Rhein-Neckar, 18. Juli 2016. (red/pro) Der gescheiterte Militärputsch in der Türkei ist das Top-Thema. Noch gibt es viele Gerüchte und zu wenige gesicherte Informationen, was denn genau wie durch wen wann und wo passiert ist. Klar ist, es gab viele Tote. Klar ist, Staatspräsident Erdogan nutzt die Situation für weitere Repression. Völlig unklar ist, welche Auswirkungen die Vorkommnisse in der Türkei in Deutschland haben. Und das ist ein sehr großes Problem.
Von Hardy Prothmann
Ich bin ein großer Freund der Türken. Und der Franzosen, Italiener, Polen, Engländer, Niederländer, Spanier, Russen – ich kann das fast endlos fortsetzen. Mit jeder Nation. Ich bin ein Freund von allen Menschen, die sich friedlich und demokratisch für ein gutes, gemeinsames Leben hier in Deutschland einsetzen.
Die mit Abstand größte Gruppe von Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deutschland sind Türkeistämmige – das sind rund drei Millionen Menschen und rund ein Viertel aller in Deutschland lebenden Menschen mit (ehemals) ausländischer Herkunft. Und auch in Mannheim ist die größte Migrantengruppe türkeistämmig.
Viele Probleme – wie löst man die?
Aus vielen „Gastarbeitern“ und deren Kindern sind deutsche Staatsbürger geworden. Das ist gut so, schließlich leben wir hier in Deutschland zusammen. Aber ganz viel ist nicht gut. Denn es gibt viele Probleme bei der Integration in die deutsche Gesellschaft.
Richtig – dabei wurden nicht nur über Jahre, sondern über Jahrzehnte Fehler gemacht. Vom deutschen Gesetzgeber über die Behörden bis in die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft hinein und durch viele türkeistämmige Zuwanderer, die sich nicht integrieren wollten. Das hat ganz vielfältige Gründe und eine rückwärtsgewandte Debatte, wer wann was falsch gemacht hat, bringt uns alle nicht weiter.

Solche Bilder stehen nicht Integration, sondern für Desintegration.
Tatsache ist leider, dass die türkeistämmigen Menschen in Deutschland die (größte) Minderheit mit den größten Integrationsproblemen sind.
Wie lösen wir das? Was sind Eure Vorschläge dazu? Was fehlt Euch? Was sollte der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft Euch anbieten, damit das besser wird?
Welche Forderungen darf man an Euch stellen? Welche Forderungen sind problematisch? Wie viel Toleranz müssen andere für Euch aufbringen? Wie tolerant seid Ihr im Gegenzug?
Hier ist hier – die Türkei ist weit weg
Liebe türkeistämmige Mitbürger, merkt Ihr was? Ich schreibe von „Ihr“ und genau Euch meine ich. Nämlich die hier in Deutschland lebenden Menschen, denen die ferne Türkei wichtiger ist als das gemeinschaftliche Leben hier. Die Sozial- und Rechtsstaat für sich nutzen, aber nicht achten.
Nationale Türken, die sich nicht etwa zum Gedenken aller Opfer des Militärputschs versammeln und Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen in der Türkei fordern, sondern offensichtlich hochemotional politisch motiviert dem Staatspräsidenten Erdogan huldigen, geben kein gutes Bild „von Euch“ hier in Deutschland ab.
Ihr demonstriert nicht für Frieden und Freiheit, Rechtsstaat und Menschenrechte sowie Pressefreiheit, sondern für eine höchst bedenkliche Politik, die weltweit mit allergrößter Sorge gesehen wird.
Was glaubt Ihr, wie das auf die restliche deutsche Gesellschaft (Deutsche und Menschen, die hier leben) wirkt? Positiv oder befremdlich? Was hat Allah bei einer solchen politischen Demonstration verloren? Was sollen Allahu akbar-Rufe? (Lesen Sie hier unseren Text zur Demo am Samstag – der Artikel wurde sofort mehrere tausend Mal gelesen.)
Krieg, Putsch, Terror, Gewalt
In der Türkei herrscht Krieg. Seit gut einem Jahr. In den kurdischen Gebieten. Wann habt „Ihr“ dagegen demonstriert? Wann seid Ihr aus Sorge vor Toten und Zerstörung auf die Straße gegangen und habt die Verantwortlichen aufgefordert, an den friedlichen Verhandlungstisch zurückzukehren?
Der Putsch als „Geschenk Gottes“? Es sind fast 300 Menschen gestorben – Muslime. 1.500 Verletzte. Die Wiedereinführung der Todesstrafe? Säuberung? Das ist doch erschreckend. Und Rufe auf der Demo von Samstag, dass „Soldaten, die für das Vaterland sterben, nie sterben“ – was soll das? Wenn die Türkei die Wiedereinführung der Todesstrafe ernsthaft diskutiert, ist das das Ende für den europäischen Anschluss.
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Jeder Mensch mit Verstand lehnt den versuchten Militärputsch ab. Das ist durchgehender Tenor aller europäischen Regierungen und aller Demokraten. Das heißt aber nicht, dass deswegen die Politik des Staatspräsidenten gut geheißen wird und schon gar nicht die angekündigten „Säuberungswellen“.
Säuberung! Da läuft es jedem Deutschen. der normal im Kopf ist, eiskalt den Rücken hinunter. Und das erwarten auch alle guten Demokraten von „Euch“ – hier in Deutschland. Ist das eine unverschämte Forderung? Ist diese gegen Türken gerichtet oder einfach nur für Frieden und Demokratie? Ist Euch aufgefallen, dass keine Deutsche oder Leute anderer Herkunft mit Euch demonstriert haben? Weil Ihr Euch selbst isoliert. Und das wird auch mit der Türkei insgesamt passieren – das Land ist auf einem sehr schlechten Weg. Das osmanische Reich ist Geschichte und wird nicht wiederkommen. Es geht nur mit Partnern in ein glorreiche Zukunft – die heißen EU, USA und Nato. Die zweifeln aber immer mehr an dem Partner Türkei.
Auf dem Weg zurück zum Ausländer
Ich bin mit vielen türkeistämmigen Menschen in gutem Kontakt. Und ich kenne auch die Sorge vieler, dass durch die große Zahl von Flüchtlingen (in Mannheim durch den Zuzug von Südosteuropäern) und die kippende Stimmung auch die Türkeistämmigen wieder verstärkt als „Ausländer“ gesehen werden – selbst mit deutschem Pass. Dass eine negative Stimmung auch die trifft, die hier versuchen, ein ordentliches Leben in Ruhe und Frieden zu leben. Diese Sorge teile ich.
Dass das nicht so kommt, liegt auch in Eurer Verantwortung. Wenn die Gesellschaft den Eindruck hat, dass „Ihr“ Euch noch weniger integriert, dass die Zahl der Kopftücher steigt, dass andere „offensichtliche“ Zeichen der Abgrenzung zunehmen, dass unser öffentlicher Raum für „Stellvertreter-Konflikte“ ausgenutzt wird, dann seid Ihr daran beteiligt.
Viele, die mit Unzufriedenheit auf Euch schauen, meinen: Sollen sie doch zurückgehen. Ich weiß genau, dass das für viele gar nicht einfach wäre. Viele sind keine „Türken“ mehr. Sondern türkeistämmig, aber in Deutschland verwurzelt. Man wäre fremd „im eigenen Land“, das aber längst nicht mehr das eigene Land ist, sondern nur noch eine „Idee“ davon – soziale Kontakte fehlen, das Alltagsleben ist nicht bekannt. Und auch mit der Sprache hapert es häufig – vor allem schriftlich. Könntet Ihr dort auf dem Niveau leben, das Ihr von hier kennt? Hättet Ihr die Freiheiten, die Ihr hier bekommt und Euch nach Belieben nehmt?
Öztürk muss so normal sein wie Müller
Es ist unerträglich, wenn jemand Öztürk heißt und deswegen schlechtere Chancen hat, einen Bankkredit in Deutschland zu bekommen oder eine Stelle, für die die Person mindestens so qualifiziert ist, wie andere. Viele Türkeistämmige sind hier angekommen, sind hochqualifiziert und haben sogar noch Zusatzqualifikationen, weil sie die türkische Kultur (also die in Deutschland) kennen und die türkische Sprache sprechen. Tatsächlich sind aber Türkeistämmige nach wie vor in Wirtschaft und Verwaltung unterrepräsentiert. Das muss sich ändern – aber nicht durch Unterwanderung, um hier „türkische Interessen“ durchzusetzen.
Das ist nicht zufriedenstellend, weil das mit Vorurteilen zu tun hat – die durch „politische“ Aktivitäten nicht vermindert werden. Da muss man gemeinsam dran arbeiten, diese abzubauen. Das gelingt auch dadurch, indem man sich nicht selbst abgrenzt und mehr Liebe und Hingebung an ein anderes Land gibt, statt für die Gesellschaft, in der man lebt.
Den Islam betrachten viele kritisch – ob Christen oder Atheisten. Dafür gibt es viele gute Gründe und jeder Mensch, der sich interessiert mit dem Thema auseinandersetzt, weiß das. Schaut man aber auf „die Muslime“, dann gibt es „die“ zwar, aber es ist keine homogene Gruppe. Sunniten und Schiiten haben große Probleme miteinander und auch „die Muslime“ aus verschiedenen Nationen. Muslime aus der Türkei, Syrien, Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak, Nordafrika und anderen muslimischen Ländern sind alles, nur keine „Brüder und Schwestern“.
Und in der Türkei sind die Aufständischen ebenfalls Muslime. Religion – so traurig das ist, stiftet keine Integration. Wir haben hier in Deutschland Religionsfreiheit, das ist gut so – Religion sollte aber im öffentlichen Leben viel weniger Platz haben, weil es sonst zu viele Konflikte gibt. Wieso ruft „Ihr“ also Allahu akbar – eine Formel, die leider durch Terroristen schwer beschädigt ist. Und dazu noch arabisch… dann könnt Ihr in Deutschland doch gleich „Gott ist groß“ rufen oder wenigstens auf türkisch…
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Türkischstämmige Mitbürger sind, wie gesagt, noch viel zu wenig in öffentlichen Ämtern oder in Leitungsfunktionen der Wirtschaft und Wissenschaft vertreten. Mir wäre es lieb, es wären mehr, weil das auch ein mehr an Integration bedeutet.
Dafür muss man sich aber anpassen – alle, die in einer demokratischen Gesellschaft leben wollen, müssen sich anpassen. Denn Demokratie lebt von Kompromissen, nicht vom Recht des Stärkeren, nicht von religiösen Gesetzen, nicht von Brauchtumspflege.
Die größten Errungenschaften von Demokratie sind Frieden und Freiheit – und Gleichheit im Rechtsstaat. Und wenn eine Person zu mächtig wird, dann mag das den Anhängern zunächst gefallen – aber das ist ein absolutes Alarmsignal. Weil Demokratie nie von einer Gruppe im Besitz „der Wahrheit“ geführt werden kann.
Wir haben Anfang 2015 ein sehr lesenswertes Interview veröffentlicht, in dem es um das Ansehen von Muslimen in Deutschland geht. Der Text stimmt heute immer noch. Die Öffentlichkeit muss sich mehr mit Muslimen und türkeistämmigen Menschen befassen. Wir versuchen das beispielsweise seit dem Interview verstärkt – das Ergebnis ist nicht gut. Es ist sehr schwer in Kontakt zu kommen und Öffentlichkeit herzustellen – zu türkischstämmingen Menschen als ganz normaler Teil unserer Gesellschaft. Zu politisch motivierten ist das einfacher – die verfolgen aber oft Ziele, die in der Türkei ausgehandelt werden sollten und nicht hier.
Denkt mal drüber nach und ich freue mich über Antwort.
Herzlichst
Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….