Dossenheim/Rhein-Neckar, 07. Juli 2016. (red/pro) Die Messerattacke auf ein sechs Jahre altes Mädchen ist extrem tragisch und verstörend. Wieso hat die 31 Jahre alte Tatverdächtige unvermittelt und offenbar ohne jede Beziehung zu dem Kind dieses von hinten angegriffen und lebensgefährlich verletzt? Niemand weiß das bis jetzt – das hält aber gewisse Medien nicht von extensiver Berichterstattung ab.
Von Hardy Prothmann
„Schrecklich, einfach schrecklich“: Die Kundin am Obststand hat gerade eine Nachbarin getroffen – und sofort sprechen beide über die Bluttat vom Vorabend. „Man kann nirgendwo mehr sicher sein“, raunt ein älterer Mann ihnen kopfschüttelnd zu und läuft weiter zum Brot. Die Messerattacke auf ein sechsjähriges Mädchen in Dossenheim sorgt auch am Vormittag nach dem Geschehen für reichlich Gesprächsstoff.
So beginnt eine aktuelle „Reportage“ im Mannheimer Morgen. Der weitere Text wird die Polizeimeldung aufblähen und den Inhalt mehrfach redundant wiedergeben (man weiß noch nichts über das Motiv), weitere „Stimmen“ präsentieren und keine tatsächlichen Fakten liefern – zum Ende hin kommt der „Schock“ – eine Werbung für Gemüsemesser. Mit einem Gemüsemesser wurde das Kind angegriffen. Kein Kommentar, aber jeder weiß, was diese Information meinen soll.
Schrecklich, schrecklich, schrecklich
Das, liebe Leserinnen und Leser, ist kein Journalismus. Das ist Boulevard. Das ist Aasgeier-Abgraserei. Was sagen Sie dazu? Wie finden Sie das? Was denken Sie dazu? Schrecklich. Schrecklich. Schrecklich.
Ja, es ist schrecklich. Vor allem für das Kind, das eben noch mit der Tante einkaufen ist und im nächsten Moment ein Opfer. Niedergestochen. Hinterrücks. Von einer vermutlich psychisch kranken Tatverdächtigen.
Das Mädchen muss notoperiert werden. Sein Leben ist in Gefahr. Die Ärzte haben gute Arbeit geleistet, das Mädchen ist vermutlich über den Berg – was die Stichwunde angeht. Aber wie wird sie damit fertig? Sie hat niemandem etwas getan und plötzlich war da der Schmerz, die Lebensgefahr, Ärzte, Lichter, niemand, den sie kannte, hilflos ausgeliefert war sie, um gerettet zu werden. Sekunden vorher war sie nur mit der Tante einkaufen und hat sich vielleicht auf ein Süßgebäck gefreut.
Es kommt auf die Perspektive an
Merken Sie den Unterschied in der Perspektive? Während die Reporterin einer Zeitung wildfremde Menschen mit dem Ziel eines „bunten Stimmungsbildes“ befragt, frage ich mich, wie es dem Mädchen ergangen ist, das unvermittelt ein „Opfer“ wurde. Aus heiterem Himmel.
Mir sind der Name und die Adressdaten des Kindes bekannt. Ich rufe die Eltern nicht an. Ich stehe nicht vor dem Haus. Denn ich habe große Ehrfurcht und Respekt vor der Situation dieser Menschen. Vor ihrer Angst. Vor ihrer Hilflosigkeit. Vor ihrer Verzweiflung. Vor ihrer Hoffnung. Vor ihrer Privatsphäre. Vor ihrem Schmerz.
Deswegen hätte ich bei Bild nie Karriere machen können. Dann würde ich anrufen, vor dem Haus stehen.
Und ich weiß, dass kein Artikel heilen kann, was ihnen und vor allem dem Mädchen widerfahren ist. Ich weiß, dass es Ihnen nicht hilft, wenn sich xy im Supermarkt „entsetzt“ äußert. Wie wollen Fremde einschätzen können, wie entsetzt die Eltern, Verwandte und Freunde sind? Wer hat das schon mal erlebt? Niemand!
Ich habe schon oft bei Opfern und Angehörigen gesessen. Sie gefühlt und gehört. Sie können auch nur sagen, dass es schrecklich ist. Unverständlich. Die meisten sind sehr bescheiden und fordern niemals „Höchststrafen“, sondern wären froh, dass die aktuelle Strafe sie nicht getroffen hätte.
Kein Mensch mit Herz ist nicht entsetzt – was soll diese Reportage?
Was soll so eine „Reportage“? Was klärt sie auf? Welchen Erkenntnisgewinn haben Leserinnen und Leser davon? Kein Mensch, der ein Herz hat, ist nicht entsetzt über diesen Angriff auf ein wehrloses Menschlein. Niemand kann das verstehen.
Müssen wir die „Kollegen“ kritisieren? Ja. Es sind keine Kollegen. Wir arbeiten nicht mit dem MM zusammen und halten keine professionellen Kontakte. Wir beobachten und kritisieren ein Produkt, das sich Zeitung nennt und vermeintlich seriöse Informationen anbietet. Die Zeitung darf auch uns kritisieren, wenn sie denkt, dass das wichtig für ihre Kunden ist.
Wir haben auf eine solche „Reportage“ verzichtet. Es interessiert uns nicht, ob Gerda Müller oder Bernd Schuster „entsetzt“ sind. Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch darüber entsetzt ist, wenn ein kleines Mädchen Opfer einer Messerattacke wird. Dazu müssen wir keine „Stimmen einfangen“.
Es mag sein, dass Gemüsemesser beworben werden. Das ist auch vollkommen ok. Gute Gemüsemesser sind ein Segen in der Küche. Jedes Messer, das ein gutes Werkzeug ist, kann eine Waffe werden. Auch eine Schere oder eine Stricknadel. Was will diese Reportage vermitteln? Sollen sich Gemüsemesser-Produzenten entschuldigen? Eine Gedenkfeier für Opfer von Gemüsemessern veranstalten? Eine Debatte über das Verbot von Gemüsemessern entfachen?
Es ist tragisch – es ist Schicksal- es ist nicht „symptomatisch“
Eine offenbar psychisch kranke Frau hat aus welchen Gründen auch immer das kleine Mädchen angegriffen. Das ist tragisch. Das hat aber nichts mit Gemüsemessern zu tun und auch nicht mit der Gesellschaft. In der Zeit seit 2009, seit wir aktuell aus der Region berichten, ist das der erste Angriff mit einem Gemüsemesser und der erste Angriff einer Frau auf ein Mädchen in einem Supermarkt. Es gibt keine Reihe, kein System – nur einen unglaublichen Vorfall.
Das ist tragisch und traurig. Aber es eignet sich nicht für „Reportagen“ und seltsame „Bilder“. Auch nicht vom „Tatort“ – der Supermarkt kann gar nichts für den Vorfall. Aber das Firmenlogo wird in anderen Medien gezeigt. Warum?
Dieser Vorfall eignet sich nur für eine faktische Information über eine Gewalttat im öffentlichen Raum. Alles weitere, über das Mädchen, das offenbar planlos Opfer wurde, über ihre Familie und die Tatverdächtige ist erstmal privat.
Auch über die Tatverdächtige. Der Ablauf ist so „irre“, dass mehr oder weniger sofort klar war, dass die Tatverdächtige psychische Probleme hat. Erste Reaktionen auf Facebook ergehen sich von lebenslangem Wegsperren bis Folter. Die Wut ist verständlich – die Frage nach Barmherzigkeit muss gestellt werden. Hat diese Frau genau diesem Kind schaden wollen? Oder ist das Kind Opfer eines Menschen, der von was auch immer Opfer ist?
Wie damit umgehen? Wie geht man mit Schicksal um? Ganz schwer und am Besten mit der Einsicht, dass es nichts mit einem selbst zu tun hat, auch, wenn es einen trifft.
Nicht nur als Opfer, sonder auch als mutmaßlichem Täter. Haben alle die, die nach „wegsperren“ und „Zwangsjacke“ und „nie mehr“ rufen, je überlegt, was wäre, wenn sie selbst „irre würden“?
Bewusst und mit Vorsatz und aus Eigennutz hat die Tatverdächtige das Kind vermutlich nicht angegriffen. Es geht nicht darum, die Tatverdächtige zu entschulden. Es geht um die Frage des Warums? Wenn die Tatverdächtige „irre“ ist, dann vermutlich auch das Motiv. Aber Irrsinn ist oft nicht „verantwortlich“, sondern nur irre. Nicht zu verstehen. Irre Täter begehen irre Taten – wie mit ihnen umgehen?
Alles, was öffentlich tatsächlich relevant ist, werden wir berichten, alles andere nicht.
Journalismus stellt Öffentlichkeit her, muss aber auch Privatheit respektieren – daran halten wir uns. Wir informieren Sie darüber, was öffentlich von Relevanz ist. Was Lieschen Müller denkt, darf Frau Müller denken. Für uns ist Frau Müller in diesem Zusammenhang vollständig uninteressant und für eine Berichterstattung zur Meinungsbildung nicht geeignet. Sie darf eine Meinung haben, aber Frau Müller ist für uns kein bedeutender „Fakt“, um die Öffentlichkeit gut zu informieren.
Es wird nicht „immer schlimmer“ – es ist schlimm, wenn das Schicksal so zusticht. Wenn das Opfer erst sechs Jahre alt ist. Die Behörden werden ermitteln, was die Hintergründe sind. Hoffentlich können sie das, um es „verständlich“ zu machen.
Die Tatverdächtige ist übrigens Deutsche. Manchmal muss man das hervorheben, damit nicht andere in Verdacht geraten.
Die Tat passierte öffentlich. Was mich an so manchem Journalismus stört, ist, dass damit jede Privatheit vermeintlich nichts mehr zählt.
Öffentlich interessant ist nur, was für die Öfffentlichkeit wichtig ist. Das ist unsere Haltung.
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