Rhein-Neckar, 23. März 2016. (red) In Brüssel sind über 30 Menschen durch drei Bombenexplosionen getötet und über 270 Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Was wie Wahnsinn anmutet, ist strategisch geplant. Der Terror und Horror vor Ort soll möglichst weit verbreitet werden – über Medien. Das ist ein großes Problem.
Von Hardy Prothmann

Hardy Prothmann, Bild: sap
Nach dem Terroranschlag von New York 2001 habe ich an einer Sicherheitskonferenz in Berlin teilgenommen. Der Kreis war ausgewählt – Journalisten, die über Krieg und Terror berichten. Experten, die sich damit auskennen. Der Name der Veranstaltung: Der Terror und die Medien. Das Ziel: Ein verantwortungsvoller Umgang mit Horror-Meldungen durch „Multiplikatoren“.
Kollegen und Experten diskutierten damals – lange ist es her – über die Kernfrage: Wie berichten? Sehr beeindruckend war die Teilnahme von Gerhart Baum, der seine Verantwortung und seine Schlussfolgerungen zum Deutschen Herbst als früherer Bundesinnenminister sehr reflektiert berichtete. Man war mittendrin – er war ehrlich, gestand Fehler ein und zeigte offen, dass es auf viele Fragen keine eindeutige Antwort gibt.
Anm. d. Red.: Sie lesen einen langen Text ohne unterhaltende Fotos – wenn Sie Lust darauf haben. Der Text ist anstrengend und schwierig und nicht „vollendet“. Sondern ein Debattenbeitrag, wenn Sie möchten.
Deutscher Herbst und arabischer Terror
Deutscher Herbst? Viele jüngere Leser können damit vermutlich nicht viel anfangen. Ich starte jetzt auch keine akademische Aufberereitung. Die Anfänge liegen im Jahr 1968 nach der Verabschiedung der „Notstandsgesetze“. Zwischen 1972 und 1991 ermordeten die Mitglieder der RAF insgesamt 34 Menschen, verletzten über 200, 27 RAF-Mitglieder kamen ums Leben. Hinter der RAF stand ein nur zum Teil bekanntes Unterstützernetzwerk von einigen hundert Personen. Die Opfer dieser Terroristen waren überwiegend Menschen mit bedeutenden Funktionen in Politik und Wirtschaft.
Am Dienstagmorgen sind in Brüssel vermutlich 34 Menschen gestorben und über 270 Menschen zum Teil schwer verletzt worden. Als direkte Täter werden vier Terroristen vermutet. Dahinter steht natürlich ebenfalls ein Netzwerk von Unterstützern.
Die Gemeinsamkeit dieser Terroristen ist der angebliche Kampf für eine Organisation – bei der RAF ging es angeblich um „Klassenkampf“ und „Antiimperialismus“. Bei islamistischen Terroristen angeblich um den Kampf des wahren Islam gegen den Westen – also auch Klassenkampf und Antiimperalismus. Und wer sich erinnert – die RAF hat sich in arabischen Terror-Camps ausbilden lassen. Welche Fischer-Rolle dabei gewisse Politiker gespielt haben, überlasse ich jetzt mal der Geschichte.
Terror steigert seine „Effektivität“
Der Unterschied damals und heute: Es gab damals weder die Zahl und Effektivität der Waffen von heute und überhaupt keine vergleichbare Infrastruktur, ob das Verkehrs, Geld oder moderne Kommunikationsmittel angeht.
Hätte die RAF damals über dieselben Möglichkeiten verfügt, wie heutige Terroristen, die Zahl der Opfer wäre auch damals sehr viel höher gewesen.
Damals wurden Nachrichtensperren eingesetzt und die Rasterfahndung. Mithin massive Einschnitte in Grundrechte der Bevölkerung. Der Unterschied damals und heute: Die technischen Möglichkeiten der Überwachung sind unendlich umfangreicher – für den Staat und für Terroristen. Die Grundrechte sind dieselben geblieben – außer, dass man sie heute eigentlich wichtiger nehmen sollte.
Terror ist der Kampf gegen den Frieden
Terrorattentate sind massive Eingriffe in den öffentlichen Frieden, die allein durch die schlagartig hohe Zahl von Opfern und massiver Zerstörung jeden vernünftigen Menschen entsetzen. Jeder vernünftige Mensch muss Mitleid mit den Opfern und den Hinterbliebenen empfinden. Und jeder vernünftige Mensch muss Gewalt und Terror als absolut illegitimes Mittel des „politischen Kampfes“ ablehnen.
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Mit der Vernunft ist das so ein Sache. Was für den einen vernünftig scheint, ist für den anderen „irre“.
Medien, die über Terror berichten, verhalten sich vernünftig bis irre. Wir Journalisten haben die Aufgabe, die Menschen über „bedeutende“ Ereignisse zu informieren.
Berichten wir, haben die Terroristen nicht nur am Anschlagsort für Angst und Entsetzen gesorgt, sondern dies auch medial verbreiten können. Berichten wir nicht, kommen wir unserer Aufgabe nicht nach und setzen uns dem Verdacht aus, Dinge zu verschweigen.
Dürfen wir einen Vergleich ziehen? Der RAF-Terror hat in über 20 Jahren Jahren in etwa so viele Opfer gefordert, wie der Terror-Anschlag von Brüssel am Dienstag.
Dieser Vergleich als Feststellung und Basis für eine Analyse ist legitim – nur als Vergleich wäre das Blödsinn. Denn die Zeiten, die Akteure, die Motive waren anders. Oder doch nicht? Fragen über Fragen.
Hat Terror eine „Entwicklung“ erfahren? Wenn ja, welche? Außer eine technisch-effektivere? Also so eine Art „analoge“ Entwicklung zum technischen Fortschritt… Terror als Effizienssteigerung? Mussten früher noch viele Terroristen viel „Arbeit“ verrichten, sind Terrorarbeitsplätze jetzt zu Gunsten der Effizienzsteigerung rationalisiert worden? Oder anders herum – reichen heute wenige Terroristen aus, um die Arbeit von vielen Terroristen zu „erledigen“?
Terror hat keine Werte – er will Werte vernichten
Sie erinnern sich? Freiheitsrechte, Grundrechte, Menschenrechte – da war doch was?
Ich persönlich bin nicht nur über die Terroranschläge von Brüssel entsetzt, sondern auch darüber, dass ich bei meinen Recherchen auf sehr viele Medieninformationen gestoßen bin, wo Opfer unverpixelt der Schaulust freigegeben worden sind. Ich bin auf eine Vielzahl von Informationen gestoßen, die ich als fragwürdig eingeschätzt habe und die sich später als falsch herausgestellt haben.
Und ich bin auf viele „private“ Informationen gestoßen, die später unter dem Namen von Medienmarken, insbesondere Nachrichtenagenturen, verkauft worden sind. „Private“ Informationen, das sind im wesentlichen Fotos und Videos von Menschen mit einem Mobiltelefon, die ohne jede rechtliche und journalistische Prüfung alles, was sie vor die Linse bekommen über soziale Netzwerke teils in Echtzeit öffentlich machen.
Terror entschleunigen
Aus journalistischer Sicht ist das eine „Fundgrube“. Wir Journalisten können uns in einer Geschwindigkeit informieren, die es noch niemals zuvor gab.
Aus Sicht von Opfern und Angehörigen kann das die absolute Hölle sein. Keiner dieser „Sender“ denkt auch nur eine Sekunde darüber nach, ob das Foto der Leiche zigtausendfach geteilt wird und womöglich Sekunden später auf dem Bildschirm der Mutter zu sehen ist, die eben mal in Facebook nach Nachrichten von Freundinnen guten wollte und ihre Tochter erkennt. Vielleicht erkennt sie den entstellten Körper nicht, aber ein Detail, einen Ring, eine Kleidungskombination, ein Tatoo. Die meisten Sender hoffen sogar, dass ihr Foto, ihr Film im Netz „abgeht“.
Leider hoffen das auch Nachrichtenagenturen und Medien. Die privaten „Sender“ kann man noch wegen Dummheit verachten – die professionellen Sender verhalten sich zum Teil höchst verantwortungslos und skrupellos. Sie wollen gezielt Aufmerksamkeit erzeugen, die gegen bare Münze vermarktet wird.
Dauer-Dilemma des Journalismus
Das ist das nächste Dauerdilemma des Journalismus – zu der eine gesellschaftliche Debatte und ein gesellschaftliches Bewusstsein fehlt. Natürlich schafft Journalismus Aufmerksamkeit und verkauft diese. So funktioniert der Markt. Denn Journalismus muss finanziert werden. Das ist harte Arbeit und die gibt es nicht umsonst.
Die Frage ist aber: Wie schafft man diese Aufmerksamkeit? Und welche Mittel setzt man ein? Wann hat man die Öffentlichkeit ordentlich informiert und ab wann wird es fiese Sensationshascherei und Voyeurismus?
Ticker-Geilheit ist der größte Fehler, den Profis begehen können
Spiegel online und andere große Portale tickern im Minutentakt jede „neueste“ Information. Ist das der Auftrag von Journalismus? Hier muss die Debatte ansetzen.
Ich meine, dass die großen Medien hier enorme Fehler machen. Wer genau hinschaut und analysiert, der stellt fest, dass diese Medien sich häufig der „privaten“ Quellen bedienen. Diese werden mal professionell, meistens nicht, gecheckt und dann „rausgehauen“. Man will den Aufmerksamkeitspegel hoch halten, alle Portale sind in Konkurrenz zueinander und irgendwann ist es nur noch eine Hatz auf Informationen – Pseudoinformationen. Am Ende stumpft das ab.
Tickern, tickern, tickern – jegliche Einordnung fehlt. Die allermeisten Medien verbreiten Meldungen von anderen Medien, denen sie blind vertrauen. Das sind Agenturen und große Medien. Der Exit ist mitgedacht: „Fehler? Nicht unserer, das hat doch xy gebracht.“
Terror geschieht weltweit vor Ort – in Echtzeit
Ja, wir haben auch zu den Attentaten in Brüssel berichtet – obwohl wir ein Regionalmedium sind. Aber Brüssel gehört auch zu unserem Berichtsgebiet – das ist das World Wide Web. Das globale Dorf.
Mal abgesehen davon, dass wir immer mehr Zugriffe aus Brüssel feststellen. Denn wir thematisieren immer wieder EU-Politik und natürlich liest man das auch dort und in aller Welt, wenn auch die absolut meisten Nutzer aus der Region kommen.
Wir bemühen uns, internationale Nachrichten zu lokalisieren und zu regionalisieren. Wir informieren, so gut wir das können, über „externe“ Geschehnisse, die uns auch hier vor Ort betreffen.
Leider auch über Terrorattentate.
Sensation darf niemals im Vordergrund stehen
Wir haben aber auch einen redaktionellen Kodex. Für uns steht niemals die Sensation im Vordergrund, sondern immer die Information.
Und dieser Kodex ist nicht in Stein gemeißelt, sondern entwickelt sich. Ab sofort werden wir nicht mehr über den „Islamischen Staat“ berichten. Jegliche staatliche „Legitimation“ ist untauglich für kriminelle Verbrecher und Mörder. Wir schreiben ab sofort „Daesh“ – so wird diese Terrororganisation auf arabisch genannt.
Wir haben noch keine Lösung für „islamistischer Terror“ – wie sollen wir zutreffend Mörder und Kriminelle bezeichnen, die im selbsternannten Auftrag für eine von ihnen verhaftete Religion Leid über Menschen bringen. Haben Sie eine Idee? Helfen Sie uns! Kommentieren Sie, emailen Sie uns. Rufen Sie an. Wenn Sie konkrete Vorschläge haben.
Sippenhaft ist archaisch
Wie verhindert man, eine Religionsgemeinschaft, die sich aus sehr, sehr vielen Gemeinschaften mit Bezug auf eine Religion bezieht, in „Sippenhaft“ zu nehmen? Das ist eine sehr schwere Frage, die uns noch niemand beantworten konnte.
Wie verantwortlich darf man Menschen dieser Religionsgemeinschaften für Taten von Verbrechern machen? Eigentlich haben wir eine einfache Antwort: Gar nicht, wenn diese Menschen nichts mit den Verbrechern zu tun haben.
Schwierige Praxis
Tatsächlich ist das in der Praxis schwierig, wenn man feststellt, dass es parallele Netzwerke gibt, die diese, wenn auch nur „moralisch“ stützen. Auch hier ist eine gesellschaftliche Debatte übernotwendig – wie selbstverständlich gehören Menschen, die zum „Islam“ gezählt werden, zur deutschen Gesellschaft? Wie selbstverständlich werden sie gehört und anerkannt? Wie selbstverständlich wird ihnen vertraut? Wie selbstverständlich vertrauen wir diesen Menschen?
Alle, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigen – und das ist unser redaktionelles Selbstverständis – können darauf klare Antworten geben?
Linien als Vorgabe
Als Redaktionsleiter gebe ich meinen Mitarbeitern keine Inhalte vor. Aber Linien. Selbstverständlich muss über Terror berichtet werden – als Verbrechen. Terror darf aber niemals Anlass sein, Aufmerksamkeit zu heischen. Terroristen sind klar als Verbrecher und Mörder zu benennen.
Und zunehmender Terror muss als das gewertet werden, was er erzeugen will. Es handelt sich um eine Form von asymmetrischem Krieg.
Wenn Spiegel online oder andere Medien meinen, sie müssten den „IS“ oder „Daesh“ oder Putin oder sonstwen je nach Laune hoch oder niederschreiben, dann trifft dort eine Redaktion ihre Entscheidung, wie man die Leser vernünftig informieren will.
Tatsache ist, dass es eine Vielzahl von Terrororganisationen gibt – den rechten, deutschen Terror eingeschlossen.
Journalismus muss ordentlich informieren und keine Show liefern
Aufgabe von Journalismus muss es sein – das hat mir damals die Konferenz mit Kollegen und Experten bestätigt -, die Menschen ordentlich zu informieren und dabei höchste Qualitätsmaßstäbe anzusetzen.
Sensationslust und Effekthascherei hat nichts mit Qualität zu tun – wenn Medien symbiotisch mit Terror werden, sind sie selbst Terror.
Seriöse Information kann sich immer von der „Faszination“ des Terros abwenden – zum Beispiel durch Berichterstattungspausen, bis man valide, vernünftige Informationen zusammengetragen hat und diese verantwortlich berichten kann.
Menschlich, vernünftig, verantwortlich – alles genau alles das, was dem Terror wesensfremd ist.
Leider – und das fällt mir sehr, sehr negativ auf – gibt es weder eine gesellschaftliche, noch eine journalistische Debatte über die Symbiose zwischen Terror und Medienberichterstattung.
Meiner Meinung nach versagen insbesondere große Medien hier vollständig. Sie werden zunehmend symbiotisch abhängig von der Terror-Aufmerksamkeit.
Wenn der Terror am Ende gewinnt, haben wir alle verloren.
Wir haben eine Frage an Sie, wenn Sie den Text gelesen haben:
Hätten Sie diesen Text schreiben können? Hat dieser Text Sie nachdenklich gemacht? Haben Sie verstanden, wie schwierig es ist, zwischen einfachen und verantwortlichen Darstellungen zu entscheiden? Freuen Sie sich über die Anregung, darüber nachzudenken, wie wir und andere berichten? Bereichert das Ihren Weg zu einer Meinungsbildung, auch wenn Sie vielleicht nicht mit allem einverstanden sind?
Wenn Sie mit diesen Fragen etwas anfangen können, haben wir Sie erreicht – und das freut uns sehr. Wir möchten aber auch darauf hinweisen, dass wir vom „uns Freuen“ nicht leben können. Dieser Text ist harte Arbeit und der Inhalt ist über 25 Berufsjahre entwickelt. Wir freuen uns sehr, wenn Sie unsere Arbeit unterstützen – als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für informativen, hintergründigen Journalismus. Hier geht es zum Förderkreis.