauernd, “Merkel weg” schreit. Das ist mir klar. Es heißt ja neuerdings wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin – netter Versuch, eine Dolchstoßlegende in die Welt zu zaubern. Wir haben noch niemals „Merkel weg“ berichtet. Wir betrachten Aussagen wie „Merkel muss weg“ mit hochgradiger Irritation. Das klingt in unseren Ohren wie eine personalisierte „Endlösung“ und ist vollständig inakzeptabel und verwerflich. Wer sich so despektierlich äußert, ist kein politischer Akteur, sondern nur ein widerwärtiger, asozialer Prolet. Wir leben nicht in „postfaktischen Zeiten“, sondern wie früher auch in Zeiten von Fakten und Gefühlen. Daran ist nichts neu. Neu ist, dass Sie offenbar Gefühle von Menschen herunterspielen und Fakten nur als „Gebet“ verstehen, das Ihnen lästig ist.
Und das Gefühl einiger geht so, ich triebe unser Land in die Überfremdung, Deutschland sei bald nicht mehr wiederzuerkennen. Und nun wäre es unlogisch, dies mit Fakten zu kontern, auch wenn ich – dafür kennen Sie mich ausreichend – sofort in der Lage wäre, das herunterbeten zu können.
Ich will dem also meinerseits mit einem Gefühl begegnen. Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser zugegeben komplizierten Phase besser herauskommen werden, als wir in diese Phase hineingegangen sind. Deutschland wird sich verändern, so wie wir uns alle verändern, wenn wir nicht gerade aus Stein sind. Es wird sich aber in seinen Grundfesten nicht erschüttern lassen. Das ist selbst in dem so einschneidenden, ja durchaus auch verunsichernden vergangenen Jahr nicht passiert.
Anm. d. Red: Sehr geehrter Frau Bundeskanzlerin. Alle Regierungschefs aller Zeiten mussten schon immer mit Fakten und Gefühlen umgehen. Ihr Kotau vor dem von Ihnen angenommen Gefühl zeigt nur, dass Sie lange Zeit zu wenig Achtsamkeit auf die Gefühle der Bürgerinnen und Bürger gelegt haben. Sie haben das Gefühl vorgegeben: „Wir schaffen das“ – die Fakten sprechen aus der gefühlten Sicht vieler Menschen dagegen. Das ist das Ergebnis des Siegeszugs der AfD. Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, befördern dieses Unwohlsein damit, weil Sie keine Fakten ansprechen und die Menschen gefühlt alleine lassen. Wir berichten darüber täglich – über die faktische Sicherheitslage, die immer noch im weltweiten Vergleich sehr gut ist, aber auch um die gefühlte Unsicherheitslage, die täglich zunimmt. Auf Basis von Fakten, denn durch die Aufnahme vieler Menschen aus fremden Kulturen sind wir nicht ins Chaos geraten, aber es ist nachweisbar, dass die Bedrohungslage zunimmt.
Wer also, wenn nicht wir, sollte fähig sein etwas gutes aus dieser Zeit zu machen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Und das leitet mich als Bundeskanzlerin und als CDU-Vorsitzende. Das sind meine Gedanken nach den Landtagswahlen, und in diesem Sommer, auch um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, die wir jetzt nicht überzeugen konnten, zurückzugewinnen. Mit tatsächlich tragfähigen Lösungen, Schritt für Schritt.
Anm. d. Red.: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin. Wir sind wie Sie davon überzeugt, dass Deutschland ein starkes Land ist. Und dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land zu großen Anstrengungen bereit sind – insbesondere auf der Basis von historischen Verpflichtungen. Die Menschen sehnen sich aber nach „tragfähigen Lösungen“.
Die logistische Organisation über Milliarden von Steuergeldern für die „Aufnahme“ von Flüchtlingen ist aber keine tragfähige Lösung. Die Menschen erwarten konkrete Schritte und klare Ansagen.
Wenn Sie das bislang nicht verstanden haben – und diesen Eindruck haben wir leider – wird es zu erheblichen Verwerfungen unserer offenen Gesellschaft kommen. Es ist nicht bitter, dass die CDU kontinuierlich Stimmen verliert. Das ist einfach so im demokratischen Wettbewerb – Parteien gewinnen und verlieren mit der Ansprache an die Wähler.
Bitter ist, dass immer mehr Menschen das Vertrauen in die Verlässlichkeit unserer Demokratie verlieren. Das ist nicht nur bitter, sondern hochgradig alarmierend. Und dafür tragen Sie erhebliche Verantwortung.
Die Presseerklärung der Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel (CDU), im Original:
Schätzen Sie diese Art von Artikeln? Die Transparenz? Die Analyse? Die Haltung?
Dann machen Sie andere Menschen auf unser Angebot aufmerksam. Und unterstützen Sie uns als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für unabhängigen, informativen, hintergründigen Journalismus. Der kostet Geld und ist ohne Geld nicht zu leisten. 2016 wird für uns existenziell ein entscheidendes Jahr. Wenn Sie künftig weitere Artikel von uns lesen wollen, dann honorieren Sie bitte unsere Arbeit. Hier geht es zum Förderkreis.“ Sie können auch per Paypal spenden. Wenn Sie eine Überweisung tätigen wollen, nutzen Sie das Förderkreis-Formular (erleichtert uns die Verwaltung). Dort können Sie einen Haken setzen, dass Sie nur überweisen wollen. Alle Spender erhalten eine Rechnung.
Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen in- und außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….