Rhein-Neckar, 25. Juli 2016. (red/pro) Axt-Attentäter im Regionalzug. Davor Terror-Anschlag in Nizza. Jetzt Amok-Lauf in München. Und irgendwie gab es auch noch einen gescheiterten Putsch in der Türkei. Und dann erschlägt noch ein junger Mann eine junge Frau in der Provinz mit einem Hackmesser. Ist die ganze Welt verrückt geworden? Droht der Weltuntergang?
Von Hardy Prothmann
Sie finden in diesem Text kein Bild, kein Symbolfoto. Nur Text. Den lesen Sie oder Sie lassen es sein. Ihre Entscheidung.
Das wird immer schlimmer mit diesen kriminellen Ausländern. Wie lange sollen wir uns das noch bieten lassen? Das war kein terroristischer Anschlag – Ironie off. Sicher nur ein „Einzelfall“. Der Täter ist ein polizeibekannter Asylbewerber. Was muss noch alles passieren? Es wird immer unerträglicher. Abschieben – sofort. Ich habe Angst um meine Kinder. Wo soll das enden?
Kennen Sie diese Aussagen und Fragen?
Sie werden unzählig festgestellt und gefragt. Erkennen Sie sich wieder? Haben Sie Angst um sich und Ihre Kinder? Insbesondere die Töchter? Haben Sie ein mulmiges Gefühl? Wissen Sie nicht so recht, wie Sie sich positionieren sollen? Eigentlich bin ich ja für Hilfe für Flüchtlinge, aber…? Beschäftigt Sie das „,aber…“? Darf man das fragen, sagen?
Man darf. Man muss sogar. Und es ist zutiefst demokratisch, Fragen zu stellen. Das ist auch einer Renate Künast erlaubt. Die Fragen zu den Fragen sind aber: Wann ist die richtige Zeit für die richtigen Fragen und wann kommen diese zur Unzeit oder sind einfach nicht angemessen?
Sie merken: Auf Fragen folgen Fragen. Und keine einfachen Antworten.
Das, liebe Rheinneckarblog-Leserinnen und -Leser macht hochentwickelte, demokratische und leistungsfähige Gesellschaften aus. Die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Auch unbequeme oder sogar total bescheuerte – ohne dass man verfolgt oder bedroht wird. Ohne dass man gefoltert oder getötet wird.
Die Möglichkeit zur Frage ist der Weg zur Antwort.
Die wird man nicht immer, schon gar nicht sofort und vermutlich nicht letztgültig finden.
Zu Fragen, ist eine Kunst. Und es gibt sie tatsächlich – die falschen Fragen oder die dummen Fragen oder die Unzeit-Fragen. Es gibt aber auch die richtigen Fragen, die intelligenten Fragen und die zeitlich wichtigen Fragen. Es gibt langweilige Kunst. Es gibt bereichernde Kunst.
Die Welt ist nicht verrückt geworden – sie war es schon immer
Eine Frage, die sich viele stellen, lautet:
Ist die Welt verrückt geworden?
Diese Frage lässt sich einfach beantworten:
Nein.
„Die Welt“ – damit meinen alle Menschen, die sie stellen, die „Menschheitsgeschichte“. Blickt man auf die zurück, wird alles relativ. Nicht nur aus der Sicht der „Deutschen“.
Die Menschheitsgeschichte ist neben all den Errungenschaften, die sie ausmacht, eine von Tod und Elend. Nur hat davon die meiste Zeit die Menschheit nichts gewusst.
Wie viele Menschen kennen Sie persönlich, die einen oder mehrere Tote oder schwer Verletzte Menschen in der Familie oder in der Nachbarschaft zu beklagen haben?
Ich kann Ihnen diese Frage so beantworten:
Ich persönlich habe in meinem Freundeskreis niemanden, der jemals einen Menschen bei einem Verbrechen verloren hat. Ich kenne auch niemanden, der jemanden bei einem verbrecherischen Terroranschlag verloren hat. Aber ich habe in meinem Umfeld viele Personen, die Angehörige durch Unfälle aller Art oder Suizide verloren haben. Einer meiner besten Freunde hat sich erhängt. Das war 1995.
Ich kann Ihnen diese Frage auch so beantworten:
Ich kenne sehr viele Menschen, die Familienmitglieder oder Freunde durch Terroranschläge verloren haben. Ich kenne sehr viele Menschen, die Opfer von Verbrechen geworden sind. Ich kenne Ausschnitte aus dem Leid dieser Menschen. Und ich weiß von noch mehr Leid bei anderen. Das größte Leid, dass ich selbst erfahren habe, war der Tsunami 2004. Damals habe ich in Thailand persönlich 600 Leichen gezählt – ich weiß nicht, wie viele Angehörige mir ihr Leid erzählt haben. Es waren viel mehr.
Sie verstehen, worauf ich hinaus will? Wir leben in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen. Dieses Land ist eines, wenn nicht das sicherste der Welt. Und dieses zu erhalten und zu schützen versuche ich auch als Redaktionsleiter von Rheinneckarblog vor Ort und in der Region – mit der Bekenntnis zum Rechtsstaat und der Anerkennung demokratisch kontrollierter Gewalt.
Gewalt bestimmt die Welt – kontrolliert wird sie erträglich
Denn Gewalt bestimmt die Welt, ob „Naturgewalt“ oder eine durch Menschen – es ist die Frage, wie sie kontrolliert wird und wie man damit umgeht. Wir hier in Deutschland haben das nach einem beispiellosen Gewaltexzess auf eine beispiellose Art und Weise geschafft. Seit über 70 Jahren.
Unsere Gesellschaft ist vorbildlich. Darauf können „wir Deutschen“ stolz sein – trotz der historischen Verantwortung, die wir zeitlebens tragen müssen. Ich wie Sie, die nicht „beteiligt“ waren.
Selbstverständlich schafft Deutschland „das“ – also mit Gewalt umzugehen. Selbst wenn diese durch Flüchtlinge und Zuwanderer „gefühlt“ oder tatsächlich mehr geworden sein sollte. Wenn man sich „mehr“ anschaut, dann bitte immer alle Seiten – Gewalt von und gegen Ausländer.
Entscheidend ist, dass man sich nicht irre machen lässt – weder von rechten Hetzern noch von linken Realitätsverweigerern.
Diese, unsere, Welt ist überhaupt nicht verrückt geworden. Sie wird nur mit dem Weltgeschehen zunehmend konfrontiert. Wir wussten früher weniger über denn Irrsinn in der Welt – heute sind wir in Echtzeit dabei. Und denken, es betrifft uns vor Ort, auch, wenn es weit weg ist.
Was ist weit weg? München liegt von Mannheim mit dem Zug drei Stunden entfernt. Istanbul von Frankfurt aus nur zwei Stunden. Nizza ist mit dem Auto in 12 Stunden erreichbar. Alle, die nicht in München im OEZ waren oder in Istanbul beim letzten Attentat oder in dem Regionalzug von Würzburg oder in Nizza oder in Reutlingen, waren unmittelbar betroffen. Aber wir alle könnten betroffen sein, obwohl wir ein hohes Alter erreichen können, ohne jemals betroffen zu sein.
Demokratie ist Streit – ohne Waffen
Unsere Welt – ich nenne Sie mal den bürgerlichen Durchschnitt – setzt auf Kompromisse und sieht sich herausgefordert durch alle die, die keinen Kompromiss eingehen wollen. Durch Populisten und Extremisten, durch Verbrecher und Diktatoren, die allesamt behaupten, „demokratisch“ zu sein.
Nicht die Welt ist verrückt geworden, sondern die Begrifflichkeiten und deren Anwendung. Nicht nur durch Populisten und Extremisten, sondern durch jeden: „Meine Meinung“ vs. „Meinungsfreiheit“.
Wer sich pauschal gegen Ausländer positioniert, ist verrückt. Wer sich pauschal für Ausländer positioniert, ist verrückt. Wer sehenden Auges eine Diktatur für „demokratisch“ hält, ist verrückt. Wer glaubt, dass alles „wie immer“ sein könnte, ist verrückt.
Denken Sie mal über das Wort „verrücken“ nach. Etwas ist verrückt, wenn es nicht mehr auf dem alten Platz steht.
Wenn man sich „auseinander setzt“, sich also „verrückt“, übt man Kritik (griechisch=sich auseinandersetzen). So gesehen ist also die Welt vollkommen in Ordnung – wenn man sich kritisch mit ihr beschäftigt und sie verrückt, um sie anders zu sehen. Wenn man akzeptiert, dass sie sich ständig verrückt. Und neue Herausforderungen bereit hält.
Wenn etwas verrückt wird, kann das durchaus gut sein – wenn man damit gut leben kann. Man schafft eine neue Ordnung – dafür braucht es nicht immer den totalen Umbruch.
Diese Welt war schon immer verrückt
Diese Welt war schon immer verrückt – viele Verrücktheiten haben für Tod und Elend gesorgt. Auch das gehört zum Leben.
Insbesondere wir Deutschen wissen aber, dass sogar die schlimmste Steigerung von „Verrückheit“, der Wahnsinn des totalitären Massenmords, eine gute Entwicklung ermöglichen kann – wenn man will (auch anfänglich dazu gezwungen worden ist).
Ich wünsche mir eine verrückte Welt in Deutschland. Eine, in der nicht alle immer die erwarteten Positionen besetzen, sondern sich durcheinander- und damit auseinander-setzen. Am Ende muss es aber eine Einigung geben – sonst ist alles Chaos und vergebliche Liebesmühe.
An einem sollten wir allerdings nicht verrücken: Am Bekenntnis und an der Überzeugung, dass nur ein demokratischer Rechtsstaat die notwendigen Bedingungen zur Verfügung stellt, verrückt sein zu können, ohne dass das Chaos ausbricht.
Und das macht mir seit geraumer Zeit Sorge. Die Basis von Frieden und Wohlstand kommt niemals von Extremisten, sondern immer nur aus der Mitte.
„Mitte“ ist niemals „totaler Individualismus“ und auch niemals nur eine politische Überzeugung, Ideologie oder Religion, sondern immer nur eine „bewusste, kompromissbereite Gemeinschaft“.
Denken Sie drüber nach – es lohnt sich.
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