Rhein-Neckar/Südwesten, 01. August 2016. (red/pro) Alle Zeichen stehen auf Sturm. Beim Wetter kann man nichts verändern. Das ist, wie es ist. In der Politik sind bei Großwetterlagen Einflussnahmen möglich – aber ebenfalls nicht eindeutig berechenbar. Ob es nur donnert oder kracht, ist dabei aber nicht nur vom eigenen Handeln abhängig, sondern von vielen Faktoren. Aktuell muss sich Deutschland darauf vorbereiten, weitere Hunderttausende, wenn nicht weit über eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, wenn die Türkei die Schleusen öffnet.
Von Hardy Prothmann
Am 19. März beginnt unser Kommentar („Sie hat es geschafft“) zum Flüchtlings-Deal mit der Türkei so:
Mit der Türkei zu verhandeln, ist richtig. Sich von der Türkei über den Tisch ziehen zu lassen, nicht.
Was Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel als Erfolg verkauft, ist der Kotau vor einem Diktator, dem Menschen- und Freiheitsrechte genau nichts bedeuten. Mit Recep Tayyip Erdogan wurde über Grenzsicherung verhandelt, dieser Mann kennt aber keinerlei moralische Grenzen.
Seither ist die politische Lage nicht besser geworden. Schon gar nicht, als das ZDF am 31. März Jan Böhmermann mit seinem „Ziegenficker-Gedicht“ ausgestrahlt hat. Wer sich nur ansatzweise mit der Person des türkischen Staatspräsidenten Erdogan beschäftigt, musste verstehen, dass der „überschrittene Rubikon“ eines deutschen Präsidenten Wulff dagegen ein Kindergeburtstag war.
Kettenreaktion

Staatspräsident Erdogan. Foto: Von Kremlin.ru, CC-BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45256896
Der überwiegende Teil der deutschen Medien hat nicht verstanden, was ein „Point-of-no-return“ ist und den ZDF-Moderator in Schutz genommen, gar als „Genie“ erklärt und mächtig auf den türkischen Staatspräsidenten Erdogan eingedroschen.
Klassen-Keile einer entfesselten und analytisch durchgeknallten Medien-Kaste, die es dem „Erdowahn“ „Erdowie“ „Erdowann“ mal so richtig zeigen wollte. Motto: „Ätsch-Ätsch, fang mich doch, fang mich doch“. Hinter dem Zaun kann man einen vermeintlichen Kettenhund trefflich provozieren und sich dabei überlegen fühlen. Welchen Eindruck hat das hinterlassen? (Lesen Sie hierzu: „Der Komplex der Ziegenficker-Affäre„)
Der türkische Staatspräsident Erdogan ist weder ein Hund, noch an der Kette. Er ist eine Gallionsfigur für die Mehrheit der Türken, die sich durch Böhmermann (stellvertretend ARD und ZDF) und seine Unterstützer (weitere Medien, die Öffentlichkeit, die Politik) beleidigt fühlen.
Der türkische Staatspräsident Erdogan ist der, der die Hand an der Kette hat und entscheidet, wann und wie er den Zugang zur Hölle für Europa aufmacht oder schließt. Sein Zerberus sind mittlerweile drei Millionen syrische Flüchtlinge im Land und noch jede Menge weitere aus dem Umland.
Am 05. Dezember 2015 war hier auf dem Rheinneckarblog der Text zu lesen: „Planlos in den 3. Weltkrieg„. Darin heißt es:
Die aktuellen Angebote der EU an die Türkei, drei Milliarden Euro zu geben, um die Situation in den dortigen Lagern für fast zwei Millionen syrische Flüchtlinge zu verbessern ist ein erster richtiger Schritt. Auch wenn die Lage in der Türkei teils desolat ist, was die Menschenrechte angeht und Erdogan wie ein Diktator im demokratischen Mäntelchen gesehen wird – man wird mit ihm verhandeln müssen. Das Pfund der Türkei sind zwei Millionen Flüchtlinge, die man auf die Reise schicken kann und weitere Millionen, die man einfach durchlässt.
Unsere Leser/innen sind wie so oft früher und ohne politische Korrektheit über drohende Entwicklungen informiert worden. Aktuell berichtet die FAZ, dass der „Flüchtlingspakt“ zu scheitern droht. Das ist euphemistisch – der Pakt ist längst gescheitert.
Aktuell heißt die richtige Frage: Wie hoch ist der Schaden, der beglichen werden muss?
Verschnaufpause vor der nächsten Herausforderung
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) hat sich damit nur eine Verschnaufpause verschafft, Motto: „Ich schaffe das.“ Hat sie. Für sich. Die Verschnaufpause.
Sie wird Erdogan aber nicht aussitzen können, weil sich Erdogan nicht aussitzen lässt. Der Mann ist weder ein fügiger Koalitionspartner, noch karrieregeil, noch kann man ihn mit bewährten Zugeständnissen der bundesrepublikanischen Politelite ruhig stellen.
Er ist der Staatspräsident von 78 Millionen Türken im Inland und weiterer Millionen Türken, die im Ausland leben. Er ist Erbe des Osmanischen Reiches, eines der größten Reiche aller Zeiten. Und er ist hochgradig gereizt.
Vor allem sind er und die Türkei kein Mitglied der europäischen Union. Es gibt zu wenig bindende Verträge, zu wenig zu verlieren, um ihn in Schach zu halten. Wer dachte, mit ein paar Milliarden könne man ihm ein Geschenk machen, hat nicht verstanden, dass er ein Geschenk angeboten hat:
Bezahlt mir die Kosten, gebt uns Respekt, dann erspare ich Euch den Stress.
Flüchtlings-Deal – für wen?
Auch das wurde medial in Deutschland vollständig falsch vermittelt. Nicht Herr Erdogan suchte den Flüchtlings-Deal, sondern Frau Merkel. Nicht Herr Erdogan brauchte Luft zum Durchatmen, sondern Frau Merkel. Nicht Frau Merkel sitzt am längeren Hebel, sondern ganz klar Herr Erdogan.
Wenn er den Knopf drückt, wird Europa mit Flüchtlingen geflutet. Sämtliche Umsätze aus dem Schleppergeschäft landen in der Türkei und kompensieren locker entgangene Umsätze durch ausbleibende Touristen. Statt Billig-Reisen ins Land, werden Luxus-Reisen aus dem Land bezahlt. Wer rechnen kann, ist klar im Vorteil. Der Flüchtlingsstrom im vergangenen Jahr hat ein „Umsatzvolumen“ von mehreren Milliarden Euro. Vor wenigen Jahren ging man pro Tourist von 800 Dollar pro Kopf aus – es sind nun fast zehn Mal so viele Touristen wie Flüchtlinge, aber die Preise für Flüchtlinge sind deutlich höher. Die Türkei verliert – aber nicht so extrem, wie man das darstellt.
Wie ernst Staatspräsident Erdogan es meint, zeigt sein Verhalten. Er provoziert, wo er kann und legt im Zweifel noch einen drauf. Die Einbestellung des deutschen Botschafters, weil das Bundesverfassungsgericht eine persönliche Videobotschaft von ihm bei der Demonstration am Sonntag in Köln untersagt hatte, ist kein „Geplänkel“, sondern eine klare Ansage: „Ich lasse mir von Deutschland nichts bieten. Ich fordere Respekt.“ Und mitten in Deutschland rufen fanatisierte Anhänger Erdogan und Allahu ekber und schwenken ein Meer aus Fahnen des türkischen Halbmonds.
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Seit einiger Zeit kommen wieder vermehrt Flüchtlinge in Griechenland an. Ein Fingerwink von Herrn Erdogan und die Grenzen sind wieder offen. Dann kommen täglich Tausende über die Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland. Zudem setzen die Boote aus Afrika über.
Die Balkanroute ist aktuell noch dicht. Griechenland schafft aber keine Million Flüchtlinge. Also muss die Route wieder aufgemacht werden, sonst drohen menschenverachtende Zustände, die sich Europa nicht leisten kann, will es nicht historisch im Flüchtlingsdesaster versinken. Wie stark die Kraft der Massen ist, haben wir 2015 erfahren. Danach muss Deutschland wieder ran, weil nur Deutschland in der Lage ist, weitere Flüchtlinge zumindest organisatorisch zu verkraften.
Das Feuer am anderen Ufer
Die AfD ist im Moment recht bescheiden. Möglicherweise, weil die internen Kämpfe viel Kraft gekostet haben. Möglicherweise aber auch, weil sie besser beraten wird als zuvor. Ein chinesisches Strategem heißt: „Das Feuer am anderen Ufer beobachten“. Zwei Königreiche bekriegten sich. Ein drittes wartete ab, schaute zu und bekämpfte dann siegreich den geschwächten Sieger. Was das für die Bundestagswahl 2017 heißt, bleibt abzuwarten.

Im Herbst war Patrick-Henry-Village hoffnungslos überbelegt. Nach und nach lief die Logistik an und ist nun leistungsfähig. Mit Integration hat das aber alles noch lange nichts zu tun. Archivbild
Unser Berichtsgebiet wird von einem erneuten Flüchtlingsandrang möglicherweise noch extremer betroffen sein als zuvor. Alle Einrichtungen sind auf „Stand-by“ und sofort reaktivierbar. Das wäre nicht so, wenn es nicht die Erwartungshaltung gäbe, dass erneut Flüchtlinge in sehr großer Zahl kommen werden. Die Landesregierung grün-rot und jetzt grün-schwarz hält die Öffentlichkeit darüber im Unklaren. Das ist verantwortungslos.
Wir haben immer die Bezeichnung „Flüchtlingswelle“ oder gar „Flüchtlingstsunami“ abgelehnt. Weil es um Menschen geht und nicht um Wasser. Ein Tsunami ist nie eine Welle, sondern besteht aus mehreren Wellen und ist absolut zerstörend, abhängig von der Energie, die ihn antreibt. Der angerichtete Schaden ist immens, kann aber behoben werden, wenn die Wellen weg sind.
Ein Tsunami ist eine Katastrophe – aber dann auch wieder vorbei
Ich selbst habe den Tsunami in Thailand erlebt und darüber intensiv berichtet. Für den Spiegel, für den Focus, für Handelsblatt und Financial Times, für den Tagesspiegel und die Welt, den SWR und andere. Dabei ging es um eine Naturkatastrophe, die überhaupt nicht mit politischen Katastrophen zu vergleichen ist.
Wasser erinnert sich nicht. Es ist mal ruhig und mal wild. Menschen erinnern sich und sind für ihr Leben geprägt von dem, was sie erleben. Es dauert unter Umständen Jahrzehnte, bis man Erlebtes verarbeiten kann, möglicherweise reicht das über Generationen hinaus. Insbesondere wir Deutschen müssen das wissen.
Deutschland und Europa stehen vor der größten Herausforderung aller Zeiten, in denen man hier scheinbar friedlich leben konnte. Die Bundeskanzlerein kann das nicht weglächeln und auch nicht wegrauten. Sie hat im vergangenen Jahr eine großartige Geste einer vermeintlichen Großzügigkeit gezeigt und damit weltweit Respekt erlangt. Und ihr Dilemma ist: Sie hat nichts getan, um daraus einen Erfolg zu machen. Denn das wäre ein fatales Signal an noch mehr Flüchtlinge gewesen. Es werden aber noch mehr Flüchtlinge kommen und es ist fatal, dass man nichts geschaffen hat, um diese aufzunehmen.

Hoffnungslos und perspektivlos sind vor allem die Kinder des Flüchtlingsstroms.
Wir Deutschen haben mit enormem Aufwand gezeigt, dass wir viel leisten können. Wenn aber Überforderung eintritt, sinkt die Leistungsfähigkeit zwangsläufig. Davor haben wir als Rheinneckarblog immer gewarnt. Auf die Euphorie der Hilfsbesoffenheit kam der Kater der Ernüchterung. Die Attentate von Würzburg, Ansbach, Reutlingen sind nur die besonders krassen Fälle.
Deutschland wird sich enorm verändern
Die Fachkräfte sind nicht eingetroffen. Die Erfolgsmeldungen bleiben aus. Die Kosten bleiben enorm hoch. Eine teils gewisse Ernüchterung ist eingetreten. Dabei wird es nicht bleiben können. Wir müssen sehr nüchtern sein, um die nächste Welle und alle darauffolgenden zu überstehen.
Selbstverständlich schafft Deutschland sogar noch mehrere Millionen Flüchtlinge. Nur nicht als das Deutschland, das die Mehrheit der Bevölkerung aktuell kennt. Dann werden sich die Lebensverhältnisse für alle enorm verändern. Dann werden wir hier Elendslager in Masse haben und der öffentliche Raum wird nicht mehr sicher sein.
Ausnahmen vom Rechtsstaat werden die Regel werden. Und, ach ja, die Moral, lesen Sie nochmals den Einstieg, die werden wir anpassen müssen an die herrschenden Verhältnisse.
Interessant ist, dass die angebliche Forderung nach einem „Schießbefehl“ an deutschen Grenzen für eine große Empörungswelle gesorgt hat. Geschossen wird längst woanders. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern wird dagegen gefühlt als „ultima ratio“ ohne Aufregung einfach so hingenommen.
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