Südwesten, 06. September 2016. (red/ms) Auf beinahe sechs Milliarden Euro beläuft sich das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Baden-Würrtemberg. Während die Handelsbeziehungen für 2015 noch große Wachstumsraten aufwiesen, sehen die ersten Zahlen für 2016 weniger rosig aus. Die politischen Spannungen könnten gravierende wirtschaftliche Folgen für beide Seiten zeigen. Noch liegen allerdings keine belastbaren Zahlen vor, um den Schaden konkret zu beziffern.
Von Minh Schredle
Etwa 6.000 deutsche Unternehmen sind in der Türkei mit Büros und Produktionsstandorten vertreten, antwortet das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg auf Anfrage unserer Redaktion – etwa 650 davon stammen aus dem Südwesten, darunter Großkonzerne wie Daimler und Bosch.
Darüber hinaus pflegen nach Schätzungen der Industrie- und Handelskammer Baden-Württemberg (IHK) etwa 1.200 Unternehmen aus Baden-Württemberg Handelsbeziehungen mit der Türkei. 2015 standen Exporten im Wert von 3,1 Milliarden Euro Importe in Höhe von 2,7 Milliarden Euro gegenüber. Insbesondere wird mit Maschinen und KFZ(-Teilen) gehandelt.
Tourismus schwächelt – schon vor dem Putschversuch
Dieser Markt könnte durch die politischen Spannungen massiv beeinträchtigt werden. Erste Einbußen für 2016 zeichnen sich bereits ab – die allerdings nicht durch den gescheiterten Putschversuch, sondern vor allem durch eine Zunahme terroristischer Anschläge bedingt sind. Besonders betroffen ist der Tourismus.
So weist die Fluggesellschaft Turkish Airlines, deren Aktienanteile zu gut 49 Prozent dem türkischen Staat gehören, für das zweite Quartal 2016 einen Gewinneinbruch von fast 200 Millionen Euro aus und rechnete im August mit etwa zehn Millionen Passagieren weniger für 2016 als noch zu Jahresbeginn – ein Rückgang von fast 12,5 Prozent in nur acht Monaten.
Wohlgemerkt: Die Verluste in den ersten beiden Quartalen 2016 sind überwiegend auf terroristische Anschläge zurückzuführen. Die Entwicklung könnte sich durch den Putschversuch und die daraus resultierenden Konsequenzen noch deutlich verschärfen.
Auch andere Branchen erwirtschaften Defizite im Vergleich zum Vorjahr, der sich auf den Außenhandel auswirkt: In den Monaten Januar bis Mai verzeichneten türkische Unternehmen nach den Zahlen der IHK einen Umsatzrückgang von 0,3 Prozent bei den Ausfuhren nach Baden-Württemberg – während hier im Vorjahr ein Wachstum von fast zehn Prozent vorlag.
“Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei”
Diese Entwicklungen dürften sich seit dem Putschversuch Mitte Juli und den “Säuberungen” in der Folge weiter zugespitzt haben. Bislang liegen allerdings weder dem Wirtschaftsministerium noch der IHK diesbezüglich belastbare Zahlen vor. Was dagegen klar ist:
Deutschland ist der größte Investor in der Türkei,
teilt das Wirtschaftsministerium gegenüber unserer Redaktion mit.
Das Auswärtige Amt spricht sogar von Deutschland als dem “wichtigste(n) Handelspartner” der Türkei. Umgekehrt sieht es anders aus: Die IHK Baden-Württemberg informiert auf Anfrage:
Nach Umsatz belegt die Türkei für den Zeitraum von Januar bis April 2016 sowohl bei den Ein- als auch bei den Ausfuhren den 17. Platz.
Lage könnte sich weiter zuspitzen
Wie sich mögliche Boykotte auf Unternehmen im Südwesten auswirken würden, ist nach Einschätzung der IHK “zum jetzigen Zeitpunkt spekulativ” und könne daher nicht beantwortet werden. Auf die Frage, ab wann man Unternehmen davon abraten würde, sich geschäftlich in der Türkei zu engagieren, heißt es seitens der Handelskammer:
Jedes Unternehmen kann frei entscheiden, bei wem es kauft und mit wem es Geschäfte macht.
Aktuell ist es nach Auskünften von IHK und Wirtschaftsministerium schwierig, Prognosen anzustellen. Aber auch wenn sich derzeit noch kein Schaden konkret beziffern lässt, dürften sich die türkisch-deutschen Handelsbeziehungen nach Einschätzung der Redaktion in den kommenden Monaten weiter verschlechtern – viel wird hier von der ungewissen Entwicklung der politischen Verhältnisse abhängen. Womöglich werden wirtschaftliche Sanktionen als Druckmittel zum Einsatz kommen.
In Baden-Württemberg selbst gibt es nach den Zahlen des Wirtschaftsministeriums aktuell mehr als 10.000 Unternehmer mit türkischen Wurzeln, die gut 50.000 Mitarbeiter beschäftigen und einen jährlichen Umsatz zwischen fünf und sechs Milliarden Euro erwirtschaften. Vorwiegend sind diese in KFZ-Handel und -Reparatur sowie im Gastgewerbe tätig und dürften nach ersten Einschätzungen im Vergleich zum Außenhandel kaum betroffen sein.
Schätzen Sie diese Art von Artikeln? Die Transparenz? Die Analyse? Die Haltung?
Dann machen Sie andere Menschen auf unser Angebot aufmerksam. Und unterstützen Sie uns als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für unabhängigen, informativen, hintergründigen Journalismus. Der kostet Geld und ist ohne Geld nicht leistbar. 2016 wird für uns existenziell ein entscheidendes Jahr. Wenn Sie künftig weitere Artikel von uns lesen wollen, dann honorieren Sie bitte unsere Arbeit. Hier geht es zum Förderkreis.” Sie können auch per Paypal spenden. Wenn Sie eine Überweisung tätigen wollen, nutzen Sie das Förderkreis-Formular (erleichtert uns die Verwaltung). Dort können Sie einen Haken setzen, dass Sie nur überweisen wollen. Alle Spender erhalten eine Rechnung.