Rhein-Neckar, 08. August 2016. (red/pro) Die Türkei ist aus Sicht der EU ein “sicherer Drittstaat”. Angesichts der sich verschärfenden Lage ist die Frage berechtigt, ob diese Einschätzung weiterhin gültig sein kann. Im ersten Halbjahr 2016 beantragten bereits fast so viele Menschen aus der Türkei in Deutschland wie im Gesamtjahr 2015. Die meisten davon sind kurdischer Abstammung.
Von Januar bis Juni 2016 stellten 1.719 Menschen aus der Türkei einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchlinge, 1.510 davon waren kurdischer Herkunft. 2015 wurden 1.767 türkische Asylanträge gestellt, 1.428 von Menschen kurdischer Herkunft.
Die Gesamtschutzquote türkischer Anträge im Jahr 2015 lag bei 14,6 Prozent und im ersten Halbjahr 2016 bei 6,7 Prozent. Für kurdische Antragsteller aus der Türkei lag die Schutzquote im Jahr 2015 bei 82,3 Prozent. Im 1. Halbjahr 2016 lag die Schutzquote für kurdische Antragsteller bei 61,8 Prozent. Die meisten Anträge werden von Menschen unter 16 bis 40 Jahre gestellt.
Hohe Asylquote vs. “sicherer Drittstaat”
Betrachtet man diese Zahlen, so fällt auf, dass sie auf den ersten Blick nicht stimmen können. Die Erklärung ist: Die Gesamtschutzquote bemisst sich nach der Zahl der entschiedenen Verfahren, die offenen oder anderweitig “erledigten” Verfahren zählen nicht dazu. Klar ist: Antragsteller mit kurdischer Herkunft haben eine sehr hohe Anerkennung. Offenbar beantragen aber sehr viele Türken, die nicht Kurden sind, zunehmend Asyl in Deutschland.
Das ergibt eine absurde Situation. Aus Sicht der EU ist die Türkei ein “sicherer Drittstaat” – das muss sie sein, weil sonst keine Beitrittsverhandlungen zur EU geführt werden könnten. Die aktuellen Entwicklungen machen diesen Status jedoch fragwürdig. Spätestens mit der Wiedereinführung der Todesstrafe wäre dieser Status nicht mehr gegeben.
Verlöre die Türkei diese “Einschätzung”, könnte man nicht mehr in die Türkei abschieben. Damit wäre auch der “Türkei-Deal” umgehend hinfällig.
Der überwiegende Teil der positiv beschiedenen Asylanträge für Menschen aus der Türkei werden nach Anerkennung als Flüchtling (§ 3 I AsylG) und Anerkennung als Asylberechtigte (Art. 16a und Familienasyl) getroffen.
Aber es gibt auch subsidiären Schutz (§ 4 I AsylG). Der Unterschied zu den beiden anderen Verfahren: Beim subsidiären Schutz muss keine individuelle Verfolgung nachgewiesen werden – es reicht, wenn man beispielsweise aus einem Kriegsgebiet kommt.
2015 wurde 19 Menschen subsidiärer Schutz anerkannt, 2016 bislang 3 Menschen. Während Flüchtlingsschutz drei Jahre gewährt wird, gilt das bei subsidiärem Schutz nur für ein Jahr. Alle Schutzanträge können verlängert werden.
Viele “Aufhältige” trotz abgelehnten Antrags
Kommt das Bundesamt nach der Prüfung eines Asylantrags zu der Entscheidung, dass keine Schutzgründe vorliegen, erlässt das Bundesamt zusammen mit der negativen Entscheidung eine Ausreiseaufforderung und kündigt an, dass der Asylsuchende auch ohne seine Einwilligung in sein Heimatland zurückgeführt werden kann.
Der Vollzug der Abschiebungsandrohung liegt nicht mehr in der Zuständigkeit des Bundesamts, sondern bei den Bundesländern, die in der Regel durch ihre Ausländerbehörden handeln. Auch eine Duldung wird von den Bundesländern beziehungsweise Ausländerbehörden ausgesprochen. Da die Abschiebungen bekanntermaßen niedrig sind, bedeutet eine negative Entscheidung des Bundesamts also nicht, dass die betroffenen Menschen zeitnah das Land verlassen müssen. Daraus resultieren Berichte über dramatische Situationen, wenn Menschen teils über sehr viele Jahre “geduldet” wurden und dann plötzlich abgeschoben werden.
Die hohe Zahl der türkischen Staatsangehörigen mit einer im Ausländerzentralregister (AZR) gespeicherten Asylanerkennung ist im Wesentlichen historischen Ursprungs und nicht der aktuellen Situation geschuldet. Im Fall der türkischen Staatsangehörigen sei es so, dass insbesondere in den 90-er Jahren die Türkei einer der Hauptherkunftsstaaten für Asylbewerber war (von 1990 bis 2000 mehr als 200.000 türkische Asylanträge), sodass bei damaligen Anerkennungsquoten von zwischen 10 und 20 Prozent viele türkischstämmige Personen eine Asylanerkennung oder einen Flüchtlingsschutz erhielten, die teils auch heute noch mit diesem Flüchtlingsstatus in Deutschland leben.
Zum 31. Dezember 2015 lebten 78.500 Menschen aus der Türkei mit abgelehntem Asylantrag in Deutschland (Aufhältige).
Laut Bundesamt sei die aktuelle Zahl der Asylanträge von Menschen aus der Türkei noch nicht auffällig. Ob das so bleibt, wird man erst in den nächsten Monaten erkennen können.
Ist die Türkei nun sicherer Drittstaat oder nicht?
Da scheiden sich die Geister. Nach einer Mitteilung des Auswärtigem Amts vom 1. Juni 2016 ist die Bundesregierung der “Auffassung”, dass die Türkei die Anforderungen an einen “sicheren Drittstaat” erfülle:
Die Bundesregierung ist zudem vor dem Hintergrund der rechtlichen Gewährleistung des türkischen Ausländergesetzes, dem Gesetz zum internationalen Schutz und der Behandlung von Flüchtlingen in der Türkei der Auffassung, dass das Land die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat gemäß Artikel 38 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) erfüllt.
Laut dieser Mitteilung gebe es “freiwillige Rückführungen” von Syrern aus der Türkei nach Syrien.
Diese Information ist insofern brisant, als der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung vor wenigen Tagen forderte, dass man prüfen solle, ob straffällige Syrer nicht nach Syrien abgeschoben werden könnten, denn nicht überall im Land herrsche Krieg. Dazu handelte sich der meinungsstarke Palmer harsche Kritik ein – die Grünen-Chefin Simone Peter nannte das “Nonsens”. Warum das Unsinn sein soll, wo doch Flüchtlinge freiwillig zurückkehren, hat sie nicht erklärt.
Kritiker der Bundesregierung haben nicht Unrecht, wenn sie das rechtsstaatliche Handeln der Regierung in Zweifel ziehen – Verträge abzuschließen, die auf “erfüllten Anforderungen” basieren, statt auf klar festgestellten tatsächlichen Zuständen, ist mehr als zweifelhaft.