Stuttgart/Südwesten, 01. September 2016. (red/cr) Attentate wie in Ansbach oder Würzburg verunsichern. Die Angst vor dem Terror ist da – vor allem wenn ein Ereignis so nah ist. Aber wie sieht es eigentlich nüchtern betrachtet “vor der eigenen Haustür” aus? Wie groß ist die Bedrohung durch Islamisten? Und wie groß die von links, rechts oder ganz anderen Strömungen? Die Landtags-Fraktion der FDP/DVP hat der Landesregierung Fragen gestellt zur Lage des Extremismus in Baden-Württemberg. Die Antworten sind aufschlussreich und teilweise erschreckend.
Von Christin Rudolph
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten ist auf einem Höchststand. 2.822 allein im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg. Im Bereich der rechtsradikalen Gewalt wurden im Vergleich zu 2014 fast doppelt so viele Straftaten begangen.
Grund genug, grundlegende Fragen zu stellen. Wie viele Extremisten gibt es eigentlich “im Ländle”? Wer hat die meisten Anhänger? Wie sind sie organisiert und was für eine Gefahr geht von ihnen aus? Und was sind das für Menschen?
Fast 9.000 Extremisten im Land
Fragen zu stellen reicht jedoch nicht. Man braucht auch Antworten und muss die Fakten kennen.
Die Fraktion der FDP/DVP in Baden-Württembergischen Landtag stellte Ende Juni eine große Anfrage zum Thema Extremismus im Südwesten an das Landtagspräsidium. Wir fassen die Kernaussagen der Antwort zusammen.
Die größte Gruppe ist die der Islamisten. Die Landesregierung geht von 3.365 Islamisten in Baden-Württemberg aus, wobei davon 120 Personen als gewaltorientiert eingeschätzt werden.
Die zweitgrößte Gruppe bilden die Linksextremisten mit 2.590 Personen, wovon ungefähr 780 Personen, also rund 30 Prozent, als gewaltorientiert gelten.
Den Rechtsextremisten werden 1.800 Personen zugerechnet, wovon 810 als gewaltorientiert eingestuft werden.
Darauf folgen 1.200 Anhänger der extremistischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die weltweit mitgliederstärkste und bedeutendste Kurdenorganisation.
Strömungen und Grüppchenbildung
Diese Zahlen bedeuten jedoch nicht, dass zum Beispiel 3.365 Islamisten in einer Organisation zusammenarbeiten und Pläne schmieden. Im Gegenteil, manche islamistische Gruppierungen stehen in Konkurrenz zueinander oder sind sogar verfeindet.
Islamisten, Rechts- und Linksextremisten teilen sich jeweils in mehrere Splittergruppen auf. Doch wie sind sie organisiert und wie agieren sie?
Im Falle der Islamisten teilen sich die verschiedenen Strömungen vor allem nach Herkunft auf. Der größte Block ist türkischen Ursprungs mit rund 2.500 Anhängern. “Nur” 315 Personen werden Strömungen arabischen Ursprungs zugerechnet.
Die große Mehrheit, 3.275 Personen der insgesamt 3.365 Islamisten, ist sunnitisch, rund 600 davon können dem sogenannten politischen Salafismus zugerechnet werden.
Zersplittert, aber vernetzt
Die unterschiedliche Gruppierungen und einzelnen Personen bilden in Deutschland ein loses Netzwerk des Salafismus. Teils wird zusammengearbeitet, teils besteht ein Konkurrenzverhältnis oder sogar eine deklarierte Feindschaft zueinander.
Die salafistische Szene ist bundesweit in über 100 Strukturen zersplittert, die Anlaufpunkte regionaler salafistischer Szenen sind.
In Baden-Württemberg gibt es 15 verschiedene Anlaufstellen wie zum Beispiel Moscheevereine. Das bedeutet jedoch nicht, dass jedes Grüppchen isoliert von den anderen agiert.
Trotz der Zersplitterung sind die Gruppen vernetzt. Einerseits durch bundesweit aktive Prediger, andererseits virtuell über Kontakt- und Kommunikationsplattformen im Internet.
Trend zu Parteien hin
Auch in der rechten Szene gibt es keine übergeordnete Struktur. Etwa 520 Anhänger rechtsextremistischer Parteien leben in Baden-Württemberg. Davon entfallen mit 410 Anhängern die meisten auf die NPD.
Die Landesregierung zählt im Bereich „subkulturell geprägter Rechtsextremismus“ (hauptsächlich Skinheads) 400 Personen, im Bereich „Neonazismus“ 390, und 500 zu „sonstigen rechtsextremistische Organisationen“.
In Sachen Organisation ist die NPD wichtig für die Szene. Denn die Landesregierung stellt einen Trend der Neuorganisation der rechtsextremistischen Szene in Parteien fest:
Die NPD bemüht sich um eine Vernetzung mit der Neonaziszene und stellt so als rechtsextremistische Partei mit hohem Organisationsgrad Strukturen zu Verfügung, die auch von Rechtsextremisten außerhalb der NPD genutzt werden.
Linke wenig organisiert
Beim Thema Linksextremismus unterscheidet sich die Organisation erheblich zwischen zwei großen Gruppen: Zum dogmatischen Bereich zählen Marxisten-Leninisten und andere revolutionären Marxisten.
Ihm gehören etwa 70 Prozent der als Linksextremisten eingestuften Personen an. Es gibt organisierte Gruppen, ob parteiförmig wie etwa die Deutsche Kommunistische Partei, als Verein oder in einzelnen, eigenständigen dogmatisch orientierten Kleingruppen.
Die anderen 30 Prozent bilden wenig bis gar nicht organisierte Gruppen, zu denen die „gewaltbereiten Organisationen“ zählen. Die wiederum werden in „Autonome“, „Anarchisten“ und “Antiimperialisten“ unterschieden und zeigen immer wieder Versuche, die Kräfte zu bündeln.
Im Gegensatz dazu ist die PKK straff hierarchisch organisiert und von einem autoritären Führungsstil geprägt.
Ein Viertel der Islamisten ist in Deutschland geboren
Doch was für Menschen stecken hinter diesen Begriffen und Zahlen? Die Landtagsfraktion der FDP/DVP fragte unter anderem nach Geschlecht, Alter, Herkunft und Straftaten der Extremisten in Baden-Württemberg.
Hier lassen sich klare Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten der verschiedenen Gruppen feststellen.
So bilden etwa Linksextremisten die mit Abstand jüngste Gruppe. Mit 53 Prozent sind mehr als die Hälfte der Anhänger unter 30 Jahren alt.
Auffällig bei der Frage nach der Herkunft: Mindestens 23 Prozent der Islamisten wurde in Deutschland geboren. 66 Prozent stammen aus dem Ausland, bei 11 Prozent liegen keine Angaben vor.
Extremismus ist männlich
Eine große Gemeinsamkeit gibt es quer durch die Reihen von Links- und Rechtsextremisten, Islamisten und Anhängern der PKK: Extremisten sind vorwiegend Männer.
Mit einem knappen Drittel, circa 30 Prozent, weist die Gruppe der Linksextremisten den größten Frauenanteil der aufgeführten Gruppen auf.
Unter den Islamisten sind nur zu neun Prozent Frauen vertreten. Der Frauenanteil bei Rechtsextremisten und Anhänger der PKK liegt knapp unter zwanzig Prozent.
Rechte besonders kriminell
Eine extremistische Einstellung allein macht keinen zum Täter. Ob und welche Taten begangen werden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wer also begeht politisch motivierte Straftaten und in welchem Ausmaß?
Mit 1.800 Anhängern in Baden-Württemberg ist die rechtsextremistische Szene zwar die zweitkleinste in der Aufführung der Landesregierung. Jedoch die, die mit Abstand die meisten Straftaten begeht.
1.604 politisch motivierte Straftaten im Jahr 2015 werden ihr zugerechnet, davon 1.484 die dem Extremismusbegriff der Verfassungsschutzbehörden entsprechen.
Viele Wiederholungstäter?
Zum Vergleich: “Obwohl” sie fast 800 Anhänger mehr haben, verübten Linksextremisten im gleichen Jahr “nur” 660 Straftaten, davon 522 Straftaten im Sinne des Extremismusbegriffs der Verfassungsschutzbehörden.
Auf die Zahl der Anhänger kommt es allerdings bei diesem Vergleich nicht ausschließlich an. Denn möglicherweise gibt es einige “Wiederholungstäter”. Den 1.604 Straftaten, die dem rechten Lager für 2015 zugeordnet werden, stehen lediglich 297 Tatverdächtigen gegenüber. Beim linken Lager ist das Verhältnis von Straftaten zu Tatverdächtigen 660 zu 173.
Sicher gibt es einige Fälle, in denen schlicht kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Und ein Tatverdächtiger muss nicht der Täter sein. Bis zu einer Verurteilung bleibt es bei der Unschuldsvermutung.
Immer mehr extremistische Straftaten
Eindeutig ist dagegen die Entwicklung der politisch motivierten Straftaten. Leider ist es eine sehr negative. In der Statistik der Landesregierung sind die Werte des Jahres 2015 die höchsten seit 2010. Vor allem die Zunahme der Straftaten im vergangenen Jahr ist erschreckend.
Wurden im Jahr 2014 noch 2.163 politisch motivierte Straftaten in Baden-Württemberg verzeichnet, so waren es im Folgejahr 2.822. Fast ein Drittel mehr.
Besonders dramatisch ist der Anstieg der Straftaten, die dem rechten Lager zugeschrieben werden. Eine Steigerung um mehr als 80 Prozent. Innerhalb eines Jahres von 889 auf 1.604.
Etwa 50 Terroristen
Die Zahl der Straftaten mit antifaschistischer Motivation als Grundlage stieg von 593 auf 660 um elf Prozent. Im Bereich Ausländerextremismus, wozu die Anhänger der PKK zählen, gab es eine Anstieg von rund 37 Prozent. Das ist allerdings darauf zurückzuführen, dass sich die Zahlen auf einem relativ geringen Niveau bewegen: Von 216 zu 296. Also “nur” 80 Straftaten mehr.
Islamistische Straftaten werden in der Statistik nicht gesondert aufgeführt. Jedoch gibt es eine Antwort zu einer Frage nach Personen die Baden-Württemberg verlassen haben, um sich in “Terrorcamps” ausbilden zu lassen oder sich an Kämpfe in Krisengebieten zu beteiligen.
Demnach liegen dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg und dem Landesamt für Verfassungsschutz “Hinweise zu rund 50 Islamisten aus Baden-Württemberg vor, die seit 2010 in Richtung Syrien/Irak ausgereist sind, um dort auf Seiten des Islamischen Staates (IS) oder anderer terroristischer Gruppen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen.”
Jung und anfällig
Rund zehn dieser Jihadisten seien inzwischen bei Gefechten oder Selbstmordattentaten ums Leben gekommen, rund ein Drittel zurückgekehrt. Überwiegend handelte es sich um junge Menschen. Während der Anteil der unter 30-Jährigen Islamisten in Baden-Württemberg generell bei 18 Prozent liegt, war der überwiegende Teil der insgesamt ausgereisten Personen jünger als 30 Jahre.
Auch der Frauenanteil war mit etwa einem Fünftel deutlich höher als der Landesdurchschnitt von 9 Prozent. Rund 23 Prozent aller der Landesregierung bekannter Islamisten in Baden-Württemberg wurden in Deutschland geboren.
Etwa zwei Drittel der Ausgereisten besaß zum Zeitpunkt der Ausreise die deutsche Staatsbürgerschaft, darunter 10 Doppelstaater.
Es werden bei der Rekrutierung also ganz bewusst bestimmte Zielgruppen angesprochen. Die zweitstärkste Gruppe der Ausgereisten bilden türkische Staatsangehörige, gefolgt von Angehörigen der Balkanstaaten (Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Serbien).
Die Landesregierung spricht insgesamt von einer derzeit verringerten Ausreisedynamik.
Ausgezogen um zu kämpfen
Auch Anhänger der PKK sind ausgereist, um sich an Kampfhandlungen zu beteiligen. Dem Landeskriminalamt und dem Landesamt für Verfassungsschutz liegen Hinweise zu rund 23 Rekrutierten aus Baden-Württemberg vor, die dazu im besagten Zeitraum in Richtung Syrien/Irak ausgereist sind.
Auch hier handelte es sich hauptsächlich um junge Menschen unter 30, darunter zwei Frauen. Rund die Hälfte kehrte nach Deutschland zurück.
Drei Personen starben, zwei davon Linksextremisten, die sich mit den Kurden solidarisierten. Mehr als die Hälfte der Rekrutierten besaß zum Zeitpunkt der Ausreise die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Rest verfügte über die türkische Staatsangehörigkeit.
Fazit: Die Zahl der extremistischen Straftaten ist binnen Jahresfrist sprunghaft angestiegen – die Zahl von fast 9.000 Extremisten aus den unterschiedlichen Lagern ist beunruhigend hoch. Politische Reaktionen und Forderungen sind bislang nicht erfolgt.
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