Berlin/Rhein-Neckar, 14. Juli 2016. (red/ms) Deutschland radikalisiert sich – das ist einer der zentralen Befunde des diesjährigen Verfassungsschutzberichts. Auch die rechtsextremistische Szene hat wieder Zulauf. Radikale Positionen finden zunehmend Eingang in die öffentliche Debatte – mit Folgen. Rechtsextreme Gewaltverbrechen nahmen 2015 um 42,2 Prozent zu. Nach Einschätzung von BKA-Präsident Holger Münch beginnt die Radikalisierung bereits mit einer Verrohung der Sprache – die oft über das Internet Verbreitung findet. Daneben ist laut Verfassungsschutz eine zunehmende Akzeptanz von Gewalt und Militanz zu beobachten.
Von Minh Schredle
Der exorbitante Anstieg rechtsextremistischer Gewalt und die zunehmende Anschlussfähigkeit des Rechtsextremismus sind zwei Entwicklungen, die für das Berichtsjahr prägend sind.
Zu dieser Beurteilung kommt das Bundesamt für Verfassungsschutz – und die Zahlen, die im Bericht 2015 vorgelegt werden, geben Anlass zu großer Sorge: 2015 wurden 21.933 Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund erfasst – 2014 waren es dagegen 16.559.
Den größten Anteil machen sogenannte Propagandadelikte aus: In 12.175 Fällen wurden beispielsweise Hakenkreuze zur Schau gestellt oder Hetzschriften verbreitet, deren “Inhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist”.
Doch auch die Gewaltdelikte nahmen zu – signifikant: Die rechtsextremistisch motivierten Gewaltverbrechen nahmen von 990 registrierten Straftaten auf 1.408 im Jahr 2015 zu. Das entspricht einem Anstieg um 42,2 Prozent:
Wie bereits im Vorjahr handelte es sich ganz überwiegend um Körperverletzungsdelikte,
heißt es im Verfassungsschutzbericht. Der größte Anteil dieser Straftaten richtete sich offenbar gegen Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund:
Mit 918 Delikten (2014: 512) nahm die Zahl rechtsextremistischer fremdenfeindlicher Gewalttaten um 79,6 Prozent zu.
Sieben der insgesamt acht versuchten Tötungsdelikte hatten einen fremdenfeindlichen Hintergrund – andere Ziele rechter Gewalt können beispielsweise Journalisten, politische Feinde und (vermeintliche) Linksextremisten sein.
Besorgniserregende Dynamik
Bezogen auf etwa 83 Millionen Einwohner mag die Anzahl von insgesamt 21.933 rechtsextremistischen Delikten noch überschaubar wirken. Doch erfasst jede Statistik nur das Hellfeld – und als politisch motivierte Straftat werden nur diejenigen Fälle erfasst, in denen sich die Beweggründe der Täter eindeutig nachweisen lassen.
Grund zur Sorge bietet die Dynamik, mit der die rechtsextremistisch motivierten Straftaten zunehmen. Denn innerhalb von nur einem Jahr lässt sich hier ein deutlicher Zuwachs verzeichnen, der wohl im Zusammenhang mit den hohen Zugangszahlen von Asylbewerbern ab dem Sommer 2015 steht – insbesondere Flüchtlingsheime gerieten zunehmend ins Visier von Fremdenfeinden:
Der Anteil der Gewalttaten gegen Asylbewerberunterkünfte hat sich mehr als verfünffacht im Jahr 2015 (2014: 25, 2015: 153); die Zahl der Brandanschläge stieg dramatisch auf 75 Delikte (2014: fünf) an.
Neben einem spürbaren Zuwachs der Gewaltkriminalität, der sich offen beobachten lässt, scheint aber auch die Akzeptanz für rechtsradikale Standpunkte und fremdenfeindliche Ideologie deutlich zuzunehmen und findet verstärkt Eingang in öffentliche Debatten. Der Rassismus wird dabei nach Einschätzung des Verfassungsschutz insbesondere durch Anti-Asyl-Agitation befeuert:
In einer tief polarisierten Gesellschaft stehen sich Befürworter und Gegner einer offenen Asylpolitik scheinbar kompromisslos gegenüber. Angst vor sozialer Unsicherheit und einem Staatsversagen sind entscheidende Motive einer kritischen Klientel. Sie werden von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten in Richtung einer fundamentalen Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates gelenkt.
Dadurch werde ein “Nährboden verfassungsfeindlicher Agitation etabliert”. Der Rechtsextremismus gewinne an Anschlussfähigkeit. Dabei sei auch eine “Enttabuisierung rechtsextremistischer Ideologiefragmente” zu beobachten. Die Distanzierung von radikalen Positionierungen schwinde: “Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.”
“Die Wahrheit lesen Sie nur bei uns”
Teilweise gebe es in der rechten Szene eine “breite organisationspolitische Erfahrung” – nicht nur unter Neonazis, sondern auch im rechtspopulistischen und rechtsintellektuellen Spektrum. Eine zentrale Rolle spiele dabei die eigene “alternative Publizistik” – während Medien mit abweichenden Darstellungen systematisch als “Lügenpresse” diffamiert werden.
Nach Einschätzung des Verfassungsschutz’ erhöhe sich damit die Gefahr, dass sich “eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung formt”. Durch das Internet und soziale Netzwerke finden Propaganda und fremdenfeindliche Agitation größere Verbreitung:
Die enthemmte Hetze im Internet kann zu einer individuellen oder kollektiven Radikalisierung führen. Zunächst rein virtuelle Gruppen festigen und radikalisieren sich im Internet, um später Aktionen in der Realwelt durchzuführen.
Aktuell hat das Bundeskriminalamt (BKA) erste Hausdurchsuchungen aufgrund von Hasspostings durchgeführt. Ob “Bedrohung, Nötigung, Erpressung, Verunglimpfung, extremistische Inhalte, die Androhung von Gewalttaten oder der öffentliche Aufruf zu Straftaten” – die Verbreitung über das World Wide Web nehme stetig zu, heißt es in der Meldung zum Großeinsatz:
In einer konzertierten Aktion durchsuchen Polizeibeamte in 14 Bundesländern von mehr als 25 Polizeidienststellen die Wohnräume von circa 60 Beschuldigten.
Am Mittwochmorgen gab es auch in Ludwigshafen und Römerg auf Antrag der Staatsanwaltschaft Frankenthal zwei Wohnungsdurchsuchen gegen Personen, die in einer geschlossenen Facebook-Gruppe “Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen” gepostet haben sollen. Verantwortlich für das Profil dieser Facebookgruppe sind ein 25-jähriger Mann aus Ludwigshafen sowie ein 20-jähriger Mann aus Römerberg. Gegen beide wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen eingeleitet. Der Leitende Staatsanwalt Hubert Ströber sagte auf Anfrage, dass die Landesstaatsanwaltschaften in eigener Verantwortung tätig seien, natürlich auch auf Basis von Erkenntnissen anderer Organisationen.
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) äußerte sich in diesem Zusammenhang, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sei und sich das der Rechtsstaat nicht länger gefallen lassen werde.
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BKA-Präsident Holger Münch kommentiert:
Die Fallzahlen politisch rechts motivierter Hasskriminalität im Internet sind auch im Zuge der europäischen Flüchtlingssituation deutlich gestiegen. Die Hasskriminalität im Netz darf nicht das gesellschaftliche Klima vergiften. Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sind häufig das Ergebnis einer Radikalisierung, die auch in sozialen Netzwerken beginnt. Wir müssen deshalb einer Verrohung der Sprache Einhalt gebieten und strafbare Inhalte im Netz konsequent verfolgen.
Die Aktionen gegen Hasspostings sind nach Einschätzung der Redaktion gut und wichtig – denn wer Hetze verbreitet, muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Es kratzt allerdings nur an der Oberfläche der Problematik des erneut aufkeimenden Rassismus – übrigens ebenso wie ein mögliches NPD-Verbot, über aktuell am Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. Dazu heißt es im Verfassungsschutzbericht klipp und klar:
Die neonazistischen Parteien „Die Rechte“ und „Der III. Weg“, die im Berichtsjahr ihre Strukturen ausbauen konnten, stünden als Auffangbecken für Neonazis bei einem Verbot der NPD zur Verfügung.
Wie etwa die Mitte-Studie der Universität Leipzig zeigt, entstehen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nicht plötzlich und überraschend aus dem Nichts – sie sind schon lange vor dem Flüchtlingszuzug fest in allen Schichten der Gesellschaft verankert.
Der Hass ist tief verwurzelt
Mit einem möglichen Parteiverbot der NPD würde dieses Problem nach Einschätzung der Redaktion keineswegs gelöst werden, sondern höchstens weiter in den Untergrund verdrängt werden. Nach Einschätzung des Verfassungsschutz’ beläuft sich das rechtsextremistische Personenzahl auf etwa 22.600 Menschen (2014: 21.000) – die NPD hat insgesamt aber nur etwa 5.200 Mitglieder.
Viel wichtiger als ein bisschen Symptomdoktorei und Schönheitschirurgie an der Oberfläche wäre es aus Sicht der Redaktion also die Ursachen für Extremismus anzugehen und grundlegende Aufklärungsarbeit zu leisten: Ob eine Position rechtsextrem ist oder nicht, hängt nicht von bestimmten Milieus ab – Fremdenfeinde gibt es überall in der Gesellschaft. Wir werden das Thema aktuell noch mehrfach aufgreifen, nachdem unsere Montagsgedanken “Wie antwortet man Rassisten – klar und deutlich” für eine sehr kontroverse Debatte gesorgt haben.
Erschreckend ist, dass radikale Positionen wieder mehr Befürworter finden und in der Debatte so viel öffentliche Zustimmung finden, wie seit Jahren nicht mehr. Lange haben sich Unzufriedenheit und Hass aufgestaut – jetzt scheint ein willkommener Sündenbock gefunden worden zu sein. Das Ventil steht offen.
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