Rhein-Neckar, 10. März 2018. (red/pro) Acht mutmaßliche Missbrauchsfälle in einem Erlebnisbad der Region werden zum Aufreger hochgeschrieben, der angeblich “Wut” und “Entsetzen” erzeugt hat. Warum eigentlich angeblich? Man darf wütend und entsetzt sein – über Medien, die die Wahrheit so lange biegen, bis diese in ihr Konzept passt. Das fällt immer mehr Menschen auf. Die wenden sich enttäuscht ab und suchen sich “alternative” Medien, die zwar ebenfalls Wahrheiten verbiegen, aber eben so, wie es den Nutzern ins Weltbild passt.
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Kommentar: Hardy Prothmann
Die aktuellen Berichte über “Missbrauchsfälle” haben einen wahren Kern: Innerhalb der vergangenen zwölf Monate gab es im Freizeit- und Familienbad Miramar in Weinheim acht dokumentierte Fälle von “missbräuchlichen sexuellen Handlungen” gegenüber Kindern. Für die Bildzeitung reichte das, um “Kinderschänder-Angst im Spaßbad!” zu titeln.
Solide Recherche sorgt für Aufklärung
Bei solider Recherche bleibt aber von der düsteren Bedrohung nicht mehr viel übrig. Klar ist jeder Fall einer zu viel. Wer aber fordert, dass ab sofort jeder neue Fall unmöglich sein soll, ist entweder weltfremd oder ein Populist. Menschen, überwiegend Männer (98 Prozen), mit pädophilen oder exhibitionistischen Neigungen, wird es immer geben. Sie sind Täter und ihre Handlungen werden strafrechtlich verfolgt. Sie sind aber auch Opfer – ihrer krankhaften Neigungen, für die sie nichts können. Pädophilie gilt als nicht heil-, aber durch Therapien beherrschbar.
12.019 Kinder unter 14 Jahren sind 2016 deutschlandweit missbraucht worden. 200 mehr als 2015. Stimmt das? Ist das die Wahrheit? Ja, die statistische, aber nicht die echte Wahrheit. Denn die erfassten Fälle bilden das “Hellfeld” ab, also Missbrauchsfälle, die behördlich erfasst worden sind. Wie groß das “Dunkelfeld” ist, also alle Taten, die nicht entdeckt werden, weiß niemand genau. Experten gegen von einer weitaus höheren Zahl aus.
Bis zu 30 Prozent Mädchen, bis zu 15 Prozent Jungen als Missbrauchsopfer
Nach Angaben des “Mikado“-Projekts (steht für “Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer”. Anm. d. Red: Die “Ätiologie” beschäftigt sich mit den Ursachen für das Entstehen einer Krankheit.), einem Forschungsprojekt der Universität Regensburg, das in den vergangenen dreieinhalb Jahren vom Bundesfamilienministerium gefördert wurde.werden 15-30 Prozent aller Mädchen und 5-15 Prozent aller Jungen mindestens ein Mal als Kinder sexuell missbraucht. Unter den Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs fallen Handlungen wie Exhibitionismus, das Zeigen pornografischer Schriften und Filme, “Berührungen” sexueller Art, sexuelle Handlungen mit und ohne Körperkontakt. Die meisten Missbrauchsfälle finden in der Familie oder im familiären Umfeld statt:
Sexueller Missbrauch kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und betrifft somit die gesamte Bevölkerung,
Damit ein aktiver sexueller Missbrauch von Kindern stattfinden kann, braucht es – ganz einfach – den Kontakt zu Kindern. Das kann im realen Leben vorkommen oder auch virtuell
über das Internet. Der mögliche Täter-Opfer-Kontakt kann in der Familie und überall dort stattfinden, wo man Kontakt zu Kindern hat: In der Schule, im Verein, im Freizeitangebot. Es kann “zufällig” passieren oder systematisch.
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Insbesondere der Missbrauch durch Priester, Mönche, Nonnen, Erzieher in der Katholischen Kirche wurde zu Recht skandalisiert – denn hier wurden über Jahrzehnte weltweit – und nicht nur in Deutschland – tausende, vermutlich zehntausende von Kindern sexuell missbraucht. Häufig sehr schwer und über Jahre. Dieser Skandal an sich, zog einen weiteren nach sich: Nicht nur war die Bereitschaft zur Aufklärung mangelhaft, es wurde sogar mit allen Mitteln versucht, Aufklärung zu verhindern.
Verbogene “Wahrheit”
Bei den Missbrauchsfällen im Miramar wurde versucht, eine mangelhafte Aufklärung zu konstruieren: Ist es nicht “wahr”, dass Staatsanwaltschaft und Polizei sechs Fälle in 2017 “nicht” öffentlich gemacht haben? Das ist zutreffend, aber ist es “wahr”? Was meint hier “Wahrheit”? Wahr ist nämlich auch, dass insbesondere Straftaten gegen Kinder sensibel behandelt werden und hier persönliche Schutzrechte häufig höher wiegen als ein Anspruch auf Öffentlichkeit. Diese Fälle fließen in die Statistik ein und werden damit – anonym – öffentlich.
Wahr ist auch, dass Staatsanwaltschaft und Polizei nichts “verheimlicht” haben – auf Anfrage informierten die Behörden über die Anzahl, das Alter, die Herkunft, die Staatsangehörigkeit, das Alter des Opfers und die Art der Straftat. “Moment”, sagen Sie jetzt – “wenn die Behörden auf Anfrage informieren, warum dann nicht gleich? Was ist der Unterschied?”
Die Antwort auf diese Frage ist sehr komplex. In aller Kürze: Es gibt keine Pflicht, die Öffentlichkeit über nicht-öffentliche Vorfälle zu informieren oder über solche, die kein allgemeines öffentliches Interesse von Gewicht haben. Jetzt sagen Sie: “Wenn es so viele Missbrauchsfälle gibt, dann ist das doch von erheblichem öffentlichen Interesse, oder nicht?” Da liegen Sie richtig. Doch muss man die Persönlichkeitsrechte der Opfer und der Täter und auch Rechte Dritter berücksichtigen, wie zum Beispiel dem Miramar, also einem Betrieb, dessen Ruf gefährdet werden könnte. Zudem sind in fünf Fällen mutmaßliche Opfer und Täter ermittelt, zwei Fälle wurden bereits mit Strafbefehlen abgeschlossen. In einem Fall ist der Tatverdächtige unbekannt und eine Beschreibung, die zu dessen Ergreifung führen könnte, ist zu ungenau.
Was ist der Skandal?
Ist es nicht trotzdem ein Skandal, wenn in einem Freizeitbad Kinder zu Schaden kommen? Richtige Frage, die man prüfen muss. Wir haben das im Gegensatz zu anderen Medien mit aufwändiger Recherche getan und festgestellt, dass Missbrauch mutmaßlich (dieses Wort ist zu gebrauchen, bis ein Missbrauch gerichtlich festgestellt worden ist, es gilt die Unschuldsvermutung, über die jeder froh ist, gegen den vielleicht zu Unrecht Vorwürfe erhoben werden) stattgefunden hat. Genauer betrachtet waren das 2017 drei Fälle von Exhibitionismus, ein Fall ist als gemeinschaftliche Nötigung angeklagt und zwei Mal wurden Geschlechtsteile berührt. Einen schweren Missbrauch gab es nicht.
Wir haben weiter eine Einordnung versucht und haben berechnet, dass die Zahl der Fälle im Miramar vermutlich nur halb so groß ist, wie auf die Gesamtbevölkerung betrachtet. Ist das die Wahrheit? Nein, wir haben eine Annahme getroffen, die wir aber für plausibel halten (Anm. d. Red.: siehe am Ende dieses Artikels). Das Problem: Man kann es nicht genau berechnen.
Wir gehen aber davon aus, dass insbesondere Bäder Tatort sein können, aber eher weniger als andere Örtlichkeiten, denn Täter suchen keine Öffentlichkeit. Selbst Exhibitionisten suchen eher abgelegene Tatorte. Eben weil in einem Bad sehr viele Menschen sind, gibt es auch sehr viele potenzielle Zeugen. Nach unserer Einschätzung verringert das die Gefahr von Missbrauch. Weiter haben wir nachgewiesen, dass zwei Fälle spätabends begangen worden sein sollen und die Eltern nicht in der Nähe der Kinder waren, die Opfer wurden. Hätten die Eltern besser aufgepasst, wäre es vielleicht nicht dazu gekommen. Schuld ist und bleibt der mögliche Täter.
Viele Wahrheiten
Die “Wahrheit” ist, dass das Thema gesellschaftlich nach wie vor tabuisiert ist und Täter häufig nicht entdeckt werden, weil sie ihre Macht ausnutzen: Ob als Familienmitglied, als Jugendwart, Lehrer, Priester oder in anderer Funktion. Mütter, die feststellen, dass der Vater der gemeinsamen Tochter diese missbraucht, sind in verzweifelter Lage: Die Anzeige führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Ausschluss des Täters aus der Familie. Es droht zudem ein gesellschaftlicher Makel. Oft werden Mütter deshalb zu Co-Täterinnen, weil sie schweigen, aus Angst vor den Konsequenzen.
Die Wahrheit ist auch, dass es viel zu wenig Therapieangebote gibt, um präventiv Männern mit entsprechenden Neigungen – für die sie schuldhaft nichts können, sie sind eben nicht “pervers”, sondern krank – Hilfe anzubieten, damit es eben nicht zum Missbrauch kommt. Damit betreibt man übrigens keinerlei “Täterschutz”, sondern aktiven Schutz, damit Opfer eben nicht dazu werden.
Die behördliche Verfolgung der angezeigten Taten, acht in 12 Monaten, ist in sechs Fällen erfolgreich, in vier noch nicht abgeschlossen. Ein Fall wird vermutlich nicht aufgeklärt werden können, weil es zu wenige Anhaltspunkte gibt, den Täter zu finden, ein anderer kann vermutlich erfolgreich aufgeklärt werden, weil die Personenbeschreibung sehr eindeutig ist. Das “Hellfeld” ist hier also fast 100 Prozent. Und auch das ist eine andere Wahrheit, als andere Medien der Region sie verbreitet haben. Sexualstraftätern “droht” an diesem Tatort eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit der Entdeckung.
Und auch daraus ergibt sich eine andere Wahrheit. Erst mal entdeckt, kommt es zur Strafverfolgung und damit im Anschluss zu Auflagen. Die Täter müssen in Therapie. Sie bekommen Meldeauflagen, möglicherweise Platzverweise. Im Miramar ein Hausverbot. Auch das gehört zu einer anderen Wahrheit: Jeder entdeckte Täter bietet die Chance, dass dieser keine Taten mehr begeht. Klar, es gibt die bekannten Opfer – aber möglicherweise führt die Aufdeckung dazu, dass viele kein Opfer mehr werden müssen.
Wenn man schon die “Anklage” führen will, dann kann man Fragen stellen: Warum gibt es so wenig Therapieangebote? Warum gibt es so wenige Anlaufstellen für Opfer? Warum gibt es so wenig Präventionsangebote? Was leisten die Behörden an Aufklärung? Warum gibt es keine gesellschaftliche Debatte, die sich vernünftig dem Thema sexueller Missbrauch widmet?
Wenn Medien komplexe Sachverhalte “verdichten” und in eine Richtung drehen (man nennt das “einen Spin geben”) betreiben sie keine gesellschaftliche Aufklärung durch zutreffende Information, sondern verantwortungslose Kampagnen. Sie verdrehen einen wahren Kern in eine nicht mehr wahre Geschichte bis hin zur Lüge, siehe Bild, die behauptet, im Miramar gehe die “Kinderschänder-Angst” um.
Lügenpresse gab es schon immer
Gibt es sie also, die Lügenpresse? Ja, es gibt sie und gab sie schon immer. Wurde das früher “aufgedeckt”, nannte man es “Zeitungsente” oder “Falschmeldung”, heute “Fakenews”. Viele etablierte Medien versuchen, “Fakenews” Politikern oder neuen Medien zuzuweisen. Das ist legitim, wenn eine Nachricht falsch ist, ist sie falsch. Umgekehrt aber hat man extreme Probleme, selbst einzugestehen, wenn man mindestens fehlerhafte Nachrichten verbreitet.
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Auch hier kann man eine andere Perspektive einnehmen: Gerade weil es heutzutage viel einfacher ist, auch für “normale Bürger”, falsche Nachrichten durch eigene Recherchen zu erkennen, kann das dazu führen, dass professionelle Medien umso genauer arbeiten müssen, damit sie als “Wahrhaftigkeitsmedien” wahrgenommen werden. Viele Medien verhalten sich also ähnlich der katholischen Kirche: Statt sich nachgewiesener “Missbräuchlichkeiten” von Informationen aufklärerisch zuzuwenden, wird erstmal alles abgestritten und möglichst mit dem Mantel des Schweigens belegt.
Unsere Devise ist: Wir informieren nur über von uns geprüfte Inhalte und wir nennen Quellen genau und nachvollziehbar. Wenn wir Inhalte von Dritten anbieten, können wir nicht immer alles gegenprüfen, das ist nicht leistbar. Wir zeigen aber immer auf, woher der Inhalt kommt. Bei behördlichen Informationen gehen wir zunächst von zutreffenden Informationen aus, weil Behörden dazu verpflichtet sind und behördliche Lügen meist direkte Konsequenzen haben. Entdecken wir bei uns Fehler, ob selbst oder durch Hinweis, werden diese transparent korrigiert (aber einer gewissen “Höhe”, Rechtschreibfehler erreichen diese Höhe nicht).
Wahrhaftigkeit vs. Spin
Warum trennen wir zwischen “Wahrheit” und “Wahrhaftigkeit”? Weil es “die Wahrheit” (außerhalb der Mathematik) meist nicht gibt. Ein Beispiel: Che Guevara hat nachweislich gelebt und war von 1956-1959 ein zentraler Anführer der kubanischen Rebellenarmee. Für die einen ist er ein Freiheitskämpfer, für andere ein Terrorist. Beides ist als Meinung “wahr”. Oder kennen Sie dieses Paradoxon? “Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.“ Sagt Epimenides die Wahrheit oder lügt er?
Gesellschaftliche Geschehnisse bestehen meistens aus komplexen Zusammenhängen, manchmal sind sie einfach zu verstehen, manchmal sind sie kompliziert. Oft gibt es viele “wahre” Inhalte, dazu aber fehlerhafte oder sogar gelogene. Ein Lüge im Umfeld von ansonsten wahren Informationen, kann eher bedeutungslos sein, aber auch verheerend. Guter Journalismus versucht, wahrhaftige von unwahrhaftigen Informationen zu unterscheiden und ordentlich einzuordnen. Das ist eine harte Arbeit, für die es viel Wissen und Erfahrung braucht. Siehe Miramar – von der “Angst” bleibt nur übrig, dass man sich vor skandalisierenden Medien fürchten muss, wenn man bei Verstand ist.
Wenn wir Sie immer wieder auffordern, unsere Arbeit mit Geld zu unterstützen, indem Sie uns fördern oder unser Bezahlangebot wahrnehmen, hat das auch mit Wahrheit zu tun: Guter Journalismus kostet Geld. Umgekehrt: Ohne Geld gibt es keinen guten Journalismus. Und auch das ist wahr: Es wird viel Geld an andere bezahlt, die keinen Journalismus anbieten, sondern Public Relations oder für “spin-doctors”, also “Beratern”, die Inhalten einen Dreh geben sollen.
PR-Leuten und Beratern wollen wir nicht pauschal unterstellen, dass sie aktiv Lügen verbreiten. Das kommt immer wieder vor, aber häufig auch nicht. Sie bieten aber nur Teile oder gefilterte “Wahrheiten” an, denn sie handeln nicht im Auftrag für die Öffentlichkeit, sondern im Interesse ihrer Auftraggeber. Manchmal trifft das auch auf Medien zu, was ebenfalls einen Missbrauch darstellt.
Übrigens, auch das ist eine Wahrheit: Nicht berichtete Informationen verbiegen die Wirklichkeit manchmal mehr als berichtete Informationen, weil, was nicht bekannt ist, niemals geschehen ist. Damit sind wir wieder beim aktuellen Fall. Hier haben wir Ihnen nachvollziehbar dargestellt, dass die Wahrheit nicht verbogen werden sollte, sondern es nachvollziehbare Gründe gab, warum die Missbrauchsfälle erst später bekannt wurden. Es gab und gibt keinen Skandal – dieser wurde konstruiert, um “Aufregerstories” zu haben.
Vorsichtig sollte man immer werden, wenn es um Inhalte geht, die für “Empörung” sorgen (sollen) – denn dann bleiben Wahrheiten schnell auf der Strecke.
Angebote zur Hilfe bei pädophilen Neigungen findet man hier: Kein Täter werden.