Rhein-Neckar/Berlin/Stuttgart, 24. Mai 2017. (red/pro) Nach dem Anschlag in Manchester werden weitere Ermittlungskompetenzen für Behörden gefordert – um Terroristen zu enttarnen und aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie ihre Greueltaten verrichten können. Unsere Recherche, die wir bei der Autorin Petra Sorge bereits vor dem Anschlag in Auftrag gegeben hatten, zeigt, dass die Behörden schon jetzt sehr umfangreich und aktiv ermitteln. Hieraus ergibt sich ein Problem, das noch viel zu wenig im Fokus ist: Die Justiz kommt kaum hinterher und ist teils „extrem herausgefordert“.
Von Petra Sorge
Der Anschlag in Manchester, den „Daesh“ (Islamischer Staat) für sich reklamiert hat, hat Menschen in ganz Europa erschüttert: 22 Tote und rund 60 Verletzte forderte das Attentat. Der Selbstmordanschlag des 22-jährigen Salman Ramadan Abedi (1994 in Großbritannien geboren) beim Popkonzert richtete sich gegen die Verwundbarsten – gegen Kinder und Jugendliche. Der Mannheimer Gemeinderat hielt am Dienstag eine Schweigeminute im Gedenken an die Terroropfer von Manchester ab.

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Foto: Juliane Werner
Der Terror in Großbritannien hat auch in Deutschland die Debatte um die Sicherheit befeuert – und die Frage, was die Ermittler denn konkret tun, um weitere schreckliche Anschläge zu verhindern.
831 Ermittlungsverfahren mit 1.105 Beschuldigten
Auch wenn es wie im Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri Hinweise auf mögliche Ermittlungspannen gibt, die Behörden schlafen nicht. Bundesweit werden 831 Ermittlungsverfahren mit 1.105 Beschuldigten im Kontext islamistischer Terrorismus geführt, wie das Bundeskriminalamt dem Rheinneckarblog aktuell mitteilte (Stand: 08. Mai 2017). Allein in der Wiesbadener Behörde werden 166 dieser Ermittlungsverfahren mit 209 Beschuldigten geführt.
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Geht es nach den Politikern, dann sollen die Kompetenzen der Ermittler immer weiter ausgedehnt werden. Die CSU will mehr Online-Überwachung, und die Union forderte nach einer Sitzung ihrer Länder-Fraktionschefs in München am Mittwoch, „die rechtlichen, personellen und technischen Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden“ zu erweitern, „damit sie der Bedrohung durch Terror und extremistische Gewalt wirksam begegnen können“.
Behörden kommen kaum noch hinterher
Eine Recherche des Rhein-Neckar-Blogs zeigt: Ermittler, Staatsanwälte und Richter bundesweit kommen bei Verfahren im Bereich „islamistischer Terror“ kaum noch hinterher. Fast jede Woche wird irgendwo ein neuer Terrorverdächtiger oder -unterstützer angeklagt. Nicht nur die Zahl der Prozesse ist gestiegen, auch mussten sich viele Gerichte notdürftig vergrößern und umbauen.
Beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe wurden seit Jahresbeginn 250 Verfahren im Bereich „Terror“ geführt – ein deutlicher Anstieg. 2016 waren es im gesamten Jahr noch 240 Verfahren, 2015 etwa 150, 2014 sogar nur 120. Folglich hat sich auch die Zahl der Mitarbeiter erhöht, wie eine Sprecherin mitteilte, auf aktuell 120 Staatsanwälte. Sie berichtete von einem „erhöhten Arbeitsaufkommen“.
Das ist noch diplomatisch formuliert.

IS-Terrorpropaganda per Twitterpost.
„Extreme Anstiege zu verzeichnen“
Der Bundesgerichtshof sprach in seinem im März vorgestellten Tätigkeitsbericht 2016 von „anhaltend hohen, überwiegend weiter angestiegenen Belastungen“. Im ermittlungsrichterlichen Bereich seien „sogar extreme Anstiege zu verzeichnen“. Die Zahl der Neueingänge bei den Ermittlungsrichtern erhöhte sich nochmals um 23,1 Prozent auf 2.418. Von 2014 auf 2015 hatte der Anstieg bereits 57,6 Prozent betragen. Der BGH schlüsselt allerdings nicht auf, um welche Straftaten es sich konkret handelte. Aus dem Bericht geht aber hervor, dass fünf Richter neu eingestellt wurden.
Auch die Bundesländer bemühen sich, den ansteigenden Neueingängen gerecht zu werden. Bayern hat wegen der Belastung in den Bereichen Terror und Rechtsextremismus zu Jahresbeginn eine neue Ermittlungsstelle und einen weiteren Staatsschutzsenat eingerichtet. In Hamburg stieg die Zahl der für Staatsschutzsachen zuständigen Strafsenate von einem auf zwei, in Berlin von zwei auf drei. Auch Neueinstellungen von Richtern soll es geben. Göttingen, das in Sicherheitskreisen neben Berlin als die Stadt mit den meisten Islamisten gilt, hat ebenfalls einen zweiten Staatsschutzsenat eingerichtet.
100 Terrorermittlungen im Südwesten im Jahr 2016
Am Oberlandesgericht Stuttgart war schon Ende 2015 ein dritter Staatsschutzsenat eingerichtet worden, als Folge des rot-grünen Antiterrorpakets.
Die Justiz in Baden-Württemberg dürfte weiterhin gut zu tun haben: So stieg die Anzahl der Strafverfahren im Bereich des Islamismus/Fundamentalismus der „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) um ein Drittel – von 74 im Jahr 2015 auf 100 im Jahr 2016, wie ein Sprecher des Innenministerium mitteilte. „Schwerpunktmäßig handelt es sich hierbei um die Straftatbestände der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§§ 129a, b StGB), Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a StGB) und Terrorismusfinanzierung (§ 89c StGB).“
Mindestens 17 islamistische Terrorgruppen in Deutschland aktiv
Das Innenministerium in Stuttgart bewertet den sogenannten „Islamischen Staat“ („Daesh“) derzeit als größte dschihadistische Organisation in den Konfliktregionen in Syrien und Irak. „Es ist dabei sowohl in Betracht zu ziehen, dass der IS Täter mit einem bestimmten Auftrag in das westliche Ausland schickt als auch, dass sich Personen oder Gruppen im Inland durch die Propaganda islamistischer Organisationen zur Begehung terroristischer Taten aufgefordert fühlen“, erklärte der Sprecher auf unsere Anfrage. Die Polizei stufe solche Personen bundesweit als „Gefährder“ ein.
Auch das BKA in Wiesbaden geht davon aus, „dass sich unter den Flüchtlingen auch aktive und ehemalige Mitglieder, Unterstützer und Sympathisanten terroristischer Organisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat sowie Einzelpersonen mit extremistischer Gesinnung und/oder islamistisch motivierte Kriegsverbrecher befinden können“.
Doch mit dem IS als Terrorgruppe ist es längst nicht getan, wie eine Rheinneckarblog-Anfrage ans Bundesjustizministerium ergab. Dort entscheiden die Beamten über vom Generalbundesanwalt beantragte Verfolgungsermächtigungen, das heißt, sie legen fest, welche ausländischen kriminellen (§129 STGB) oder terroristischen (§129a STGB) Vereinigungen auch in Deutschland unter das Strafgesetzbuch fallen.
Und das sind eine ganze Menge, wie aus einer Antwort des Ministeriums an eine kleine Anfrage der Linken-Fraktion hervorgeht. Im Bereich Islamismus wurden bis September 2016 Verfolgungsermächtigungen gegen 17 Organisationen verhängt: Neben dem IS waren das Al-Qaida und seine Ableger in verschiedenen Ländern, die Taliban, Hamas, Boko Haram, die Al-Schabab-Miliz in Somalia, die Al-Nusra-Front, die syrischen islamistischen Rebellenorganisationen Ahrar al-Sham und JAMWA (Dschaisch al-Muhadschirin wal-Ansar), Lashkar-e-Taiba (LeT) in Pakistan, die kurdisch-nordirakische Ansar al Islam, die sunnitische Jund Ash Sham, die algerische Terrorvereinigung „Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat (GSPC)“, die „Islamic International Brigade“, die Islamische Dschihad-Union und ihre Ableger in verschiedenen Ländern, Abu Sajaf auf den Philippinen sowie die kurdische PKK, die sich in der Türkei eher als „Befreiungsfront“ versteht. Die von Iran finanzierte Hisbollah-Miliz ist auf der Liste nicht zu finden.
Schwierige Ermittlungen
Eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums weist darauf hin, dass es bei ausländischen Terror-Gruppen zwar die Verfolgungsermächtigung erteilen könne, „die Entscheidung darüber, ob eine terroristische Vereinigung gegeben ist, jedoch von den unabhängigen Gerichten getroffen wird“.
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Das Bundesinnenministerium (BMI) bestätigt uns, dass die Terrorgruppen teils auch untereinander verbunden sind. Hinweise auf mögliche Straftaten sammeln die Ermittler auf verschiedenen Wegen: „Es kommen Bezichtigungen von Personen, objektive Hinweise im Rahmen von anderen Ermittlungsverfahren, Hinweise von Sicherheitsbehörden und weitere Informationsquellen in Frage“, erklärt ein BMI-Sprecher.
Laut dem BKA gingen bei Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern seit Jahresbeginn (Stand: 13. April 2017) 963 Einzelhinweise auf mutmaßliche Tatverdächtige ein. „Dies führte bisher zur Einleitung von Ermittlungsverfahren im unteren dreistelligen Bereich“, teilte uns ein Sprecher mit.
Aber wie soll man in Bürgerkriegsländern wie in Syrien oder Irak Hinweise sammeln? Dort gibt es keine funktionierenden Strukturen mehr; hiesige Ermittler können nicht mal eben um Amtshilfe bitten.
Das Bundesinnenministerium bestätigt, dass die Aufklärung von Straftaten dort tatsächlich „große Schwierigkeiten“ berge. „Die Erkenntnisse müssen folglich durch eigenes Aufkommen kompensiert werden“, erklärt der Sprecher nebulös. Und ergänzt: „Hierfür kommen wiederum aber alle Möglichkeiten der Beweiserhebung im Strafverfahren in Frage.“
Anm. d. Red. Im August 2016 hatten wir bereits über steigende Ermittlungsverfahren berichtet. Unser Update zeigt: Die Fallzahlen steigen rapide weiter an.
Zur Person:
Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Sie liebt Reportagen und Recherchen und schreibt für den Freitag, die ZEIT, die Frankfurter Rundschau u.a. über Politik, Digitales und Medien. Zwischen 2011 und 2016 war sie Redakteurin beim Magazin Cicero, zuletzt als Onlineverantwortliche.