Rhein-Neckar, 31. August 2016. (red/pro) Heute vor einem Jahr sagte Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor der Bundespressekonferenz in Berlin den berühmt gewordenen Satz: „Wir schaffen das.“ Drei aussagelose Worte, in die viel hineininterpretiert worden ist. Eine kommentierende Analyse.
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Kommentar: Hardy Prothmann
Was bedeutet eigentlich dieser Satz „Wir schaffen das“? Wer ist wir? Was meint „schaffen“? Und überhaupt, was ist „das“?
Wer ist wir?
„Wir“ bedeutet zunächst einmal – die Steuerzahler. Nach Berechnungen des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) liegen die Kosten pro Flüchtling pro Jahr bis zu 20.000 Euro. Damit sind die vor einem Jahr über den Daumen prognostizierten Kosten von 10 Milliarden Euro deutlich übertroffen. Die bis Jahresende rund 1,5 Millionen Flüchtlinge, die 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind, kosten also rund 30 Milliarden Euro – jährlich. Und nur auf die Ist-Zahl der Flüchtlinge bezogen. Was, wenn in kurzer Zeit nochmals ein oder zwei Millionen Menschen dazukommen?
Prof. Dr. Holger Bonin kommt in einer Studie für die Böll-Stiftung im April zum Schluss:
Öffentliche Ausgaben für wirksame aktive Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung und schnelleren wirtschaftlichen Integration der Geflüchteten könnten auf mittlere und längere Sicht gute Renditen in Form von Steuer- und Beitragsmehreinnahmen und niedriger Ausgaben für die soziale Grundsicherung abwerfen.
Die durchaus positive Betrachtung wird durch „könnten“ als möglich, aber nicht sicher relativiert. Der alles entscheidende Faktor ist die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt – nur wenn das gelingt, stellen sich positive Effekte ein. Aktuell ist dies nicht ansatzweise der Fall. Die Studie sieht zwei Zeiträume vor: Einen günstigen Verlauf innerhalb von zehn Jahren und einen ungünstigen, der bis zu 20 Jahre dauert.
Wir bedeutet aber auch „wir alle“ in der Gesellschaft – also die Deutschen, die anderen Ausländer und die Flüchtlinge zusammen. Tatsächlich bedeutet „wir“ aber nicht „wir alle“, weil nur die Teile der Bevölkerung betroffen sind, die mit den Zuwanderern direkt zu tun haben. Dies wird vor allem Ballungsräume betreffen, also größere Städte.
„Wir“ meint aber auch viele sozial Schwache, die sich durch die Flüchtlinge einer „Konkurrenz“ ausgesetzt sehen und gar nicht zuversichtlich sind.
Was meint schaffen?
Völlig außer acht lässt die Studie die sozialen und auch psychologischen Effekte: Kinder aus bildungsfernen Familien haben weitaus schlechtere Chancen für eine berufliche Qualifikation. Wie viele Probleme noch nach 40 Jahren Integration herrschen können, zeigt sich aktuell bei großen Teilen der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland. Welchen Einfluss wird die zunehmende Kriminalität haben? Wie entwickeln sich die klar vorhandenen teils rassistischen Spannungen zwischen den Zuwanderergruppen? Der allergrößte Teil der seit 2015 eingewanderten Menschen sind Syrer – gut ein Drittel kommt aber aus vielen verschiedenen Nationen, die sich feindlich gegenüberstehen. Die allermeisten Zuwanderer sind Muslime – welche Folgen ergeben sich daraus?
Der Blick auf das, was geschafft worden ist: Der große Andrang, insbesondere 2015, konnte bewältigt werden, was die Versorgung und die Vermeidung von Obdachlosigkeit angeht. Allerdings nur in der Kombination staatlichen Handels plus einer herausragenden ehrenamtlichen Hilfe. Was aber wurde weiter geschafft? Das Veranstalten von Festen ist eine nette Geste, verändert aber nichts an den notwendigen Aufgaben.
Der wichtigste Schlüssel zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die deutsche Sprache – für die allermeisten bedeutet dies ein bis drei Jahre lernen. Es wird sehr viele geben, die keinen Erfolg haben oder gar nicht erst suchen. Doch die Sprache allein reicht nicht – Staatsbürgerkunde und gesellschaftliches Lernen gehört ebenso dazu. Und dies unter dem Einfluss der muslimischen Religion – welche Schwierigkeiten sich hier ergeben, zeigen die Debatten der vergangenen Monate.
Absolut wesentlich wird sein, Wohnraum für diese Menschen zu schaffen. Rechnet man nur zehn Quadratmeter pro Person in Billigbauweise für 1.000 Euro den Quadratmeter, dann bedeutet das für eine Million Menschen eine Investition von 10 Milliarden Euro. Realistisch sind 15-20 Milliarden Euro. Der Bund gibt aktuell bis 2019 500 Millionen Euro als Förderung für sozialen Wohnungsbau. Schon heute gibt es Entwicklungen, die eher zu Ghettos führen.
Und nicht nur die Zuwanderer müssen lernen, wie man hier in Deutschland lebt – auch die Deutschen müssen lernen, mit den Zuwanderern zu leben. Darüber spricht aber kaum jemand.
Was ist das?
„Das“ steht als Leerformel für die Summe aller Aufgaben – also Kosten, Qualifizierung, Integrationsmaßnahmen. Unter das lässt sich beliebig alles einsetzen. Diese Beliebigkeit ist die Stärke und zugleich die Schwäche der Aussage. Sie meint alles und nichts.
Man könnte mit „das“ auch „das Experiment“ sagen. Denn noch niemals zuvor mussten so viele Menschen in Deutschland integriert werden. Vergleiche mit den bis zu zwölf Millionen Flüchtlingen in den Nachkriegsjahren taugen nicht – das waren überwiegend vertriebene Deutsche zu einer ganz anderen Zeit.
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In der volkswirtschaftlichen Betrachtung fehlt die gesellschaftliche und politische Betrachtung – was, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern und Deutschland wie andere Nachbarländer weiter nach rechts rückt – also immer mehr Menschen keine Integration von Flüchtlingen wünschen? Welche Spannungen werden daraus erwachsen und wie schafft man das?
Der Mannheimer Polizeipräsident Thomas Köber blickt realistisch auf die Zukunft – in zehn Jahren wird mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Metropole einen Migrationshintergrund haben. Herr Köber sagt: „Ich muss die heute sechsjährigen Kinder abholen und in die Gesellschaft bringen. Ich möchte mir nicht vorstellen, wenn das nicht gelingt und die dann 16 Jahre alt sind.“ Und auch die Flüchtlinge selbst brauchen Schutz – beispielsweise vor Zwangsverheiratung und Menschenhandel.
„Wir schaffen das“ ist historisch gesehen eine Spitzenleistung Deutschlands. Was bis heute viele nicht verstanden haben: Deutschland hat Europa vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die ex-jugoslawischen Staaten und auch Ungarn und Österreich wären nicht in der Lage gewesen, diese Masse zu stemmen.
Hier liegt weiter viel Arbeit vor „uns“. Die anderen europäischen Länder müssen bei weiterem Andrang ebenfalls in die Pflicht genommen werden – eine Blockadepolitik wird letztlich zum „Schießbefehl“ führen. Das kann niemand wollen.
Hier ist also europäisches Handeln gefragt – in unserer Analyse vom Dezember 2015 zeichnen wir das Szenario eines 3. Weltkriegs, in dem sich die Welt bereits befindet, ohne das man diesen Zustand so nennt. Darin zeigen wir auch zwingende Maßnahmen auf – beispielsweise Investitionen in andere Länder, um auch dort Flüchtlinge ansiedeln zu können.
Konkretes Handeln statt symbolischer Aussagen
Sehr entscheidend wird sein, dass der Staat konkret handelt – das stellt die ZEW-Studie heraus. Der Spracherwerb und die beruflichen Qualifikationen müssen gelingen, sonst fällt die Überlegung in sich zusammen. Dabei darf es nicht beim Wunschdenken bleiben. Hier kommt das „Fördern und Fordern“ ins Spiel. Es müssen auch Lösungen gefunden werden für Menschen, die sich weigern, gefordert zu werden.
Wir haben vergangenen September von der „Hilfsbesoffenheit“ geschrieben – auf den Rausch folgt der Kater. Aktuell ist klar, dass der Integrationsprozess mindestens zehn, eher 20 Jahre und länger dauern wird – nur auf den aktuellen Stand bezogen. Und der beinhaltet auch, dass sich Europa abgeschottet hat.
Irgendwelche Bemühungen, in den Ausgangsländern für bessere Bedingungen zu sorgen oder andere Länder bei der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften und der dortigen Integration zu helfen sind nicht gescheitert – sie wurden bislang überhaupt nicht erst begonnen. Hier wurde also nichts geschafft.
Der Syrienkrieg tobt weiter und hat einen neuen Kombattanten: Die Türkei. Sollten nochmals ein oder zwei Millionen Menschen in kurzer Zeit nach Deutschland kommen, wird das Land dies irgendwie „schaffen“ – was aber, wenn mehr kommen? Kann sich niemand vorstellen? Bis Mitte 2015 konnte sich auch niemand vorstellen, dass bis Jahresende gut eine Million Menschen nach Deutschland kommen würden.
Eins ist klar: Die Polizei beispielsweise schafft keine weitere Million und mehr Menschen. Und das kann man nicht erst in ein oder zwei Jahren feststellen – die Ausbildung neuer Beamter dauert drei Jahre – von heute ab gerechnet. Während andere Aufgaben durch Hilfsdienste und Freiwillige gestemmt werden können, gilt das nicht für die Sicherheit. Das ist und muss eine hoheitliche Aufgabe bleiben. Wer politisch verantwortlich handeln will, muss sofort beginnen, die Polizei zu verstärken. Hier kann man auch nicht den üblichen Schlüssel von einem Beamten auf 400 Bewohner nehmen – denn die polizeiliche Arbeit mit Flüchtlingen ist durch sprachliche und kulturelle Barrieren erheblich aufwändiger. Hinzu kommen die neuen Herausforderungen zur Terrorabwehr.
Justizminister Guido Wolf (CDU) hat angekündigt, mehrere hunderte weitere Haftplätze zu schaffen – aktuell hat dpa dazu berichtet, Sie werden also dazu heute oder morgen in vielen anderen Medien Berichte dazu finden. Wir hatten bereits Ende Juli exklusiv die desolate Lage beschrieben.
Noch etwas Kurioses zum Schluss: „Wir schaffen das“ wird der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) zugeschrieben. Klar, sie ist ja auch die Chefin und macht die Ansagen. Tatsächlich aber stammt der Satz vom Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD), der die drei Worte eine Woche vor der Kanzlerin am 22. August 2015 zum Ende eines Videos gesagt hat, heute aber kein „Urheberrecht“ beansprucht. Warum er es nicht gewesen sein will, weiß nur Herr Gabriel.
Wir haben auch viel geschafft…
… die Flüchtlingskrise hat uns in einem Umfang beschäftigt, der „brutal“ war. Die Anstrengung war enorm. Unser Journalismus kostet Geld und ist ohne Geld nicht leistbar – der größte Teil unserer Ausgaben fließt in die Honorare der Mitarbeiter. 2016 wird für uns existenziell ein entscheidendes Jahr. Wenn Sie künftig weitere Artikel von uns lesen wollen, dann honorieren Sie bitte unsere Arbeit. Hier geht es zum Förderkreis.“ Sie können auch per Paypal spenden. Wenn Sie eine Überweisung tätigen wollen, nutzen Sie das Förderkreis-Formular (erleichtert uns die Verwaltung). Dort können Sie einen Haken setzen, dass Sie nur überweisen wollen. Alle Spender erhalten eine Rechnung.