Rhein-Neckar, 13. Juni 2017. (red/pro) Der jüngste Terroranschlag in London hat mindestens sieben Todesopfer gefordert, weitere 50 Menschen wurden teils schwer verletzt, rund 20 schwebten noch Tage später in Lebensgefahr. Drei Männer richteten innerhalb von nur acht Minuten ein Massaker an, bis sie von Einsatzkräften erschossen wurden. Die Zahl terroristischer Messerattacken steigt. Wir haben mit einem Experten gesprochen, der erklärt, wie tödlich Messer als Waffe sind und welche Chancen man selbst bei einer Attacke hat. Ernüchternd: So gut wie keine. Außer, man weiß, wie zu kämpfen ist und hat im Idealfall selbst ein möglichst langes, scharfes Messer. Roberto Laura ist ein “Maestro” im traditionellen italienischen Messerkampf.
Interview: Hardy Prothmann
Herr Laura, Sie gelten als Kapazität im “traditionellen italienischen Messerkampf” und lehren diese eher unbekannte Kampftechnik. Was ist das genau?
Roberto Laura: Es handelt sich dabei um Waffenschulen des Volkes aus dem 18./19. Jahrhundert, die zum Großteil in Mittel- und Süditalien angesiedelt waren. Ursprünglich stammten sie von Fuhrleuten, Fischern und Bauern, die sich durch Verwendung dieser Techniken und Taktiken vor Überfällen seitens Banditen schützen wollten.
Die verwendeten Waffen waren beziehungsweise sind vornehmlich der Hirtenstock und das Messer. Aber auch das Rasiermesser sowie flexible Waffen fanden Anwendung. Ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts gelangten diese Künste verstärkt in die kriminellen Clans – Mafia, Camorra und ‘Ndrangheta – und wurden somit Teil dieser Subkultur. Aufgrund der innerhalb der organisierten Gesellschaften traditionell ausgetragenen Konventionsduelle hat die italienische Tradition des Messerkampfes bis heute überleben können.
Der Angreifer hat den Vorteil auf seiner Seite
Aus Ihrer Expertensicht: Welche Chance haben ein normaler Bürger, ein trainierter Kampfsportler, ein muskulöser Mensch, ein Polizeibeamter gegen einen Messerangreifer, der ein Messer als tödliche Waffe einsetzen will?
Laura: Grundsätzlich gilt, dass man schon aus Selbstachtung das eigene Leben nicht allzu schnell aufgeben sollte. Andererseits muss es jedem klar sein, dass der Angreifer alleine durch den Einsatz einer letalen Waffe den Vorteil auf seiner Seite hat. Ferner befinden sich die Intentionen nicht im Gleichgewicht: Während der Verteidiger lediglich versucht, zu überleben, will der Aggressor das Leben des ausgesuchten Opfers ausschalten. Der psychologische Vorteil des bewaffneten Angreifers kommt erschwerend hinzu: Mit einem Messer bewaffnet reicht es, nah genug an das Opfer heranzukommen, und ein einziger gut platzierter Treffer kann bereits den Tod herbeiführen. Der Verteidiger weiß das auch, und entsprechend groß ist unter diesen Umständen dessen Furcht. Zum Teil kann die Angst, das Leben zu verlieren, derart groß sein, dass das Opfer in Angststarre verfällt.
Das Üben waffenloser Techniken gegen Messerangriffe führt ins Verderben
Je trainierter man ist, beziehungsweise je öfter man ähnliche Gewaltsituationen durchlebt hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, instinktiv besser zu reagieren. Training spielt demnach eine wichtige Rolle. Jedoch ist es entscheidend, was man trainiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern der Kampfkunst oder Selbstverteidigung bin ich der Ansicht, dass gerade das Üben waffenloser Verteidigungstechniken gegen Messerangriffe ins Verderben führen kann. Es ist ja schon schwer genug, sich in einem Messerkampf zu behaupten, verfügt man selbst über eine entsprechende Klingenwaffe. Ungleich schwerer ist es, hält man nichts in den Händen.
Polizeibeamte verfügen hingegen über Schutzwesten und Schusswaffen. Dadurch ist unter Umständen eine Kompensation möglich. Jedoch wäre aus meiner Sicht trotzdem ein spezifisches Messertraining erforderlich, um diesbezüglich die Affinität und somit auch das Bewusstsein zu erhöhen und die Aufmerksamkeit zu verbessern. Entsprechend zählen zu meinen Schülern auch Polizeibeamte.
Eine falsche Einschätzung führt unweigerlich zum Tod
Sind die Erfolgsaussichten besser, wenn man selbst ein Messer hat – oder wie Sie damit im Kampf sogar umgehen kann?
Laura: Genau darauf haben sich meine letzen zwei Aussagen bezogen. Verfügt der Gegner über eine tödliche Waffe, ist die taktisch beste Vorgehensweise diejenige, selbst über eine effizientere Waffe zu verfügen. Ist das nicht möglich, sollte einem zumindest eine ungefähr gleichwertige Waffe zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass ebenfalls die Handhabung dieser Waffe beherrscht werden sollte. Ansonsten schätzt man gegebenenfalls Situationen falsch ein, was bei einem Messerkampf unweigerlich zum Tod führen kann.
Ist die Beschaffenheit des Messers entscheidend für dessen tödliche Handhabung? Also ein langes oder doppelt geschliffenes Messer gefährlicher als ein kurzes? Können Sie eine Rangfolge der besonders gefährlichen Messer aufstellen?
Laura: Alle Messerattacken, oder besser, alle Angriffe mit Stich- und Schnittwaffen, die in den letzten Monaten stattgefunden haben, wurden fast ausschließlich mit großen Küchenmessern, Macheten oder gar mit Beilen und Äxten ausgeführt; gelegentlich wurden auch zwei Waffen zeitgleich eingesetzt. Der Grund dafür ist einmal, dass die Täter wissen, dass eine entsprechend große Waffe schwerer abzuwehren ist als eine kleine. Ferner wissen sie auch, dass die Wunden, die eine große Stichwaffe erzeugt, in der Regel eher zum Tod des Opfers führen als die Wunden eines kleinen Taschenmessers zum Beispiel. Und sollte das angehende Opfer ebenfalls über ein Messer verfügen, erhöht sich für den Täter, je länger seine Waffe ist, sein Vorteil hinsichtlich der Reichweite.
Je länger die Waffe, desto größer der Vorteil
Wenn diese Faktoren für den Täter die erwähnten Vorteile bieten, verhält es sich für den Verteidiger folgerichtig gleich. Je länger, schärfer und spitzer das eigene Messer ist, desto besser kann man sich damit verteidigen, auch gegen mehrere Angreifer. Im Süditalien des 19. Jahrhunderts reichte die Länge eines Kampfmessers von rund 32 bis über 70 Zentimeter, und es verfügte stets über mindestens eine Schneide und eine halbe. Darüber sollte nachgedacht werden.
Die drei ausführenden terroristischen Attentäter von London haben in nur acht Minuten sieben Menschen getötet und 50 Menschen verletzt, 20 davon lebensgefährlich. Ohne dass wir die grausigen Details wissen – was meinen Sie: Haben die Attentäter dafür trainiert oder reicht es, sich wie auch immer in Rage zu bringen, um ein solches Gemetzel durchzuführen?
Selbstverständlich bereiten sich Attentäter vor
Laura: Die Motivation, andere Menschen zu töten, ist schwer nachzuvollziehen. Diese Schreckenstaten resultieren zumeist aus ideologischer Überzeugung, möglicherweise sogar aus einer Psychose heraus. Wut und Rage, all das spielt natürlich eine große Rolle. Und selbstverständlich bereiten sich Attentäter auf einen Anschlag vor. Ich gehe stark davon aus, dass ein Mensch, der vorhat, mit einem Messer dutzende andere Menschen umzubringen, sich zuvor nicht nur Gedanken macht, wie man ein Messer entsprechend einsetzen könnte. Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass diese Leute gezielt üben, aus dem Hinterhalt anzugreifen sowie als Gruppe zu agieren.
Messerangriffe gibt es zunehmend, ob in Hannover oder Ludwigshafen auf Polizeibeamte oder bei Streitigkeiten zwischen Personengruppen wie vor der H4-Wache in Mannheim, wo ein junger Mann mit einem Stich in die Lunge tödlich verletzt worden ist. Gibt es Ihrer Sicht irgendwelche Schutzmöglichkeiten?
Laura: Optimal wäre selbstverständlich der Schutz seitens des Staates samt seiner Organe, da dieser über das Gewaltmonopol verfügt. Nur können Polizisten leider nicht immer und überall im richtigen Moment präsent sein. Das ist nicht möglich, da die Mannstärke schlicht nicht vorhanden ist. Ergo wären ein wachsamer Geist sowie das Meiden bestimmter Gebiete wie auch das Fernbleiben von Massenveranstaltungen Optionen. Das aber käme einem Leben im Falschen gleich. Was also ist zu tun? Der beste Schutz gegen Messerangriffe, will man sich gesellschaftlich nicht isolieren, sind der Wille und die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen. Und hier beziehe ich mich auf eine spezialisierte Form der Selbstverteidigung, die sich primär mit dem Messerkampf beschäftigt.
Der beste Schutz gegen Angreifer sind der Wille und die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen
Um sich also gegen einen Messerkämpfer schützen zu können, muss man folglich selbst zum Messerkämpfer werden. Zudem schult die Messerführung die Fähigkeit, Alltagsgegenstände, wie beispielsweise einen Regenschirm, ein Glas, eine Schere oder den Hosengürtel, ein Steakmesser im Restaurant, eine Gabel, einen Stuhl sowie eine Tischdecke, die man sich zum Schutz um den Arm wickeln kann, oder auch den Hausschlüssel entsprechen fechterisch einzusetzen. Und ist keine Hilfe seitens der Polizei oder unserer Mitbürger zu erwarten, muss man entweder konsequent wegrennen oder mit allen Mitteln kämpfen. Dazwischen gibt es nichts. Alles Weitere entscheidet Fortuna.
Wenn wir Sie zusammenfassend richtig verstanden haben, können alle Arten von Hieb- und Stichwaffen potenziell tödlich sein. Die Psychologie spielt eine enorm wichtige Rolle. Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie ohne eine Verteidigungswaffe in eine solche Situation geraten würden?
Laura: Bereits beim Verdacht, es könnte zu einer körperlichen Konfrontation kommen, muss man einen Abstand zwischen sich und dem Gegner schaffen. Taktisch muss man stets vom Schlimmsten ausgehen, also von der Stichwaffe in der nahen Distanz. Bevor man jetzt an Verteidigungs- oder gar selbstmörderische Entwaffnungstechniken denkt, ist es wichtig, in der Lage zu sein, den erzielten Abstand zum Gegner so gut es geht aufrecht zu erhalten.
Abstand ist die wichtigste Taktik
Unsere Traditionen verfügen auch über Ausweichbewegungen, die vor allem dann von Nöten sind, wenn der Gegner auch nach uns schneidet. Sofern vorhanden, sollte man sich zum Schutz besser eine Jacke um einen Arm wickeln oder auch den Hosengürtel als flexible Waffe einsetzen. Aber auch die Jacke kann als flexible Waffe geführt werden. Für all das gibt es innerhalb unserer Traditionen kurze, doch präzise Methoden des Kampfes. Gelingt es dann dem Angreifer die Distanz zu überbrücken und in den Nahkampf zu gelangen, muss versucht werden, sofort wieder den Abstand herzustellen. Hierfür ist das Brechen des gegnerischen Gleichgewichts eine der besten Vorgehensweisen.
Der Vorteil liegt jedoch bei dem Mann mit dem Messer. Über ein probates Mittel, um sich waffenlos gegen Messerangriffe zu verteidigen, verfügt keine Kampfkunst. Entwaffnungsversuche sollten unterlassen werden, will man nicht sterben. Die beste Verteidigung ist immer noch, selbst über eine gleichwertige Waffe zu verfügen und mit dieser auch umgehen zu können. Wer etwas anderes behauptet, hat in der Sache keine Ahnung.
Und interessehalber: Gibt es in Italien immer noch verabredete Messerduelle in “gewissen Kreisen”?
Laura: Heutzutage werden Duelle nur noch mit sehr strenger Konvention ausgetragen und auch nur zum sportlichen Vergleich. Es gibt diverse Methoden: Man verwendet zum Beispiel 30 bis 50 Zentimeter kurze Stöcke, je nach Region, deren Spitzen abgeflacht werden, um dann einen Nagel reinzuschlagen. Der Nagel wird anschließend auf 1 bis in etwa 2 Zentimeter abgekniffen. Es verliert dann derjenige, der zuerst blutet. Das Gesicht zählt nicht als Trefferfläche.
Gleich verfährt man auch mit echten Messern, deren Klingen entweder mit einem Metalldraht oder mit einer robusten Kordel umwickelt werden. Lediglich 0,5 bis 1 Zentimeter Spitze bleiben frei.
Zur Person:
Roberto Laura wurde 1969 in Sanremo, Italien, geboren. Im Jahr 1975 kam er mit seinen Eltern nach Deutschland. Nach diversen Erfahrungen mit der Kampfkunst widmet er sich 2001 dem Studium der traditionellen italienischen Fechtkünsten des Volkes mit Messer und Stock. Er unterrichtet das Traditional Italian Knife Fighting (TIKF) in Neckarsulm wie auch auf Seminaren national und international.
Ferner ist Roberto Laura als Autor tätig. Im Jahr 2015 hat er ein 672 Seiten umfangreiches Werk zum Thema Messerkampf herausgebracht: >>Das Schwert des Volkes: Geschichte, Kultur und Methodik des traditionellen italienischen Messerkampfes<< (ISBN: 978-3-7323-5244-9). Voraussichtlich noch dieses Jahr erscheint sein nächstes Buch: >>Dialoghi – Eine philosophische Betrachtung des italienischen Messerkampfes sowie Gedanken zur Selbstverteidigung mit der kurzen Klinge<<.