Mannheim/Rhein-Neckar, 06. September 2014. (red/pro) Aktualisiert. Ein Mensch wurde am späten Donnerstagabend umgebracht. Vor einer Polizeiwache in der Innenstadt. Mit einem Messer. Noch bevor nachprüfbare Informationen vorliegen, kochen die Gerüchte hoch. Über “Social Media”. Die “Presse” greift das auf, dramatisiert und boulevardisiert die “Bluttat”. Bezieht sich auf “Kommentare bei Facebook” und “Medienberichte”. Was nicht thematisiert wird, ist die eigene, erbärmliche Verantwortungslosigkeit.
Von Hardy Prothmann
Sehr viele, sogar sehr, sehr viele Kommentare, die ich auf den Facebook-Seiten des Mannheimer Morgens (MM) und von Mannheim24.de (M24) (einem neuen Boulevard-Portal der Zeitung lesen muss), verschlagen mir die Sprache. Nicht, was ich lese, macht mich fassungslos. Sondern, dass ich das dort lesen kann oder muss. Auf redaktionellen Seiten und nicht auf einer Klo-Wand.
Dass sich der Mob zu sonstwelchen Äußerungen hinreißen lässt, insbesondere im Internet, mit gefälschten Accounts, Fantasie-Namen – das ist heutzutage eine Binse. Aber dass angeblich seriöse Medien nicht eingreifen und Hetzern, Rechtsradikalen, Gewaltfantasten und insgesamt sehr, sehr dummen Menschen ein Podium bieten, um ihren Schmutz und Hass abzuladen, ist keine beängstigende Entwicklung, sondern eine ganz und gar fürchterliche.
MM und M24 geben dem Mob freien Lauf
Der Mannheimer Morgen und seine neue Boulevard-Tochter Mannheim24.de haben keine Scheu, noch die abstrusesten, widerlichsten Äußerungen des Mobs zuzulassen. Hauptsache, die Aufmerksamkeitsmaschine brummt und die Zahl der Kommentare wäschst und wächst. Denn nur dann fühlt man sich anscheinend in den Redaktionen lebendig: “Boah eh, haste das gelesen, die sind ja vollkommen durchgedreht und krank, aber guck mal, die Zugriffszahlen, wie geil, die Zugriffszahlen, wie die abgehen, sehr geil, sehr geil.”
Ich behaupte nicht, dass ich eine bestimmte Person in einer der Redaktionen zitiere. Aber ich weiß, wie sie denken. Reichweite steht vor jeder Moral. Zugriffe rechtfertigen heutzutage alles – nicht fast alles, sondern tatsächlich alles. Zumindest bei Zeitungen, denen Abos und Leser in ungekanntem Maße wegbrechen – zur Rettung greift man nach jedem Mittel. Der MM schreibt “nach Medienberichten” und in “sozialen Netzwerken” würden “Vorwürfe” gegen die Polizei laut: Dass vor allem der MM-Ableger Mannheim24.de als “Medium” das behauptet und dass vor allem auf den Facebook-Seiten von MM und Mannheim24.de diese (zum aktuellen Stand) abstrusen Vorwürfe auftauchen – das erwähnt man aus gutem Grund nicht.
Insbesondere die Blut-und-Sperma-Schleuder Mannheim24.de ist vollständig enthemmt. Noch bevor auch nur ansatzweise ermittelte Fakten durch die Ermittlungsbehörden vorliegen oder sorgfältig journalistisch überprüfte Informationen, wird ein Szenario aufgebaut, das in etwas so geht: Im türkischen Milieu gibt es Streit, der eskaliert, es kommt zu einem Tötungsdelikt, direkt vor einem Polizeirevier und dann die vernichtende Frage:
Viele offene Fragen nach der schrecklichen Bluttat in den Quadraten. Haben die Beamten dem jungen Mann und seinem Vater die Hilfe verweigert?
Mannheim24.de veröffentlicht einen Bericht mit dieser Bildunterschrift um 08:29 Uhr am Freitagmorgen. Nach 23 Uhr am Donnerstagabend ereignete sich das Tötungsdelikt. Dann wurde abgesperrt und die Ermittlungen liefen an. Mannheim24.de weiß:
Dramatische Szenen direkt vor dem Polizeirevier im Quadrat H 4! Bei einer Messerattacke auf einen 20-jährigen Mann stirbt dieser noch vor den Türen der Wache – und das, obwohl der Junge dort um Hilfe fleht.
Was der “Hammer” ist
Hier steht kein Konjunktiv, hier gibt es keinen Zweifel: “So war das.” Es geht weiter im Text:
Die Station wurde zu diesem Zeitpunkt wohl von zwei Beamten besetzt, doch laut Zeugenaussagen dauerte es fast fünf Minuten, bis den beiden panisch nach Hilfe schreienden Männern die Tür geöffnet wurde.
Doch dann der Hammer: Den Zeugenaussagen weiter folgend, soll ein Beamter daraufhin verängstigt die Tür geschlossen haben! Die Vermutung liegt nahe: Wäre den Männern Zutritt gewährt worden, wäre ihnen wohl nichts passiert. Der Polizei Mannheim sind diese Vorwürfe bekannt. Dort bestätigte man MANNHEIM24, dass man diese aktuell prüfe.
Auch das “ein Hammer”. Der Link auf die Zeugenaussagen verweist auf einen Artikel, der laut Zeitstempel um 11:06 Uhr am Freitag erscheint, also gut eineinhalb Stunden später. Wie kommt man eineinhalb Stunden vor einem Bericht über “Zeugenaussagen” auf “Vermutungen”, die “nahe legen”, dass wäre, wenn, dann? Der Polizei sind “diese Vorwürfe” gekannt? Durch wen wurden Sie erhoben? Mannheim24.de? Und gegenüber Mannheim24.de bestätigt die Polizei, dass sie von den Vorwürfen Kenntnis hat? Geht es irrer?
Mannheim24.de “berichtet” weiter:
Der Angreifer – andere Zeuge sprechen von drei Angreifern – soll das 20-jährige Opfer in den Hals gestochen haben – eine tödliche Verletzung.
Bei Mannheim24.de wimmelt es nur so von “Zeugen”. Und noch ein “Hammer”:
Laut Agenturberichten fahndet die Polizei nach den Tätern.
Die Nachrichtenagenturen haben also tatsächlich berichtet, dass die Polizei nach den Tätern fahndet, was man aber noch nicht “überprüfen” konnte, also die Agenturberichte und auch nicht die Fahndungen, deswegen verwendet man ganz seriös das “distanzierende” Wort “laut” für eine unklare Nachrichtenlage.
Unverantwortliche Namensnennung
(Anm. d. Red., 06. September 2014, 22:13 Uhr: Wir haben den Namen des “Zeugen” “geixt”, weil er uns darum gebeten hat. Er war vollkommen entsetzt, wie er in den Medien zitiert worden ist. Er habe deutlich gemacht, dass er nur vom Hörensagen über den Vorgang etwas wüsste und war auch nicht einverstanden, dass man seinen Namen nennt – es ist also genau eingetroffen, was wir vorausgesagt haben, der Mann hat Probleme im Umfeld bekommen, obwohl er dem “freundlichen” Reporter nur helfen wollte.)
Aber Mannheim24.de hat auch “harte Fakten” und nennt “Zeugen” mit vollständigem Namen, zum Beispiel XX, “laut” Mannheim24.de ein “Anwohner”. XX, so erfährt man “laut” Google, könnte Managementchef einer Firma in einem Quadrat in der Nähe sein. Doch weg vom Tatort und da muss er ja nicht wohnen. Ob es aber von Vorteil für Herrn XX sein sollte, mit vollem Namen im Umfeld eines Tötungsdelikts nur wenige Stunden nach der Tat genannt zu werden? Nun, es könnte sich auch um einen anderen XX handeln. “Auffällig” ist nur der ungewöhnliche Name und die unmittelbare Nähe. Und ob Herr XX als “Zeuge” vielleicht in Gefahr sein könnte, weil er offensichtlich mordlustigen Männern, die er auch noch erkannt hat, bei einer Tötung zugeschaut hat – was stört das Mannheim24.de?
Herr XX scheint sich vollkommen unbekümmert gegenüber den “Reportern” geäußert zu haben und sich voll und ganz darauf zu verlassen, dass es überhaupt kein Problem ist, dass er als “Zeuge” von Mannheim24.de benannt wird. Denn Herr XX hat eine interessante “Aussage” gemacht:
Sehr interessant ist auch, dass Herr XX aus dem Schlaf gerissen wurde und sofort die Zusammenhänge erkannt hat. Wo stand er? Am Fenster, auf dem Balkon, der Straße? Angeblich ging der Konflikt nur fünf Minuten, bis es zum Versuch des “Kehle-Schlitzens” kam – Herr XX muss sehr schnell aufwachen können, sich anziehen und Adleraugen haben:
Die über “Zeugen” kolportierten Aussagen von Mannheim24.de wiegen schwer. Danach hätte sich der Beamte mindestens der unterlassenden Hilfeleistung schuldig gemacht – mehr noch, er müsste damit leben, dass er als “Angsthase” die Tötung eines Menschen nicht verhindert habe. Mehr noch, er müsste als Polizist, ausgebildet und bewaffnet, sich sein Leben lang Vorwürfe machen, dass er die Tat noch nicht mal ansatzweise versucht habe, zu verhindern. Wie soll dieser Polizist jemals wieder Dienst machen?
Polizei weist Vorwürfe zurück
Die Mannheimer Polizei muss sich, “laut” der Mannheim24.de-Berichterstattung Fragen gefallen lassen, ob sie überhaupt noch einsatzfähig ist. Ob überhaupt noch irgendetwas funktioniert?
Die Mannheimer Polizei hat auf die “Berichte” reagiert – notgedrungen in einer Pressemitteilung:
“Die in der Zwischenzeit gegen die Polizei erhobene Kritik an ihrem Einschreiten weisen wir zurück.
Klarzustellen ist, dass die Wache des Polizeirevier Mannheim-Innenstadt in der Nacht mit sieben Beamten besetzt war. Zum Zeitpunkt des Ereignisses waren drei Streifenfahrzeuge bei anderen Einsätzen im Revierbereich gebunden, ein Beamter war in der Wache verblieben. Dennoch hat sich der Wachhabende in das Tatgeschehen eingemischt, um die Parteien zu trennen, bevor er weitere Hilfe über die Funkleitzentrale anforderte.
Dem Beamten stellte sich der Tumult vor der Dienststelle zunächst als Schlägerei dar, weshalb er aus dem Fenster sprang um, auch unter Einsatz seiner Hiebwaffe, die Parteien zu trennen. Dabei wurde er selbst angegriffen und gegen ein parkendes Fahrzeug geschleudert. Der Beamte zog sich daraufhin zurück, um seine Schutzweste anzulegen und das Eintreffen der Verstärkung abzuwarten.
Als er kurz darauf wahrnahm, dass vor der Dienststelle eine blutende Person stand, leistete der Beamte, zusammen mit einem Passanten, erste Hilfe bis zum Eintreffen der von ihm angeforderten Rettungskräfte und dem Eintreffen der Polizeikräfte.
Eine Auswertung der elektronischen Einsatzprotokolle hat ergeben, dass zwischen der Alarmierung und dem Eintreffen der insgesamt vier Streifenwagen anderer Dienststellen nicht mehr als 5 Minuten verstrichen.”
Anders, als bei Mannheim24.de zu lesen ist, war also nur ein Beamter auf der Wache. Keine Beamtin. Der Beamte hat – dafür muss man ihn aus polizeitaktischer Sicht rügen, alleine in einen Streit von sieben Männern eingegriffen – erfolglos und unter Gefahr für sich selbst.
Was sehr erstaunlich ist: Trotz der vielen “Zeugen” von Mannheim24.de gibt es kein einziges Foto der Situation. Heute hat jeder ein Handy mit Fotofunktion dabei. Hat Mannheim24.de auch nur einmal nachgefragt, warum keiner der Zeugen eingegriffen hat? Wer die Räumlichkeit vor Ort kennt, weiß, dass man, um den Eingangsbereich der Wache zu beobachten, in vier-fünf Meter Abstand dort stehen muss. Wie viele Menschen standen da und haben das Tötungsdelikt beobachtet? Wer war so nah dran, um beobachten zu können, dass es ein Stich in den Hals oder der Versuch war, die Kehle aufzuschlitzen? Wie viele der Zeugen haben sich mit ihren Aussagen der Polizei zur Verfügung gestellt?
Toleranz gegenüber dem Mob vs. verantwortliche Berichterstattung
Über solche und andere Fragen berichtet Mannheim24.de nicht. Auch nicht der Mannheimer Morgen. Dafür lassen beide Redaktionen offenbar mit hoher “Toleranzschwelle” widerliche Kommentare zu und ändern die “Verachtsberichterstattung” auch nicht ab.
Beide Redaktionen lassen auf Facebook dem Mob freien Lauf. Verdächtigungen, Diffammierungen – man nimmt alles, was geht. Hauptsache Aufmerksamkeit. Auf Teufel komm raus. Journalistische Sorgfalt und redaktioneller Anstand sind ja sowas von vorvorgestern.
Natürlich stehen viele Fragen im Raum und natürlich muss das Geschehen untersucht, aufgearbeitet und berichtet werden. Es kann sein – das ist nicht auszuschließen bis zum Vorliegen von Fakten -, dass das Verhalten des Beamten nicht einwandfrei war oder sogar schuldhaft. Es kann aber genauso gut sein, dass er sein Möglichstes probiert hat – selbst unter umgehend von Dienstvorschriften. Hätte, hätte, Fahrradkette – erst, wenn nachvollziehbare Fakten recherchiert sind, kann man weitere Aussagen treffen.
Die Aussage kann man aber heute aber schon unumwunden tun: Die Berichterstattung im Mannheimer Morgen und seinem Ableger Mannheim24.de genügt auch nicht ansatzweise journalistischen Standards und ist geeignet, das Vertrauen der Menschen in eine ehrliche Berichterstattung zutiefst zu erschüttern.
Dem realen Totschlag folgt der mediale – gegen die Polizei, möglicherweise für “Zeugen” und ganz bestimmt für einen Journalismus, für den ich mich als Journalist fremdschäme.