Weinheim/Rhein-Neckar, 23. November 2015. (red/ms) Gleich drei Landesparlamente werden im März 2016 neu gewählt – alle werden sie nach rechts rücken. Die Asyldebatte befeuert. Daraus schlägt insbesondere die AfD Kapital. In Sachsen-Anhalt hat sogar die NPD Chancen, in den Landtag einziehen – ihre aktuellen Forderungen sind auf dem Papier nur ein Stück weit rechts der CDU und in Teilen links der AfD. Das ist symptomatisch für eine bedenkliche Entwicklung: Es wird zunehmend schwieriger, Rechtskonservative von Rechtsradikalen zu unterscheiden. Und von vorschnellen Urteilen profitiert nur der Extremismus.
Von Minh Schredle
“Das Boot ist voll”, “Deutschland kann nicht das Sozialamt für die ganze Welt sein” und “der Islam bringt Terrorismus ins Land”. Diese Positionen vertreten AfD und NPD, große Teile von CSU und CDU, etwas kleinere Teile von SPD, Grünen und Linken – und etwa die Hälfte der Deutschen. Handelt es sich um vernünftige Feststellungen oder verborgene Fremdenfeindlichkeit?
Weder noch und beides. All diese Aussagen haben irgendwo einen nicht zu bestreitenden Kern – aber keine der stumpfen Parolen ist auch nur ansatzweise differenziert genug, um wirklich die Realität widerzuspiegeln. Doch das Lagerdenken ist stark in diesen Tagen, mit einem Hang zur Hysterie und teils grotesken Selbstbildern: Irgendeine offenbar unumstößliche Wahrheit muss verbittert gegen die existenzielle Bedrohung durch was auch immer verteidigt werden.
Für die Verteidiger des Guten und Gerechten ist es ein episches Schauspiel mit ihnen selbst in der Hauptrolle – für die Außenstehenden oft eine Lachnummer. Aber das wird ausgeblendet. Mit den Feinden und Fremden wird in der Regel gar nicht geredet. Bevorzugt kapseln sich die Lager ab, isolieren sich von der Außenwelt, um sich unter bereits Überzeugten gegenseitig überzeugen zu können, das man die richtige Überzeugung teilt: Wir sind Vernunft, sie sind Verblendung – diese Annahme, von der ja offenbar die allermeisten überzeugt sind, wird viel zu selten hinterfragt.
Niemand hat ein Allheilmittel
Die Feindbilder stehen fest in diesen eingeschworenen Kreisen: Inszenierte Idealisten müssen ihre moralische Überlegenheit dem gemeinen und gedankenlosen Pöbel irgendwie begreifbar machen. In anderen Szenarien belehren Unheilspropheten unbelehrbare Realitätsverweigerer. Links gegen rechts, Vernunft gegen Verblendung, das Gute gegen das Böse – und jeder sieht die eigene Meinung als dialektisch begründet an. Aber wer hat nun recht in diesem Wirrwarr der Werte und wer kennt realistische Lösungen für all die hochkomplexen Gemengelagen der Wirklichkeit?
Die Antwort ist simpel, aber schwer zu schlucken: Alle ein bisschen und niemand so richtig.
Dabei ist es ja eigentlich ganz banal: Die Welt ist so facettenreich, dass niemand einen Überblick über all ihre chaotischen Teile haben kann und es selbst für die größten Experten und Koryphäen schon ein Ding der Unmöglichkeit ist, auch nur einen einzelnen Teil ganz zu überblicken. Warum auch immer trauen sich aber nur die allerwenigsten, offen zur eigenen Unkenntnis zu stehen und täuschen stattdessen eine Sicherheit vor, die gar nicht existieren kann?
Die Folgen sind fatal: Unsere kollektive Unkenntnis der besten Lösungen führt nicht dazu, dass wir gemeinsam nach ihnen suchen. Im Gegenteil: Indem wir unsere Unsicherheit hartnäckig verleugnen, begünstigen wir radikal unsinnige Positionen.
Scheinlösungen als Heilsbringer
Paradebeispiel Asyldebatte: Anscheinend sind hier Idealismus und Pragmatismus völlig unvereinbar. Einmal werden berechtigte Bedenken nazifiziert und Funktionalitätsfragen vorschnell als fremdenfeindlich verurteilt. Gleichzeitig werden Hilfswillige pauschal zu realitätsverkennenden Gutmenschen, die mit ihrer Naivität noch den Staat, Europa und die Welt in den Abgrund treiben werden.
Gerade wenn die Debatte emotional wird, haben Vernunft und Logik schlechte Chancen gegen panische Angst. Überdramatisierte Horrorvisionen von Katastrophenszenarien sind im Umlauf, von der Rückkehr des dritten Reichs bis zum Untergang des Abendlandes. Die lautesten Stimmen finden das größte Gehör. Und Schreihälse verbreiten dumpfe Parolen als handle es sich um die eierlegende Wollmilchsau der Sozialpolitik oder den heiligen Gral moralischer Gerechtigkeit.
Doch auch wenn Populisten es gerne anders darstellen: Einen Teil der Welt radikal vom Rest abzuschotten, ist keine Endlösung. Ebenso wenig kann vom einen auf den nächsten Tag eine bedingungslose internationale Freizügigkeit umgesetzt werden. Beides scheitert an der Realität.
NPD-Positionen werden “gesellschaftsfähig”
Trotzdem kann sich die Idee gesicherter Grenzen in den vergangenen Monaten eines enormen Zulaufs erfreuen. Die NPD hat das schon gefordert, bevor es in Mode kam. Jetzt findet das braune Gedankengut auf Umwegen den Weg in die Mainstream-Politik. Und die Splitterpartei ärgert sich über andere Rechtspopulisten und radikale Trittbrettfahrer, die besorgte Bürger geschickter hinter dem gemeinsamen Ziel vereinen und die Ängste der Bevölkerung besser instrumentalisieren.
Dennoch hofft die NPD auf ein paar Prozentpunkte Stimmenzuwachs bei den nächsten Landtagswahlen – einige der zahlreich gewordenen “Systemkritiker”, Nationalisten und Islamfeinde werden sich ja wohl “für das Original” entscheiden, so die Hoffnung. Schicksalhaft könnte die Wahl in Sachsen-Anhalt werden: 2011 kamen die Rechtsradikalen auf 4,6 Prozent der Stimmen und verpassten den Einzug in den Landtag nur knapp. Damals gab es noch keinen Rechtsruck wegen ansteigender Flüchtlingszahlen.
Auf ihrem Bundesparteitag in Weinheim erklärten es NPD-Delegierte zum wichtigsten Ziel des kommenden Jahres, die fünf-Prozent-Hürde in Sachsen-Anhalt zu überwinden. Dann hätte die Partei eine größere Plattform, um “überzeugte Nationalisten und gutwillige Patrioten” für die Rechtsradikalität zu gewinnen. Die Vision des Bundesparteivorsitzenden Frank Franz: Die NPD soll als sympathische Partei der Normalität erscheinen und so für eine große Mitte wählbar werden.
Ob die Nazi-Partei jemals dieses Image erreichen kann, ist mehr als fraglich. Geschichte und so. Allerdings verfolgt die NPD neuerdings eine andere Strategie und setzt statt offensichtlicher Radikalität auf subtilere Manipuliation. Ihre Forderungen in der Asyldebatte sind auf dem Papier nicht fremdenfeindlicher als die der AfD und könnten auch in Kreisen von CDU und teils sogar SPD, Grünen und Linken viel Zustimmung finden.
Egal, ob nun von einer “Obergrenze” oder einem “Flüchtlingskontingent” geredet wird – all diese Forderungen laufen zwangsläufig auf eine Konsequenz hinaus: Das Grundrecht auf Asyl abschaffen und die Grenzen mit allen Mitteln “absichern”. Doch wie soll das in der Praxis umgesetzt werden? Kein Zaun ist unüberwindbar. Sollen sich Staatsdiener an die Grenzen stellen und den abgelehnten Asylbewerbern mit vorgehaltenem Maschinengewehr mehr Glück im nächsten Jahr wünschen – wenn man dann noch lebt? Es wäre eine Ohrfeige für all die viel beschworenen Werte des Westens, die ja angeblich alle verteidigen wollen.
Scham und Vernunft
Doch sind deswegen alle, die sich für einen Asylstopp aussprechen, Fremdenfeinde, Unmenschen und Nazis?
Nein. Denn unter ihnen sind auch viele Realisten, die tatsächliche Probleme sehen, die sich zwangsläufig aus dem Zuzug so vieler Menschen in einem so kurzen Zeitraum ergeben. Oft sind es nüchterne und pragmatische Beobachtungen, wo es aktuell an Lösungen fehlt: Ist es fremdenfeindlich festzustellen, dass es nirgendwo im Land mehr taugliche Betten zu kaufen gibt, um Flüchtlingsunterkünfte auszustatten? Was hat es mit Rassismus zu tun, darauf hinzuweisen, dass es massiv an Infrastruktur und qualifiziertem Personal fehlt, um einen Bevölkerungszuwachs von über einer Millionen Menschen innerhalb von weniger als einem Jahr verkraften zu können, ohne Einschränkungen hinnehmen zu müssen? Warum sollte man nicht fragen dürfen, wie genau Analphabeten zügig Anschluss am Arbeitsmarkt finden sollen?
Weil kritische Fragen wie diese von gewissen Kreisen von vornherein nicht zugelassen werden, bilden sich andere Kreise von Gleichgesinnten, in denen sie diskutiert werden. Die Ausgegrenzten und die Ausgrenzer treibt dabei oft der gleiche Irrglaube an: Was ich denke, ist vernünftig, also können diejenigen, die nicht denken, was ich denke, nicht vernünftig sein. Und mit unvernünftigen Leuten lohnt sich keine Diskussion.
Lager schaukeln sich auf
Also bleibt man unter sich und in den geschlossenen Gruppen entwickelt sich eine gefährliche Dynamik: Die eigenen Überzeugungen finden unter den Gleichgesinnten immer mehr Bestätigung, bis die trügerische Sicherheit entsteht, dass sich so viele “vernünftige” Menschen unmöglich irren können. Das radikalisiert gegen Andersdenkende – deren Gedanken man genaugenommen gar nicht wirklich kennt, weil man nicht mit ihnen redet.
Wie sollen so gemeinsame Ziele gefunden werden? Etwas, wofür man als Gesamtgesellschaft arbeiten kann? Wo ist der Wertekonsens des Westens?
Je strikter die Lager getrennt sind, desto mehr werden beide Seiten radikalisiert. Desto bedrohlicher erscheint das gemeinsame Feindbild. Und davon profitieren nur diejenigen, die die Ängste der Verunsicherten am effektivsten für die eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Selbstverständlich wird das immensen Einfluss auf die bevorstehenden Landtagswahlen haben. Und die etablierten Parteien begehen genau die gleichen Fehler wie in den 90er-Jahren: Sie steigen im Brustton der Überredung in die Klagelieder der Hetzer mit ein und schüren Ängste, statt durch Aufklärung zu einer lösungsorintierten Debatte beizutragen. Damit vergraulen sich vermeintliche Volksparteien genau die große gesellschaftliche Mitte, die sie ja angeblich repräsentieren wollen. Diese große Mitte will Frieden und Freiheit leben. Aber viele haben ihre Hoffnungen in die Politik verloren. So lange eine respektvolle Diskussionen über Grenzen hinweg verweigert wird, gewinnen nur die extremen Positionen.