Leipzig/Rhein-Neckar, 16. Juni 2016. (red/ms) Deutschland rückt nach rechts – eine Phrase, die in Debatten so oft gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass man sie schon fast ein Mantra nennen könnte. Tatsächlich lässt sich diese Aussage aber nur bedingt mit wissenschaftlichen Untersuchungen vereinen. Die zeichnen nämlich ein noch wesentlich düsteres Bild: Die offene Gesellschaft ist eine Illusion. Fremdenfeindlichkeit war schon immer vorhanden. Jetzt hat sie ein Ventil gefunden. Sündenbock ist insbesondere der Islam, auch die Homophobie nimmt zu. Unter Anhängern von AfD und Pegida – aber eben nicht nur.
Von Minh Schredle
Wer die Debatte über einen längeren Zeitraum verfolgt, wundert sich über das Kurzzeitgedächtnis vieler Medien: Aktuell zeige eine Studie der Universität Leipzig (folgend: “Mitte”-Studie) das rechtsextreme und antidemokratische Potenzial in der Gesellschaft. Ach wirklich?
Das klingt ja fast wie eine Neuigkeit.
Offenbar wird gerne und bereitwillig ausgeblendet, wie tief menschen- und gesellschaftsfeindliche Einstellungen noch heute in Deutschland verwurzelt sind. Eigentlich ist diese Erkenntnis keineswegs neu und aus den vergangenen Jahrzehnten gibt es ganze Reihe wissenschaftlicher Publikationen, die eine strukturell vorhandene Fremdenfeindlichkeit nachweisen.
Diese zieht sich in den verschiedensten Graden und Intensitäten – vom heimlichen Unwohlsein in der Anwesenheit anderer Ethnien bis zum offen gelebten Ausländerhass – durch sämtliche Schichten der Gesellschaft. Sie lesen richtig: sämtliche Schichten.
Oberflächliche Betrachtungen helfen niemandem
Wer Xenophobie auf einzelne Parteien reduzieren will, greift zu kurz. So zeigt die aktuelle “Mitte”-Studie der Hausgeber Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler selbst unter Anhängern der Grünen teilweise einen bedenklichen Antisemitismus.
Man kann es sich einfach machen, einen Sündenbock “identifizieren”, den als “Nazi” schelten und sich einreden, dadurch verbessere man die Gesellschaft.
Tatsächlich wird durch diese oberflächliche Betrachtung überhaupt niemandem geholfen. Im Gegenteil: Durch solche Polarisierung wird meistens nur der Extremismus begünstigt, das Lagerdenken verschärft.
Um wirklich sinnvolle Methoden für den Umgang mit Menschenfeindlichkeit zu finden, muss man sich die Mühe machen, in die Tiefe zu gehen – und so präzise wie nur möglich zu differenzieren.
Umso bedauerlicher, dass man aktuell in den meisten Medien nicht viel mehr erfährt, als aus der Pressemitteilung des Herausgebers zur Studie. Offenbar hat sich kaum eine Redaktion die Mühe gemacht, sich mit dem 170-Seiten-umfassenden Buch zur Studie auseinanderzusetzen.
Hier die Rhein-Neckar-Zeitung.
Andere regionale und überregionale Medien haben noch kryptischer oder gar nicht berichtet.
Umstrittene Rezeption
Ergebnisse und Methodik der Studie sind keineswegs unumstritten. Der Deutschlandfunk veröffentlichte ein Interview mit dem Politologen Klaus Schroeder, in dem dieser die “Mitte”-Studie als “sehr interessengeleitet” und ihre Ergebnisse als “im Grunde genommen belanglos” bezeichnet. Unter anderem kritisiert er, die Befragten würden gezwungen, auf “pauschale, generalisierte Fragen” zu antworten, die zudem häufig suggestiv wären.
Unsere Redaktion kann diese Einschätzung nicht teilen. Selbstverständlich ist eine jede Erhebung, die auf einer Befragung basiert, anfällig für Störgrößen. Und natürlich hat die Art und Weise, wie Fragen gestellt werden, Auswirkungen auf die Antworten. Und ja: Wenn man nur mit “ja”, “nein” oder “teils/teils” antworten kann, gehen dadurch Differenzierungen verloren.
Dieses Problem gilt aber nicht nur für die “Mitte”-Studie – sondern für die gesamte empirische Wissenschaft, in der immer ein Rest Unschärfe verbleibt. Kein Fragebogen spiegelt die Wirklichkeit wieder, keine Statistik ist ein Abbild der Realität. Keine Formulierung ist neutral. Aber deswegen die Sinnhaftigkeit der gesamten Erhebung infrage zu stellen, führt jede Debatte ad absurdum.
Man muss sich im Klaren sein, was Befragungen leisten können: Es ist ihnen nicht möglich, eine vollständig wahrhaftige Momentaufnahme der Gesellschaft wiederzugeben. Wohl aber können Trends und Tendenzen beleuchtet werden.
Und wenn die Aussage lautet “Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen” und fast zehn Prozent der Befragen zustimmen, hat das nichts mit Suggestion zu tun – sondern nur mit einem verstörenden Antisemitismus. Wer als Politologe Erkenntnisse dieser Art als “im Grunde genommen belanglos” bezeichnet, sollte eventuell noch einmal seine Profession überdenken.
ratio dubitandi?
Aber nun zur Studie und ihrem Hintergrund: Zur Methodik heißt es in der Eigendarstellung:
Die “Mitte”-Studien basieren auf repräsentativen Umfragen. Im zweijährigen Rhythmus werden seit 2002 zwischen 2.000 und 5.000 Probanden befragt.
Dieses Mal habe man Antworten von 2.420 Probanden erhalten, die auf Skalen mit Werten zwischen 1 und 4, beziehungsweise 1 und 5 das Ausmaß ihrer Zustimmung zu bestimmten Aussagen angaben. Je niedriger der Wert, desto höher die Ablehnung einer Meinung.
Mit der Größe der Stichprobe ist aus Sicht der Redaktion die Repräsentativität ausreichend gewährleistet, wenngleich natürlich immer leichte Schwankungen einkalkuliert werden müssen. Dass die grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung, die linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Otto-Brenner-Stiftung (IG Metall) an der Erstellung der Studie beteiligt waren, wird transparent dargelegt.
Keine Partei kommt besonders gut weg
Des Weiteren gibt es aus Sicht der Redaktion keinen ersichtlichen Grund, die Methodik oder Neutralität der Studie grundsätzlich anzuzweifeln – zumal genau genommen keine Partei in der Darstellung gut wegkommt. So heißt es beispielsweise unmissverständlich:
Nach wie vor binden die beiden Volksparteien CDU und SPD einige derjenigen, die rechtsextreme Einstellungsmerkmale aufweisen, und auch die eher links der Mitte positionierten Parteien Bündnis 90/Die Grünen und die Linke werden – wenn auch seltener – von rechts Eingestellten gewählt. Die von Personen mit rechtsextremen Einstellungen eindeutig präferierte Partei ist die AfD.
Rassismus und Antisemitismus gibt es laut Studie auffällig gehäuft in den Reihen der AfD – aber eben nicht ausschließlich. Nicht eine Partei ist die Ursache für Ausländerhass – sondern eigenverantwortliche Individuen.
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Kein Rechtsruck – das Ventil steht offen
Aber wie fremdenfeindlich ist Deutschland denn nun? Herr Schroeder sagt im Interview gegenüber dem Deutschlandfunk:
Wir haben etwa fünf Prozent der Befragten, die als rechtsextrem eingestuft werden, 7,6 im Osten, 4,8 im Westen. Das ist der geringste Wert, der bei diesen Forschern auch je ermittelt wurde. Das wird überhaupt nicht erwähnt.
Wo genau das von wem nicht erwähnt werden soll, ist unserer Redaktion schleierhaft. In Medienberichten? Oder gar in der Studie selbst? Dort heißt es nämlich gleich zu Beginn sehr differenziert:
Hinsichtlich der Verbreitung der klassischen Einstellungen, die Rechtsextremismus charakterisieren, fällt die Steigerung von Vorurteilen nur geringfügig aus. Während die generalisierten Vorurteile gegen Migranten/innen leicht zurückgingen, nahm die Fokussierung des Ressentiments auf Asylbewerber/innen, Muslime/innen sowie auf Sinti und Roma zu.
Die Studie verfällt eben nicht in das stumpfe Muster: Den Sündenbock identifizieren und verurteilen. Sie trennt scharf – und ist zudem selbstkritisch. So heißt es über den “Ethnozentrismus” (eine Einstellung, die die eigene kulturelle Herkunft aufwertet, während gleichzeitig alle anderen abgewertet werden):
Das gilt auch für ihre rechtsextreme Einstellung. In der kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit der Gegenwartsgesellschaft stellt sich die Frage, warum sie das, was sie bedroht, immer wieder selbst hervorbringt. In der Irrationalität und Destruktivität des Individuums kommen die Widersprüchlichkeiten der Gesellschaft selbst zum Vorschein.
Neu ist das keineswegs – doch es wird gerne ausgeblendet. Etwa wenn vermeintliche Experten davon sprechen, Deutschland rücke nach rechts. In der Studie heißt es dazu klar:
Die jüngsten Veränderungen im Parteiensystem zeigen weniger einen neuerlichen Anstieg fremdenfeindlicher und autoritärer Einstellungen in der Gesellschaft an, vielmehr findet das seit Jahren vorhandene, von den “Mitte”-Studien dokumentierte Potenzial jetzt eine politisch-ideologische Heimat.
Wir empfehlen dazu wärmstens unseren Artikel “eine unterschwellig schon immer vorhandene Ausländerfeindlichkeit…”, aus dem August 2015. Der Text stellt eine Collage aus Reportagen zur Asyldebatte der frühen 1990er-Jahren da – und zeigt, dass seitdem keine erkennbaren Fortschritte gemacht worden sind. Nicht der Fremdenhass ist neu – sondern die Offenheit, mit der er ausgesprochen und akzeptiert wird.
Brauner Osten? Braunes Deutschland.
Die moderne Gesellschaft wähnt sich gerne weltoffen, humanistisch und aufgeklärt. Dieses Ideal ist leider eine Illusion. Die Auseinandersetzung mit solchen Abgründen ist unbequem – aber unvermeidbar, wenn man für seine Werte einstehen will.
Jeder vierte Befragte findet: “Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.” Jeder Dritte stimmt der Aussage zu: “Die Ausländer kommen nur hier her, um unseren Sozialstaat auszunutzen”. Über 40 Prozent wollen Muslimen generell die Zuwanderung nach Deutschland untersagen.
Entgegen einer weitläufigen Erwartungshaltung sind die Unterschiede zwischen West- und Ost-Deutschland in Sachen Ausländerfeindlichkeit geringer als gemeinhin angenommen: Bei 20,4 Prozent der Gesamtbevölkerung werden fremdenfeindliche Motive erwartet – im Osten sind es 22,7 Prozent, im Westen 19,8 Prozent. Wer zum Thema Medienberichte liest, muss denken, im Westen sei Fremdenfeindlichkeit weitaus weniger ausgeprägt als im Osten – das ist nach diesen Zahlen nicht zutreffend.
Zahlen zum Nachdenken
Ebenso sehr muss klar benannt werden: Fremdenfeindlichkeit ist kein Problem einzelner Parteien oder Gruppen – selbst unter Anhängern linker Strömungen ist rechtes Gedankengut vorhanden.
Auffällig ist: Nach den Zahlen der Studie ist die Ausländerfeindlichkeit zwar gegenüber der Befragung von 2014 wieder angestiegen – in den Jahren 2002 bis 2012 lag sie aber teils deutlich höher. Im Mittel über die Jahre liegt der Wert bei gut 20 Prozent der Bevölkerung.
Konkretisierung der Sündenböcke
Während sich hier in den vergangenen Jahren wenig getan hat, lässt sich eine deutlich zunehmend ablehnende Haltung gegen bestimmte Minderheiten verzeichnen – insbesondere Muslime, Homosexuelle, Asylbewerber und Sinti und Roma.
Jeder und jede Zweite gab an, sich wegen zu vieler Muslime “wie ein Fremder im eigenen Land zu fühlen”. 40 Prozent der Befragten finden es “ekelhaft”, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen. Ebenfalls auffällig:
Wertet man den Zusammenhang zwischen Konfessionszugehörigkeit und rechtsextremer Einstellung aus, erreichen die Konfessionslosen die niedrigsten und die Katholiken die höchsten Werte.
Sind jetzt also die Katholiken die neuen Rechten? Über Antisemitismus im Islam liefert die Studie übrigens keine Erkenntnisse.
Massiver Vertrauensverlust auf allen Ebenen
Zahlreiche Medien verbreiten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Studie Zahlen – ohne weiter auf die Hintergründe einzugehen. Fremdenfeindlichkeit und Homophobie entstehen aber nicht einfach plötzlich aus dem Nichts.
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Extremistische Positionen entwickeln meist Unzufriedene in gesellschaftlich isolierter Lage. Auch hierbei wird dazu geneigt, das Ausmaß der Problematiken zu unterschätzen. Denn durch breite Schichten zieht sich ein tiefes Misstrauen bis hin zum völligen Vetrauensverlust gegenüber dem Staat, Politik und Medien. Die “Mitte”-Studie kommt zur Einschätzung:
Hinter einer antidemokratischen Einstellung verbirgt sich häufig eine (anhaltende) Frustration mit dem politischen System.
Zwar gebe es “durchaus Vertrauen in einige Institutionen, vor allem in die »überparteilichen« Akteure Polizei, Bundesverfassungsgericht und Justiz”. Aber:
Das wichtigste Element der Meinungsbildung im parlamentarischen System, die Parteien, wird äußerst skeptisch gesehen.
Nach den Ergebnissen der Studie sehen fast zwei Drittel keinen Sinn darin, sich überhaupt politisch zu engagieren. Nur ein gutes Viertel glaubt, selbst Einfluss auf Regierungshandeln zu haben. Nur noch 23,1 Prozent haben Vertrauen in Parteien – das ist ebenfalls ein Desaster.
Wie schwerwiegend der Vertrauensverlust ist, zeigen auch solche Zahlen: 34 Prozent der Befragten gaben an, die meisten Menschen wären “verblendet” und würden “das Ausmaß der Verschwörungen nicht erkennen”, weitere 22,6 Prozent sagen dazu “teils/teils”. Fast 35 Prozent finden:
Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte.
Auch den Medien wird zunehmend weniger Glaubwürdigkeit zugemessen. Auf Rückfrage distanzieren sich nur 41,2 Prozent vom Begriff “Lügenpresse” – fast die Hälfte ist hier unentschlossen und antwortet neutral. 14 Prozent bejahen den Begriff ausdrücklich.
Riesige Herausforderungen
Zusammenfassend lasse sich festhalten, dass das Misstrauen in Institutionen, insbesondere gegenüber intermediären Organisationen wie den Parteien und den Medien eine große Herausforderung darstelle, heißt es im Fazit dieser Teiluntersuchung. Außerdem steht dort:
Der Legitimationsverlust von etablierten Parteien und Institutionen ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg von rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen und Organisationen.
Neben vielen beklemmenden Erkenntnissen ist diese Einschätzung ein Warnschuss in Richtung Politik und Medien: Das eigene Verhalten befördert die Probleme. Misstrauen spaltet die Gesellschaft. Einseitige und undifferenzierte Darstellungen werden diese Konflikte weiter zuspitzen.
Tatsächlich benennt die Studie viele Trends und Tendenzen, die wir selbst bei unserer Arbeit und unseren Recherchen so feststellen können und bereits häufig thematisiert haben. Für uns und unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser sind diese Ergebnisse also keine Überraschung, sondern sind nun durch eine wissenschaftliche Studie messbar gemacht worden.
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