Mannheim/Rhein-Neckar, 09. Dezember 2017. (red/pro) Am Montag und Donnerstag wurden verschiedene Zeugen der Gewaltattacke auf einen Mann in einer OEG-Bahn gehört. Dabei ergeben sich immer neue, teils überraschende Perspektiven. Wurde bislang Taufik M. als Haupttäter angenommen, ergeben sich Zweifel. Es verdichten sich die Hinweise, dass Jermaine L. der aggressivste Schläger war. Auch in den Justizvollzugsanstalten fallen diese beiden Angeklagten durch aggressives Verhalten auf. Taufik M. hat in der Untersuchungshaft zum Islam gefunden – seine Gebetsrufe störten oft die Nachtruhe.
Von Hardy Prothmann
Am Montag schildert das Opfer, Mehmet E., seine Erinnerungen an die Tat. Demnach war er an der Haltestelle Kunsthalle eingestiegen. Zwischen Viernheim und Weinheim kam es dann zu der Gewaltattacke auf den Mann, der sich dem aggressiven Jermaine L. in den Weg stellte.
Klar ist, dass Jermaine L. ihn angegriffen hat. Allerdings sagten am Montag Zeugen aus, dass Mehmet E. diesen zuvor aufgefordert hatte, „das draußen zu klären“. Anlass für die Auseinandersetzung waren Beleidigungen gegen Jennifer H. (25). Jermaine L. soll zu ihr gesagt haben, dass sie hübsch sei und er ihr Haar küssen wolle. Als er auf Ablehnung stieß, reagierte er aggressiv:
Ich hab Deine Mutter gefickt,
soll er gesagt haben. Daraufhin sagte Jennifer H. zu ihm:
Und ich Deinen Vater.
„Ich bring Dich um“
Dann mischte sich Mehmet E. ein. Wer ihn wie geschlagen und getreten hat, kann er nicht mehr rekonstruieren. Ihm fehlt die Erinnerung. Taufik M. soll gebrüllt haben, „ich bring Dich um“. Nach den ersten Schlägen geht Mehmet E. zu Boden. Furkan D. und Jermaine L. versuchen den Mann zu treten, auch dessen Kopf. Taufik M. soll auf dem Opfer gelegen haben und es mit Faustschlägen traktiert haben. Dabei treffen ihn auch Tritte der anderen Schläger.
Er soll versucht haben, das Opfer, das sich an einer Sitzhalterung zum Schutz unter die Sitze gezogen haben soll, dort wieder herauszuziehen. Mehmet H. schildert, dass er mit den Armen seinen Kopf geschützt habe:
Ich habe gedacht, die hören nicht auf. Ich hatte Todesangst.
Vor Gericht schildert er seine Verletzungen. Die Nase wurde gebrochen, zwei Rippen ebenso. Die Nase war ambulant gerichtet worden, muss aber im kommenden Jahr nochmals unter Vollnarkose operiert werden. Zudem habe er überall am Körper Hämatome gehabt, Beulen am Kopf und vor allem auf der linken Seite Schürfwunden. Das passt zum ärztlichen Bericht, den den Vorsitzende Richter Dr. Joachim Bock verliest. Mehmet E. gibt weiter an, Angstzustände zu haben und unter Atemnot zu leiden, teils physisch wegen der gebrochenen Rippen, teils psychosomatisch. Ein Mal im Monat geht er in eine psychotherapeutische Behandlung. Eine Arbeit habe er verloren, weil sein Zustand den Arbeitsantritt nicht zuließ. Seit zehn Tagen habe er eine neue Arbeit.
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Durch den Abgleich von Informationen ergibt sich ein genaueres Bild. Offenbar hat das Opfer überwiegend auf der linken Seite gelegen, denn hier kam es zu den Abschürfungen während die Hämatome durch Schläge und Tritte eher auf der rechten Körperhälfte festgestellt worden sind. Die Aussagen der Angeklagten dazu waren uneinheitlich und deuten eher darauf hin, dass das Opfer auf dem Bauch gelegen habe.
Konzentrierte Arbeit der Richter
Der Vorsitzende Richter Dr. Bock fragt sehr konzentriert und ruhig immer wieder nach, ebenso seine Kollegin Brigitte Beck. Sie versuchen aus der Vielzahl der teils gegensätzlichen Aussagen den Ablauf der Tat zu rekonstruieren. Mehmet E. sagt oft, „das weiß ich nicht“ und wird nervös. Die Richter beruhigen ihn; dass er sich nicht erinnern könne, sei nachvollziehbar:
Wir wollen Ihnen nichts Böses, wir wollen nur herausfinden, was passiert ist.
Trotzdem fragen sie unbeirrt weiter. Zu Taufik M. sagt er:
Der hat gesagt, dass er mich umbringen will. Ich werde sein Gesicht nie vergessen.
Jennifer H. hatte nach der Attacke ein Ausweispapier von Taufik M. gefunden, dass dieser während der Auseinandersetzung verloren hatte. Sie recherchierte angeblich auf Facebook und will Taufik M. dort identifiziert haben. Dagegen wendet sich der Angeklagte. Er fragt, wie das möglich sein soll, da er erstens ein Pseudonym verwende und er heute ganz anders aussehe, als auf dem Profilfoto. Da habe er 130 Kilo gewogen. Zur Tatzeit wog er noch 94 Kilo, aktuell 81 Kilo.
Ich bin mir sicher, dass er von der Bank gesprungen ist,
sagt Jennifer H. Außerdem behauptet sie, der jüngere Bruder von Taufik M. sei auch dabei gewesen, den sie hier nicht sehe. Das kommentiert Richter Dr. Bock:
Es spricht wenig dafür, dass er dabei war.
Aus ihrer Erinnerung habe das Geschehen fünf Minuten gedauert. Tatsächlich, so viel steht fest, dauerte es keine Minute. Eine ältere Dame habe „hört auf, hört auf“ gerufen und als die Täter die Bahn verlassen hatten, „waren da so Afrikaner, die haben dem Mehmet aufgeholfen“. Auf Nachfrage bestätigt sie, dass eine Flasche rumgelegen habe. Welche Rolle habe Herr E. für sie gespielt, wird sie gefragt:
Für mich war er ein Mann.
Zeugin wirkt nicht seriös
Der Verteidiger von Eyyüpcan P. möchte wissen, was drei tätowierte Punkte im Gesicht der Zeugin bedeuten. Diese wird nervös, weicht aus, erzählt, dass ihr das gefallen und keine Bedeutung habe. Hintergrund: Drei Punkte können für „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ stehen, ein Knast-Tattoo. Sie sei nie im Gefängnis gewesen, sagt die Frau aufgebracht.
Am Donnerstag wird ein Polizeibeamter, Jugendsachbearbeiter beim Revier Weinheim, aussagen, dass er Jennifer H. durchaus kenne:
Die ist kein Kind von Traurigkeit. Als junge Frau hatte die einige Probleme mit dem Gesetz. Auch Gewalterfahrung – als Täterin.
Gerade deswegen habe er ihre Aussagen auf dem Revier für glaubwürdig eingeschätzt. Ihm hatte die Zeugin erzählt, Taufik M. sei dem Opfer auf den Kopf gesprungen – was aus unserer Einschätzung sehr unwahrscheinlich ist. Er soll Schaum vor dem Mund gehabt und gebrüllt haben: „Lass mich los, du Hure, ich bring den um.“
Weiter sagt der Beamte aus, dass er auch das Opfer vernommen habe. Er hatte den Eindruck, dass dieser große Schmerzen hatte und unter Schock stand. Er sei zwar ansprechbar gewesen, aber irgendwie verzögert. Am Kopf des Opfers habe er Beulen in Augenschein genommen. Hier schaltet sich der Rechtsmediziner Dr. Fuchs ein und stellt eine Reihe an Fragen zu medizinischen Symptomen, um die Aussage des Beamten zu präzisieren, was nur mäßig gelingt.
Unklare Verhältnisse
Bemerkenswert ist, wie sehr das Opfer Mehmet E. und die Zeugin Jennifer H. betonen, sich nur entfernt zu kennen. Ebenso, dass man sich eine Woche nach der Tat zufällig in einer Bahn wiedergetroffen haben und sich danach ausschließlich per Chat und Whatsapp ausgetauscht haben will. Am Montag will jemand beobachtet haben, dass es zu einem Kuss zwischen den beiden vor Gericht kam. Merkwürdig ist auch das Treffen in der Bahn – Mehmet E. gab an, in den ersten Wochen nach der Tat aus Angst keine Bahn genutzt zu haben.
Es gibt noch weitere Merkwürdigkeiten. Möglicherweise bereits einen Tag nach der Tat soll der Bruder des Opfers Kontakt zu Furkan D., Jermaine L. sowie Eyyüpcan P. aufgenommen haben. Wie kam er an die Identitäten der Personen? Diese sollen auch in die Wohnung der Familie gekommen sein – um auszuhandeln, ob es eine Schmerzensgeldzahlung oder eine Klärung mit den Fäusten geben solle.
Mehmet E. teilt mit, dass sein Bruder auf eigene Faust gehandelt habe. Er habe davon nichts gewusst und wollte eine Strafanzeige, zu der es letztlich auch kam. Ein Polizeibeamter berichtet, es sei eine Forderung von 20.000 Euro im Raum gestanden.
In der Mittagspause am Montag soll die Mutter von Taufik M. zusammen mit anderen das Opfer Mehmet E. auf der Straße bedroht haben. Er werde schon sehen, was er von der Anzeige hat und später was erleben. Die Frau habe arabisch gesprochen, was er verstehen könne. Er habe die Bedrohung mit dem Smartphone auf Video aufgenommen. Infolge der weiteren Aussage kam es dann zu dem bereits berichteten Tumult, nachdem Mehmet E. vor allem Taufik M. als ehrlos beschimpft hatte und meinte, er sei kein Mann und sehe genau, dass er nichts bereue.
Lesen Sie zum Tumult diesen Text: Ein Richter am Rande des Nervenzusammenbruchs – der wurde diese Woche rund 70.000 Mal aufgerufen
Zweifel, ob Taufik M. der Haupttäter war
Der Vorsitzende Richter Dr. Bock kommentiert trocken:
Dass dem Herrn E. hier der Kragen platzt, ist menschlich nachvollziehbar.
Am Montag wird auch Mert K. (18) gehört, der wegen einer anderen Sache in Ulm in Untersuchungshaft ist. Seine Aussage ist nicht viel wert. Er gibt an, bei der Polizei Sachen gesagt zu haben, „die er nur gehört habe“. Immerhin, auch er habe Taufik M. auf Mehmet E. gesehen, da sei er sicher.
Am Donnerstag werden mehrere Polizeibeamte befragt, die zum Teil Aussagen aufgenommen und zum Teil weiter ermittelt haben. Ein Beamter schildert einen Einsatz unmittelbar nach der Tat. Die Täter seien in einem Schnellrestaurant gesichtet worden, dann in eine Bahn gestiegen. Diese wird angehalten und durchsucht. Vergeblich. Etwas später gibt es Anrufe, dass sich in einem abgelegenen Wohngebiet von Hirschberg 50 Personen prügeln sollen. Als die Polizei mit 11 Beamten eintrifft, gibt es keine Prügelei mehr.
Sie treffen auf einige junge Männer, darunter auch Furkan D. und Jermaine L. Bei Furkan seien frische Verletzungen an den Händen feststellbar gewesen. Keiner wirkte betrunken, alle seien frech gewesen. Angeblich fühlten sie sich durch Männer aus Viernheim bedroht: „Die wollen uns an den Kragen.“
Es wird erkennbar, dass die Beamten sich auf Taufik M. als Haupttäter konzentriert hatten. Immer wieder wird er als „der dicke Junge“ benannt – dabei war er zur Tatzeit nicht mehr dick, sondern kräftig: „Der dicke Junge habe auf das Opfer eingeschlagen, der sei vorher im Knast gewesen“, gibt ein Beamter eine Befragung wieder.
Offenbar wird immer noch gegen andere Personen ermittelt. Auch ein Deutscher aus Ludwigshafen geriet ins Visier der Fahnder. Möglicherweise bestand die Gruppe aus rund 20 Personen, die sich teils kannten, teils nicht. Möglicherweise waren noch andere als die fünf Angeklagten Furkan D., Jermaine L., Taufik M. zur Tatzeit jeweils 18 Jahre alt, die Angeklagten Filmon N. und Eyyüpcan P. jeweils 17 Jahre alt, an der Tat beteiligt.
Bei den ersten Verhandlungstagen interessierte sich das Gericht sehr dafür, ob sich jemand bedroht fühle. Angeblich solle Taufik M. andere Angeklagte bedroht haben. Immerhin war er zu fünf Jahren Haft verurteilt worden und kam erst Anfang 2017 nach dreieinhalb Jahren wieder auf Bewährung frei. Etwa neun Wochen später geschah die Tat.
Versuchter Totschlag ist weiter offen
Das hält Taufik M. nicht davon ab, sich immer wieder zu Wort zu melden. Er wirft den Ermittlern „Unterschlagung“ vor und das gelogen wird, von Beamten und anderen Zeugen.
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Zwischendurch erläutert der Vorsitzende Dr. Bock den Ernst der Lage, insbesondere zur Frage, ob und wie gegen den Kopf getreten worden ist oder ob es gar zu einer Sprungattacke kam:
Der Herr L. hat voll Schiss, weil ihm klar ist, dass, sollte er auf den Kopf gesprungen sein, das ganz nah an einem versuchten Tötungsdelikt ist.
Versuchten Totschlag hatte die Staatsanwaltschaft zuerst angenommen, dann aber nicht angeklagt. Ob das so bleibt, ist offen. In der Bahn gab es zwar eine Videokamera – doch die Aufzeichnung funktionierte nicht. Deshalb muss das Gericht mit großer Beharrlichkeit den Ablauf rekonstruieren, um die Tatbeteiligungen zweifelsfrei festzustellen.
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Am Donnerstag verliest der Vorsitzende Richter Dr. Bock vor Ende des Sitzungstages Protokolle der Haftanstalten zu Furkan D., Jermaine L., Taufik M. und auch Eyyüpcan P., der nach unseren Informationen wegen eines weiteren Raubs Anfang September in Karlsruhe in Untersuchungshaft sitzt. Zunächst war er in Ravensburg untergebracht. Laut Protokoll verhalte er sich unauffällig und habe eine Malerausbildung begonnen. Ein Polizeibeamter hatte zuvor gesagt, dass er bei der Vernehmung zur Gewaltattacke Reue gezeigt und geweint habe. Da er später einen Raub beging, ist die Aussage allerdings wenig glaubhaft. Ebenso, wenn man sich das Video zu einer Körperverletzung in einer S-Bahn anschaut, bei dem zu sehen ist, wie der junge Mann vollkommenen aggressiv die Kehle eines Opfers angreift. Ebenso, wenn man seinen Impulskontrollverlust beim Tumult miterlebt hat – er war von 0 auf 100 aggressiv und in Angriffshaltung.
Furkan D. verhalte sich in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim insgesamt unauffällig. Er erledige seine Aufgaben als Fachkraft für Metalltechnik, sei aber in seiner Entwicklung noch nicht ausgereift. Konflikte mit anderen habe er durch „Beharrlichkeit“ ausgestanden.
Störung der Nachruhe durch laute Gebetesrufe
Bei Jermaine L. hört sich das Protokoll gar nicht gut an. Er zeige sich häufig sehr erregt und aggressiv, bedrohe auch Bedienstete. Wegen eines positiven Drogentests (vermutlich Subutex) seien Sicherungsmaßnahmen vollzogen worden. Arbeit verweigere er. Bei einem Besuch seiner Mutter habe er diese beleidigt und bedroht. Auch im Gerichtssaal macht er einen hyperaktiven Eindruck, ständig wippen seine Beine und er wirft böse Blicke um sich.
Auch Taufik M. macht in der Haft nicht eben eine gute Figur. Er sei häufig „recht fordernd“ und fühle sich schnell provoziert – was man auch in der Verhandlung ständig beobachten kann. Immer wieder meldet er sich zu Wort und zweifelt die Verhandlung an. Aus der Haft hatte er 97 Briefe an das Gericht geschrieben und dem Vorsitzenden Richter Befangenheit vorgeworfen. Zunächst habe er einen Job als „Schänzer“ gehabt – eine Arbeit, die viele gerne haben wollen, weil man Essen ausgibt und so „rumkommt“, viel Kontakt zu anderen Häftlingen hat. Da er sich unzuverlässig verhielt, hatte er diesen wieder verloren. Auch er hatte seine Mutter bei einem Besuch beschimpft, sich aber wieder entschuldigt. Zudem störe er oft die Nachtruhe durch laute Gebetsrufe.
Taufik M. ist staatenlos, der Vater Algerier, die Mutter kam ohne Papiere aus dem Nahen Osten, weswegen die beiden Söhne ebenfalls staatenlos sind. Arabisch spricht er nicht.
Die Polizei wird auch die kommenden Prozesstage in hoher Mannstärke schützen.
Hinweis: Vom Prozess können wir keine Fotos anbieten, da Ton- und Filmaufnahmen verboten sind.
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