Rhein-Neckar, 11. April 2016. (red/pro) Das angebliche Dilemma der Bundesregierung in Sachen Türkei vs. Böhmermann ist eine herbeigeschriebene Dekadenz von vollendeter Verantwortungslosigkeit. Es geht um nichts anderes als die totale Freiheit der Meinung. Und zwar nur der eigenen und niemals der anderen. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Die Ziegenfickeraffäre des Jan Böhmermann entspringt nicht einer „Genialität“ des Moderators, sondern dumpfesten Instinkten. Und genau deswegen wird er von deutschen Medien überwiegend gefeiert – denn Böhmermann weckt in vielen Journalisten das Dumpfdeutsche.
Kommentar: Hardy Prothmann
Wir warnen etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neu-Staaten. Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.
Und einem ausländischen Staatspräsidenten, der nicht deutsche DIN-Normen erfüllt, dem sagen wir Deutsche mal, wo es lang geht und was wir von ihm halten.
Wir Deutsche, die, um uns zu legitimieren, sogar einem Herrn Döpfner und einem Herrn „Pallimpallim“ Hallervorden über deutsche Medien Aufmerksamkeit schenken, nur um klar zu machen, dass wir Deutsche zusammenstehen. In Eintracht. Und wenn es sich anbietet – in Niedertracht.
Wir Deutsche – letzte Instanz der Moral
Wir Deutsche wissen, was Moral ist, denn wir Deutsche wissen besser als alle andere, was Unmoral ist.
Wir Deutsche sind schließlich für den größten Völkermord aller Zeiten verantwortlich und deshalb wissen wir Deutsche auch, wann jemand den Ball flach halten muss.
Wir sind deutsch. Und Türken sind Türken. Und wenn ein Türke sich nicht so verhält, wie wir Deutschen das für gut finden, dann ist das halt so. Wir Deutsche sind die Instanz der Moral. Wir Deutsche haben schließlich die absolute Legitimation – als größte Moralverletzer sind wir Deutsche die letztgültige Instanz im Wissen um Moralverletzung.
Unsere Meinungsfreiheit ist absolut – auch totalitär
Unsere Meinungsfreiheit ist absolut, wenn es sein muss, auch totalitär. Es geht aktuell um nichts Anderes als die moralisch totale deutsche Überlegenheit. Wir sind wieder wer. Wir Deutsche.
Und „der Türke“ hat einen neuen Namen: Erdogan, der „Ziegenficker“. Haben „wir“ das nicht schon immer gewusst?
Aus rechtlichen Gründen: Wir distanzieren uns aus Überzeugung und in jedem einzelnen Fall von Schmähungen gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan und anderen Personen. Dieser Text ist ein Meinungsbeitrag, der versucht, äußerst komplexe „Verhältnisse“ darzustellen und zu problematisieren. Dafür sind gewisse Zitationen zum Verständnis gegen unsere Meinung vonnöten.
Zur Sache: Ein „Schmähgedicht“ eines verzweifelt um Aufmerksamkeit ringenden schmalschultrigen Moderators einer im Vergleich gesehen vollständig unbedeutenden Nischensendung im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) entwickelt sich zur Staatsaffäre, weil dieser Moderator auf der Meta-hoch-irgendwas-Ebene eine tiefengenetisch unveränderbare Anlage des „Deutschen“ elektrisiert, die das grundsätzlich überlegene Wesen des deutschen Selbstwertgefühls wiedererweckt?
Satiriker erschüttert im Glauben
Als Reaktion auf die „diplomatischen Verwicklungen“ schreibt Herr Böhmermann auf Facebook:
Ich fühle mich erschüttert in allem, an das ich je geglaubt habe.
Ist es das, was gerade passiert? Einen Satiriker ernst zu nehmen? Einen, der alles, an das man glaubt, in Frage stellt? Ist das „Wir Deutsche“? Ist ein Fernsehmoderator die letztendliche Instanz des „Glaubens“? Dessen, was „Wir Deutsche“ sind? Ist das so, dass landauf, landab, deutsche Medien sich solidarisch mit einem „Schmähgedicht“ zeigen und alle eigene Souveränität auf eine Solidarität einer Ziegenficker-Polemik reduzieren? Und in der Angst um das drohende Extrem einer islamischen Durchtürkisierung den Schulterschluss der totalen Meinungsfreiheit suchen, die es uns erlaubt, jeden dahergelaufenen erst einmal auf das ihm nach unserer Auffassung zustehende Maß der Erniedrigung herunterzuschmähen? Ist das deutsch? Sind wir darauf stolz? Halten wir das für vorbildlich? Ist das die neue deutsche Genialität? Ist die neue Derbheit das, was das Land der Dichter und Denker ausmacht? Oder sind wir mittlerweile lieber wieder Hetzer und Henker?
Habt ihr sie noch alle, Kollegen?
Ganz ehrlich? Habt ihr sie noch alle, Kollegen? (Anm. d. Red. Bild.de hält das Video noch online.)
Dieser Moderator, Jan Böhmermann, hat ein, wie Kanzlerin Dr. Angela Merkel es bezeichnet, „bewusst verletzendes“ Gedicht vorgetragen. Das hat dieser Moderator selbst so eingeordnet. Man könnte, wenn man wollte, das auch so übersetzen:
Ich ficke die Meinungsfreiheit so penetrant in jedes Loch, das ich finde oder das ich mir vorstelle zu finden, bis es so weh tut, dass die Meinungsfreiheitsverteidiger irgendwann Aua sagen und damit beweise ich, dass es die totale Meinungsfreiheit nicht gibt und wer die totale Meinungsfreiheit trotzdem will, muss sich halt bis zum Aua in jedes Loch ficken lassen, das ich finden werde – und ich verspreche, ich werde noch das dunkelste aller dunklen Löcher finden und das auch noch ficken, weil ich grundsätzlich überzeugt bin, dass die Freiheit, dunkle Löcher zu ficken, wenn sie grundsätzlich sein soll, bis in alle dunklen Gründe gelten muss, sonst ist diese Freiheit absurd, was beweist, dass Freiheit an sich absurd ist, wenn irgendjemand meint, dass es eine Grenze für diese Freiheit gibt.
Jan Böhmermann verteidigt weder eine Meinungsfreiheit. Noch schützt er sie. Er fickt sie – bis der „Schwanz beim Pinkeln brennt“, wie er es seinem Opfer, dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan als vermeintlichem „Gang-Banger“ mit Gummi-Maske und kleinem Schwanz beim Betrachten von Kinderpornos unterstellt. Hermeneutisch betrachtet wäre es interessant, nicht den Autor des Textes, sondern den Autor im Text zu betrachten, das lasse ich aber mal dahingestellt.
Haltungslos
Jan Böhmermann ist nicht der Verteidiger von Freiheit. Schon gar nicht der von Meinung. Außer, er hält Widerlichkeiten und Schmutz für schützenswert. Er ist der Sargträger. Weil er weder Stolz, noch Ehre kennt. Weil ihm jegliche Empathie abgeht. Weil er keine Haltung hat, sondern nur Lächerlichkeit statt Bratpfannen verkauft. Weil er die totale Freiheit will, aber keine Sekunde über Verantwortung nachdenkt oder nachdenklich macht.
Das ist einfach nur beschämend. Vor allem für die, die seinem Schwachsinn folgen und sich dabei „intellektuell“ fühlen.
Was sind das für Leute, die sich dem „endlich-traut-sich-jemand-das-was-mir-schon-immer-abgeht“ anschließen? Wer hat all diese Bestätiger vor Böhmermann und seinem Ziegenficker-Schmäh abgehalten, selbst derart aus ihrem Innersten vorzutragen? Angst? Feigheit vor dem Feind? Erbärmlichkeit? Oder einfach nur die Tatsache, zu wenig Geld zu haben und keinen gebührenfinanzierten Sender im Hintergrund, der einem den Arsch schon retten wird?
Qualitätsmedien im Klickrausch
All die aktuell falsche und dumme Berichterstattung auch nur annähernd dokumentieren zu können, würde Wochen kosten, weil stündlich dutzende voneinander abgeschriebene Texte neu erscheinen, denen es an allen Ecken und Enden an Substanz und intellektueller Höhe fehlt. Und damit sind nicht „Blogs“ gemeint, sondern die „Qualitätsmedien“, die den Hype reiten, weil sie nur auf Klickzahlen schielen und jeglicher Inhalt keine Relevanz mehr hat. Und Tatsache ist auch, dass sich viele der „Reporter“ in der Herde in Sicherheit fühlen – vor dem deutschen Rechtsstaat, den sie anscheinend zutiefst verachten, weil sie ihn nie verstanden haben.
Zu den Fakten: Die Türkei verlangt keine „Aburteilung“ des Moderators Jan Böhmermann. Die Türkei bezieht sich auf deutsches Recht. Die Genehmigung einer Ermittlungsfreigabe der Bundesregierung ist gesetzlich geregelt und Voraussetzung für eine „Strafverfolgung“. Die Staatsanwaltschaft ist in unserem Rechtsstaat verpflichtet, sowohl belastende wie auch entlastende Tatbestände zu ermitteln. Eine Ermittlung führt nicht unbedingt zu einer Klage. Eine Klage wird vor Gericht verhandelt und jemand, der angeklagt ist, ist unschuldig – außer, er wird verurteilt. Bis zum Urteil haben die klagende und die verteidigende Seite die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge vorzulegen. Am Ende entscheiden unabhängige Richter anhand der vorgelegten „Beweise“ und „Argumente“ und sprechen ein Urteil. Das alles nennt sich Rechtsstaat – auch, wenn viele Medien einen feuchten Dreck darauf geben.
Acker der Staatsverdrossenheit gedüngt
Wer dieses rechtsstaatliche Verfahren in Zweifel zieht, befeuert Pegida und Reichsbürger und düngt den Acker der Staatsverdrossenheit, auf dem widerliches Unkraut gedeiht. Wer sich nicht an die Basis unserer Rechtsordnung erinnert, befeuert alles, nur nichts Gutes.
Wenn eine Bundeskanzlerin ein „Gedicht“ als „bewusst verletzend“ bezeichnet, dann ist das kein Richterspruch, sondern die Meinung einer Frau Merkel, die Bundeskanzlerin ist, damit aber im Kern immer noch Bürgerin dieses Landes – für die „Meinungsfreiheit“ grundsätzlich auch gilt.
Selbstverständlich ist die „Meinung“ einer Bundeskanzlerin nicht mehr Wert als die Meinung einer Hausfrau oder eines Hausmanns oder eines Flüchtlings oder irgendjemandes – es geht um Meinungsfreiheit. Selbstverständlich hat die Meinung einer Bundeskanzlerin aber erhebliches „politisches“ Gewicht – und wer die „Ziegenficker-Poesie“ eines Jan Böhmermann für Kunst hält, hat auch eine freie Meinung. Doch wer so frei meint, den darf man auch gerne nach „Verantwortung“ fragen. Frau Merkel trägt diese – und ganz sicher nicht mit „Lust“.
Menschenrechte gelten auch für türkische Staatspräsidenten
Ich finde es systematisch erschütternd, wie andere Medien Meinungen überhöhen oder abwerten – einfach durch ihr persönliches Urteil und in vollkommener Ignoranz der Basis, nämlich des Rechtsstaats.
Es ist vollkommen unerheblich, wie Frau Merkel das „Schmähgedicht“ findet. So egal, ob Sie das gut finden oder ich es schlecht. Wenn Herr Erdogan sich geschmäht fühlt, hat er das Recht, dies vor unserer unabhängigen Gerichtsbarkeit prüfen zu lassen. Unsere grundgesetzlichen Menschenrechte gelten auch für einen türkischen Staatspräsidenten und zwar vollkommen unabhängig davon, ob man ihn für einen Sultan oder einen Terroristen hält.
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Damit gibt es keine „türkischen Verhältnisse“ in Deutschland wie subversive Elemente meinen, sondern deutsche Verhältnisse, die unabhängig von der Abstammung eines Menschen und seiner Position nach geltendem Recht überprüfen, ob Rechtsverletzungen vorliegen oder nicht.
Der Rechtsstaat kennt keine totalen Rechte
Es gibt kein Meinungsfreiheitsrecht in Deutschland, das eine willenlose Schmähung zulässt. Es gibt auch kein Gesetz, das sich „Satire darf alles“ nennt. Aber genau das tragen halbgebildete Zitatedrescher vor sich her. Dieser Satz ist nur eine Meinung des bekannten Journalisten Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1919 – nicht mehr, nicht weniger.
Es gib ein Grundgesetz und weitere Gesetze und es gibt Abwägungen der Verhältnismäßigkeit. Deutschland ist ein Rechtsstaat – das hoffe ich zumindest. In einem Rechtsstaat gibt es keine absoluten, totalen Rechte, sondern immer nur Rechte, die man gegeneinander abwägt.
Deswegen sollte die Bundesregierung die „Strafverfolgung“ genehmigen und die Staatsanwaltschaft beauftragen, sowohl belastende wie entlastende Beweismittel zu sammeln und die Möglichkeit eröffnen, diese vor Gericht zu bringen.
Dort wird festgestellt, ob die „Satire“ des Nischen-Moderators Böhmermann unter „Kunstfreiheit“ fällt oder eben nicht. Es ist ein rechtsstaatlicher Vorgang, auf den ich als Bürger vertraue.
Zerfall der Sitten
Und ich erwarte geradezu, dass die deutsche Bundesregierung unseren Rechtsstaat bestärkt, indem der Gerichtsbarkeit und nicht politischen „Abwägungen“ das Urteil überlassen wird.
Alles andere wäre falsch und verwerflich.
Von der deutschen Medienlandschaft hingegen erwarte ich immer weniger und das ist fatal.
Wer die Schmähung von Staatspräsidenten als Ziegenficker für in Ordnung hält, beispielsweise wie der Chef des mächtigen Springer-Konzerns, der öffnet dem Zerfall der Sitten alle Tore. Der fordert geradezu die totale Schmähung von allem und jedem – im Unterschied zu anderen frei von persönlichen Nachteilen. Der Konzern hat eine große Anwaltsabteilung und den Chef kostet die Aufforderung, „die Sau rauszulassen“ keinen Cent. Ganz im Gegenteil – seine Medien werden von der Schmähung bis zur niedergebrannten Unterkunft ganz vortrefflich durch Skandalisierung verdienen.
Lustvolle Leichenficker
Solche Leute wollen Krieg und hoffen beim Leichenfleddern auf dem Schlachtfeld auf reiche Beute.
Wer Ziegenficker-Bezeichnungen als Kunst bezeichnet, der fickt mit Lust auch Leichen. Es darf jeder selbst für sich entscheiden, ob man gemeint sein könnte.
Was mich erschüttert, ist, dass dieses Deutschland, das ich sehr liebe und schätze, offenbar überhaupt keine Intellektuellen mehr hat, die eine Debatte prägen und den Geist, statt den Dünnschiss herausfordern.
Kreischender Bocksgesang
Lesen Sie bitte oben nochmals das erste Zitat. Haben Sie es erkannt? Das stammt aus dem Text von Botho Strauss „Anschwellender Bocksgesang„. 08. Februar 1993, veröffentlicht im Spiegel. Lesen Sie den Text. Er ist absolut anstrengend, intellektuell wertvoll und damit das Gegenteil von den meisten Artikeln, die in der Causa Böhmermann veröffentlicht worden sind. Der Text ist alt und unglaublich aktuell. Und er hat für mächtig viel Aufregung gesorgt – lange ist es her.
Die Ziegenfickeraffäre beleuchtet das ganz dunkle Deutschland – und nein, Herr Böhmermann ist nicht genial. Er ist durchschnittlich fremdenfeindlich und vorurteilsbesetzt – und hat die deutsche Seele erwartungsgemäß und wohl kalkuliert „berührt“. Auch die in deutschen Redaktionen.
Die wollen Blut sehen, um sich selbst zu retten. Und keiner dieser Arschgeigen hat jemals Artikel 1 Grundgesetz gelesen.
Und wenn doch, blieb das Verständnis auf der Strecke.
Das ist bitter – vor allem für „Uns Deutsche“.
Wir Deutsche sind gut beraten, wenn wir der Unabhängigkeit unseres Rechtsstaat freien Lauf gewähren und uns als mündige Bürger von diffusen Medien nicht verwirren lassen.
Wer das „Schmähgedicht“ von Jan Böhmermann als zulässige, von der Meinungs- und Kunstreiheit gedeckte Satire bewertet, der muss geradezu darauf pochen, dass die Causa vor deutsche Gerichte kommt, um dort als zulässig bewertet zu werden – oder eben unzulässig.
Eine größere „Schmach“ könnte Herr Erdogan nicht erleiden – eine größere Stärkung der Meinungs- und Kunstfreiheit könnte souveräner Rechtsstaat nicht bezeugen.
Allerdings: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Und was würde den „Genie“-Apologeten anderes übrig bleiben, als den deutschen Staat als „Unrechtsstaat“ abzuurteilen, wenn nicht das Urteil herauskommt, das man erwartet?
Was dann? Allen Ziegenfickern und denen, die Ziegenficker-Bezeichnungen für eine Beleidigung halten, mal eben den Kopf abschneiden? Für die Meinungsfreiheit?