Nizza/Berlin/Rhein-Neckar, 15. Juli 2016. (red/ms) Über 80 Menschen haben verschiedenen Medienberichten zufolge gestern Abend in Nizza ihr Leben verloren, als ein LKW in eine Menschenmenge gefahren ist. Nach aktuellen Umfragen hat die deutsche Bevölkerung vor nichts mehr Angst als vor Terrorismus. Gleichzeitig warnt der Verfassungsschutz: „Die Zahl der Gefährder ist so hoch wie nie.“ Und diese leben auch in Mannheim und Umgebung.
Von Minh Schredle
Wenige Details erscheinen aktuell wirklich gesichert. Am 14. Juli – dem französischen Nationalfeiertag – soll gegen 22:30 Uhr ein weißer LKW in eine Menschenmenge in Nizza gefahren sein und dabei mindestens 84 Menschen verletzt haben, wie verschiedene Medien berichten und sich dabei auf französische Behörden und Medien beziehen.
Der Fahrer soll schließlich bei einem Feuergefecht von der Polizei getötet worden sein. Im Lkw habe man Dokumente und Fahrzeugpapiere eines 31-jährigen Tunesiers gefunden, der laut verschiedenen Medienberichten bereits polizeibekannt gewesen sei – allerdings nicht im Zusammenhang mit Terrorismus oder Islamismus.
Falschmeldungen im Umlauf
Nach aktuellen Meldungen soll die Identität des Täters inzwischen bestätigt worden sein. Aktuell hat sich noch keine terroristische Vereinigung zu dem Massenmord bekannt.
Mehrere Medien berichten von einem Augenzeugen, der den Täter „Allahu akbar“ rufen gehört haben soll und berufen sich dabei auf die lokale Zeitung „Nice Matin“ – eine Recherche des Debattenblatts Cicero zeigt, dass es sich dabei um eine Falschmeldung handelt. Die Lokalzeitung habe gar nicht entsprechend berichtet, die Information sei eine reine Spekulation.
Zu den Hintergründen ist aktuell also nur wenig bekannt. Ob eine terroristische Vereinigung hinter dem Massenmord steht, ist unklar. Ebenso sehr kann aktuell nicht seriös beurteilt werden, ob eine vermeintlich religiöse Motivation als Vorwand für die Bluttat angegeben worden sein soll.
Angst vor Terrorismus nimmt dramatisch zu

Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière. Foto: MC1 Chad J. Diese Datei wurde von diesem Werk abgeleitet 120216-D-TT977-152.jpg:, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35364217
Unabhängig davon fand in Frankreich seit dem vergangenem Januar und dem Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo eine Reihe von Anschlägen statt, bei denen insgesamt mehrere hundert Menschen ihr Leben verloren haben. Dabei handelte es sich um jeweils völlig unkalkulierbare Angriffe, die zum Großteil mitten in der Öffentlichkeit stattfanden. Die Opfer sind so genannte „weiche Ziele“.
Tatsächlich ist die Gefahr für den Einzelnen, zum Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, verschwindend gering – doch die Unberechenbarkeit und die Brutalität der Anschläge beschädigen das Sicherheitsempfinden. Nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa.
Nach einer aktuellen Studie der R+V haben die Deutschen inzwischen vor nichts mehr Angst als vor Terrorismus. 73 Prozent der Befragten gaben an, sich davor zu fürchten – gegenüber dem Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von 21 Prozentpunkten. Damit wurde ein Rekordwert erreicht – selbst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gaben „nur“ 58 Prozent an, Angst vor Terrorismus zu haben.
„Die größte Bedrohung für unsere freien Gesellschaften“
Nach dem aktuellen Anschlag dürften sich diese Ängste – unabhängig davon, wer konkret dafür verantwortlich ist – weiter verschlimmern. Ende Juni wurde der diesjährige Verfassungsschutzbericht vorgestellt. Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière kommt darin zu der Einschätzung:
Die unverändert größte Bedrohung für unsere freien Gesellschaften stellt aktuell der international agierende islamistische Terrorismus dar. (…) Auch Deutschland ist und bleibt im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus.
Das deutsche militärische Engagement in Syrien/im Irak stelle nach Beurteilung des Verfassungsschutz‘ „bereits ein hinreichendes Argument für den IS dar, um die Anwendung von Gewalt gegen deutsche Interessen zu legitimieren“:
Insgesamt bleibt festzustellen, dass Europa einen gemeinsamen Gefahrenraum bildet. Die Anschläge in Frankreich und anderen europäischen Staaten in der jüngsten Vergangenheit belegen die Gefahr islamistischer Terrorakte. Es ist davon auszugehen, dass der IS Pläne für weitere Anschläge in Europa, und damit auch in Deutschland, verfolgt. Es besteht daher grundsätzlich eine erhöhte Gefährdung für Deutschland.
Laut Verfassungsschutz sei außerdem davon auszugehen, dass angesichts der Zuwanderungsbewegungen nach Deutschland „unter den Flüchtlingen auch aktive und ehemalige Mitglieder, Unterstützer und Sympathisanten terroristischer Organisationen (…) sowie Einzelpersonen mit extremistischer Gesinnung und/oder islamistisch motivierte Kriegsverbrecher befinden können“:
Die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder erhielten in diesem Zusammenhang Hinweise im unteren dreistelligen Bereich auf derartige Personen.
Den deutschen Sicherheitsbehörden lägen Einzelhinweise auf „ein gezieltes, beziehungsweise organisiertes Einschleusen von Mitgliedern oder Unterstützern terroristischer Organisationen im Flüchtlingsstrom mit dem Ziel der Begehung von Anschlägen in Deutschland“ vor. Bislang haben sich diese Einzelhinweise nicht bestätigt, heißt es außerdem. Das bedeutet im Klartext: Entweder sind die Hinweise falsch – oder die Behörden tappen im Dunkeln.
Anknüpfungspunkt Antisemitismus
Die größte Bedrohung wird seitens des Verfassungsschutz‘ derzeit im Daesh („Islamischer Staat“, IS) gesehen. Es sei davon auszugehen, dass der „IS Pläne für weitere Anschläge in Europa, und damit auch in Deutschland“, verfolge. Unter Flüchtlingen sollen offenbar weitere Unterstützer angeworben werden:
Mit dem Strom der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak wittern islamistische Organisationen in Deutschland die Chance, ihre Anhängerschaft zu vergrößern, indem sie versuchen, Flüchtlinge unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe für ihre extremistische Ideologie zu gewinnen. Diese Bestrebungen werden andauern.
Anknüpfungspunkt könne dabei „der Antisemitismus sein, der nicht nur integraler Bestandteil aller Erscheinungsformen des Islamismus ist, sondern generell geeignet ist, latent vorhandene, antisemitische Ressentiments bei vielen Muslimen, zumal in orientalischen Ländern, zu verstärken“. (Anm. d. Red.: Der Verfassungsschutz beobachtet auch Extremismus und Rassismus unter Ausländern in Deutschland – bislang ist dieses Thema in der öffentlichen Debatte kaum präsent, wir werden in der kommenden Woche berichten.)

Ausschnitt aus einem Daesh-Propagandavideo. Gefangene werden von Terroristen erschossen.
Gefahrenpotenzial ist nicht benennbar
Wie groß die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland tatsächlich ist, lässt sich kaum abschätzen. Der Öffentlichkeit liegen dazu keine belastbaren Informationen vor. Im Verfassungsschutzbericht heißt es:
Zu mehreren der bundesweit aktiven islamistischen Organisationen beziehungsweise Gruppierungen liegen keine gesicherten Anhängerzahlen vor, sodass ein umfassendes Personenpotenzial der Islamisten in Deutschland nicht ausgewiesen werden kann.
Nach Erfahrungen der Redaktion gestalten sich Ermittlungen im Umfeld islamistischer Extremisten als schwierig – verdeckte Ermittler lassen sich nur mit deutlich größeren Problemen in verdächtige Kreise einschleusen als etwa in politische Parteien.
„absichtlich herbeigeführte Verkehrsunfälle“
Gefährlich wird der Terrorismus aber auch unter anderem dadurch, dass schon Einzeltäter oder kleine Gruppen enorme Schäden verursachen können, denen hunderte Menschenleben zum Opfer fallen. Im Bericht heißt es:
Der IS ruft seine Anhänger in westlichen Staaten dazu auf, dort in eigener Regie Anschläge zu planen und zu verüben. In der Propaganda wird besonders für Angriffe geworben, die ohne großen logistischen Aufwand durchgeführt werden können, wie zum Beispiel Messerattacken, Brandanschläge oder absichtlich herbeigeführte Verkehrsunfälle.
Wie bereits betont: Zu dem aktuellen Vorfall in Nizza liegen aktuell keine gesicherten Informationen zu den Hintergründen des Täters vor – ein „absichtlich herbeigeführter Verkehrsunfall“ würde allerdings ins Muster von Daesh passen.
„Zahl der Gefährder hoch wie nie“
Die gegenwärtige terroristische Bedrohung stellt nicht nur Sicherheitsbehörden, sondern auch die Medien vor eine große Herausforderung. Denn einerseits wäre es hochgradig verantwortungslos die bestehende Gefahrenlage in irgendeiner Form zu verharmlosen – Ende Juni schreiben Innenministerium und Verfassungsschutz:
Die Zahl der Gefährder ist so hoch wie nie.
Von daher kann keine Entwarnung gegeben werden. Es ist nicht auszuschließen, dass es auch in Deutschland in den kommenden Monaten zu Anschlägen kommen wird. Gleichzeitig muss immer wieder betont werden, dass die Bedrohung für den Einzelnen verschwindend gering ist. Wie vielen diese Tatsache die Sorge nehmen können wird, ist allerdings fraglich.
Gefährdung für die Region?
Auch in unserem Raum sind bereits mehrere bedenkliche Fälle bekannt geworden. Ein 15-Jähriger aus Mannheim hatte 2015 angekündigt, in den Dschihad ziehen zu wollen. Das Verfahren wurde im Februar 2016 eingestellt, weil der Jugendliche noch keine konkreten Handlungen vollzogen hatte – danach wurde er den Jugendbehörden überstellt.
Ende 2014 hatten wir exklusiv berichtet, dass zwei Personen aus Mannheim sich Daesh angeschlossen haben – die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Karlsruhe ermittelt bis heute gegen die beiden Personen: „Die Fälle sind noch offen und werden von uns sehr ernst genommen“, hieß es heute auf Nachfrage.
Anfang Juni wurde bekannt, dass drei Personen verhaftet worden sind, die unter Terrorismusverdacht stehen – einer davon lebte als Asylbewerber in Leimen.
In Mannheim selbst werden verschiedene Moscheen, darunter solche von Salafisten, vom Verfassungsschutz sehr genau beobachtet.
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