Rhein-Neckar/Berlin/Rabat, 26. Dezember 2017. (red/pro) Die Bundesregierung plant die Errichtung zweier Jugendheime für je rund 100 Personen in Marokko, heißt es in verschiedenen Medienberichten. Leider kommen die meisten Meldungen ohne Recherche und ohne Analyse aus – wie so häufig. Interessanterweise gibt es teils Bezüge zu Mannheim, da der “Brandbrief” des Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz (SPD) und die dann harsche Reaktion des Innenministers Thomas Strobl (CDU) bundesweit Aufmerksamkeit erlangt haben. Details zu diesen “Jugendheimen” gibt es so gut wie keine. Vernünftige Analysen schon gar nicht.
Von Hardy Prothmann
Ich erinnere mich an die verkündete Einrichtung von “Hotspots” zur Aufnahme von Flüchtlingen in Nachbarländern von Syrien, in Libyen, im Maghreb mit Unterstützung der EU. Die ersten Meldungen dazu kamen Ende 2015. Alles heiße Luft. Es gibt auch nicht ansatzweise irgendwelche ernst zu nehmenden Einrichtungen dieser Art.
Der Rechtsstaat hinkt der Flucht hinterher
Jetzt soll es anscheinend konkreter werden mit dem Bau zweier Jugendheime in Marokko durch Deutschland über die Bundesregierung. Auch hier gibt es wieder jede Menge Nebelgranaten. Diese Pläne der Bundesregierung sind nicht plötzlich zu Weihnachten bekannt geworden, sondern bereits im Frühjahr 2017. (Die entsprechende Bundesdrucksache und weitere Links finden Sie im Bezahlbereich am Ende des Artikels.) Diese Pläne sind also nicht neu.
Bemerkenswert ist, dass diese Pläne auf Anfrage verschiedener Abgeordneter und der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen bekannt geworden sind. Das heißt, dass es diese Pläne schon länger gibt, diese im Frühjahr bekannt geworden sind und am Jahresende mitgeteilt wird, dass diese Jugendheime errichtet werden sollen. Wo, wann, mit welchen Mittel und welchem Konzept? Alles offen.
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Festzustellen ist eine lange Zeitdauer vom Gedanken, zum Plan, zur Umsetzung. Das ist normal für einen Rechtsstaat. Hier will alles geprüft und geordnet werden, außer, man macht mal eben die Grenze für eine Million Menschen auf, wie 2015 geschehen.
Bis heute hinkt der Rechtsstaat den damit geschaffenen Problemen hinterher.
Sehr viele offene Fragen
Das einzige, was aktuell konkret genannt wird, ist die Zahl von je rund 100 Plätzen, also 200 in Summe (merken Sie sich diese Zahl). Und die Nachricht, dass diese sowohl marokkanischen Kindern vor Ort als auch ausreisewilligen oder abgeschobenen Minderjährigen zur Verfügung stehen sollen.
Wir können über die Feiertage keine Recherche dazu leisten, weil niemand erreichbar ist. Was wir können, ist Fragen aufzuwerfen, die mit dieser Nachricht zwingend einhergehen.
In Marokko leben rund 35 Millionen Menschen. 2015 waren davon rund 27,3 Prozent laut “Human Development Report” (Link im Bezahlbereich) unter 15 Jahren, das sind also rund 9,5 Millionen Menschen.
9,5 Millionen Minderjährige unter 15 Jahren in Marokko
Wie viele Straßenkinder es in Marokko gibt, also Minderjährige, die nicht bei ihren Familien leben, ist nicht eindeutig zu beantworten. Angeblich sollen es rund 30.000 sein, 7.000 allein in Casablanca, der mit 5,2 Millionen Einwohnern größten Stadt in Marokko. Zum Vergleich: In der größten deutschen Stadt Berlin lebten 2015 rund 3,5 Millionen Menschen. 17 Prozent davon waren unter 18 Jahre alt, also rund 540.000. 20 Prozent, also rund 108.000 der dort lebenden Kinder sind auf Sozialhilfe angewiesen. Ohne staatliche Zuwendung müssten viele dieser Menschen auf der Straße leben.
Wir reden von Berlin und wir vergleichen das mit Casablanca. Wenn es im reichen Deutschland und in der Bundeshauptstadt Berlin so viele Sozialfälle gibt, ist die Zahl von nur 7.000 Straßenkindern in Casablanca dann realistisch? Wohl kaum.
Die Einordnung hängt auch von der Definition ab. Ab welchem Alter kann ein Kind ein Straßenkind sein und wie definiert man das? Nach unseren Recherchen fliehen viele Kinder vor häuslicher Gewalt oder Armut – und kehren immer wieder zu Verwandten zurück, um wieder neu auf der Straße zu landen. Sie schlagen sich durch, mit Gelegenheitsjobs, mit Straßenhandel, mit Kriminalität und vermutlich auch durch käuflichen Sex.
Von vorne bis hinten nicht durchdacht
In unserem Berichtsgebiet gibt es viele kleinere Gemeinden, die Flüchtlingsunterkünfte für 100-200 Personen herstellen (Sie haben sich die Zahl gemerkt). Das erfordert viel Aufwand und erhebliche Mittel. Jetzt will die deutsche Bundesregierung in Marokko zwei Jugendheime bauen – für 200 Personen, in einem Land, in dem 9,5 Millionen Menschen unter 15 Jahr alt sind und nach verschiedenen Schätzungen mindestens 30.000 Straßenkinder leben. Das klingt als Lösung absurd? Das ist absurd und definitiv keine Lösung.
Was wirklich dahinter steckt, ist der hilflose Versuch, juristische Bedingungen zu schaffen, um abschieben zu können. Das ist nämlich ingesamt schon schwer und bei Minderjährigen fast unmöglich. Entweder muss man die Eltern ausfindig machen, was so gut wie nie klappt oder überstellt an einen Vormund, was noch noch weniger klappt oder an eine Jungendhilfeeinrichtung, die praktisch nirgendwo vorhanden ist, jetzt aber mit diesen Jugendheimen geschaffen werden könnte.
Sollten diese Heime entstehen, wie läuft das dann? Kriminelle UMAs werden dorthin abgeschoben, hauen ab, wodurch wieder Plätze frei werden, weswegen man weitere abschieben kann, die auch abhauen und dann wieder über Spanien und Italien nach Europa kommen? Baut man hier ein Abschiebekarussell auf? Das ist, mit Verlaub, von vorne bis hinten nicht durchdacht.
Denn wer soll die Minderjährigen vor Ort betreuen? In Deutschland gibt es viele schlecht bezahlte Sozialarbeiter und in Deutschland wird mit Sozialarbeit ein enormer Aufwand betrieben. Glaubt jemand ernsthaft an eine erfolgreiche staatliche Sozialarbeit in Marokko? Noch nicht einmal die Bundesregierung glaubt daran, deswegen ist man noch auf der Suche nach einer Nicht-Regierungsorganistion (NGO) als Projektpartner.
Und ganz sicher werden mehr als 200 neue unbegleitete, minderjährige Ausländer unter den 9,5 Millionen Marokkanern unter 15 Jahren Richtung Europa und Deutschland drängen, während man hier ein paar besonders kriminelle Minderjährige irgendwann mal abschiebt.
Es kostet Geld, egal wie
Tatsache ist, dass wir ein Dilemma erleben: Diese Heime sind möglicherweise ein Lösung. Hier vor Ort kostet jeder UMA pro Monat zwischen 3.-5.000 Euro an Betreuungskosten. Hinzu kommen bei einem kleinen, aber sehr aggressiven Teil die erheblichen Kosten für Strafverfolgung und die politischen Kosten durch eine verunsicherte Gesellschaft. Diese Geld kann vor Ort viel mehr Wirkung erzielen. Dann bleibt es aber nicht bei “Pilotprojekten” für irgendwelche Kinderheime, sondern es muss eine strukturelle Unterstützung von Flucht- oder Transitländern geben. Das kostet auch, aber weniger als hier.
Die Analyse ist ganz einfach: Wer einigermaßen über die Runden kommt und einigermaßen sicher lebt, macht sich nicht auf die Reise. Alle anderen tun das irgendwann. Und das sind sehr viele. Allein in Marokko potenziell rund 10 Millionen junge Menschen. Wenn davon nur ein Prozent nach Deutschland kommt, sind das 100.000 Minderjährige. Wenn davon nur ein Prozent erheblich kriminell ist, sind das 1.000 Kriminelle.
Und das meint nur Marokko. Nicht Tunesien, Algerien, Gambia und weitere Länder.
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Wir erleben aktuell erst die Vorhut
Zur Erinnerung. Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz hat sich mit einem Brandbrief an das Innenministerium gewandt, weil 10-15 nicht strafmündige Intensivtäter die Stadt ans Ende ihres Lateins gebracht haben.
Dabei erleben wir erst die Vorhut – es werden noch viel mehr kommen, die Probleme machen werden. Deswegen war der Brandbrief richtig und deswegen ist die Antwort aus Stuttgart falsch.
Gemessen an der Zahl der UMAs in Mannheim insgesamt (rund 230) und der “Systemsprenger” reden wir nicht von einem Prozent, sondern von fünf bis zehn Prozent. Wenn nur ein Prozent der jugendlichen Marokkaner den Weg nach Deutschland sucht, davon aber fünf bis zehn Prozent Kriminelle sind, reden wir also von 5.-10.000 Kriminellen in den nächsten Jahren, die für staatliche Jugendhilfe und Sozialisierung nicht erreichbar sind.
Dagegen steht ein Pilotprojekt mit 200 Heimplätzen.
Das nenne ich hilflose Symbolpolitik. Die Bundesregierung wird damit keine entscheidenden Veränderungen erreichen, sondern die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nur noch steigern.
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Bundesdrucksache 18/11989, 19. April 2017
Unicef-Studie zur Situation von Kindern in Marokko (französisch)