Rhein-Neckar, 06. März 2018. (red/pro) Holger Karsten Schmidt ist mehrfacher Grimme-Preisträger (u.a. „Mord auf Amrum“ 2010, „Das weiße Kaninchen“ 2017). Für die ARD (Degeto/Ziegler/Radio Bremen) hat der das Drehbuch zu „Gladbeck“ verfasst. Das Geiseldrama wird am am Mittwoch (07.03.18) um 20:15 Uhr, sowie gleiche Uhrzeit am Donnerstag (08.03.18) im ersten Programm ausgestrahlt. Im Interview erzählt er, wie er mit dem realen Kriminalfall, bei dem zwei junge Menschen erschossen worden sind, fiktional umgegangen ist. Der erfolgreiche Drehbuchautor gilt als Spezialist für schwierige Fälle.
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Interview: Hardy Prothmann
Holger, Du bist bekannt dafür, dass Du immer wieder darauf hinweist, dass ein Film und das zugrunde liegende Drehbuch häufig mal voneinander abweichen. „Gladbeck“ ist fertig und wird als Zweiteiler in der ARD gezeigt. Ist der Film nach Deinem Drehbuch gelungen?
Der Film ist sehr gut geworden. Ich bin mit ihm sehr einverstanden.
Der Aufwand war enorm
Der Film versetzt uns nach 1988 zurück. Wie groß war der Aufwand?
Das war eine Ausstattungsorgie. Die Autotypen, Kennzeichen, die Mode, die Vokuhila-Frisuren (vorne kurz und hinten lang), alles musste besorgt oder hergestellt werden. Man hat sogar eine Autobahn-Raststätte nachgebaut. Der Aufwand war wirklich enorm.

Holger Karsten Schmidt. Foto: privat
Die Lebenswirklichkeit des Geiseldramas hat den Handlungsrahmen gesteckt. Mit welcher Haltung bist Du an den Stoff gegangen?
Ich war damals 23 Jahre alt. Ich habe damals nicht begreifen können, warum der Zugriff erst so spät erfolgte. Und nicht nur für mich war das ein Sündenfall des Journalismus – es gab keinerlei Distanz mehr, die Reporter waren Teil des Geschehens.
Den Opfern eine Stimme geben
Der Film erzählt sehr nah am
tatsächlichen Geschehen, was Deine künstlerische Freiheit einschränkt. Warum hast Du den Stoff gemacht?
Als ich gefragt wurde, habe ich klar gemacht, dass die Täter Degowski und Rösner eine viel zu große Plattform hatten und ich mich mehr denen widme, die heute keine Stimme mehr haben, weil sie tot sind, also die beiden Opfer, der 15-jährige Emanuele di Gorgi und die 18-jährige Silke Bischoff.

Degowski (Alexander Scheer) bedroht die Geisel Silke (Zsa Zsa Inci Bürkle) mit geladener Waffe.
Bild: ARD Degeto/Ziegler Film/Martin Valentin Menke“ (S2).
Du sagst, Du hast damals nicht begriffen, warum nicht früher zugegriffen wurde. Hast Du es heute verstanden?
Die Polizei hat es sich nicht einfach gemacht. Die Täter waren für die Polizei unberechenbar. Sie haben nicht rational gehandelt. In Bremen hatte das SEK sie alle drei vor dem Lauf: Rösner, Degowski, Löblich – man hätte sie erschießen können. Klar. Es gab eine Geiselnahme, aber es gab keine unmittelbar lebensbedrohende Lage und das damalige Polizeigesetz hat eben nicht erlaubt, die finalen Schüsse anzuwenden. Befiehlt man da möglicherweise rechtswidrig drei Kopfschüsse? Ich weiß nicht, ob ich in der Lage des Einsatzleiters das hätte verantworten wollen. Heute ist so ein Einsatzverlauf nicht mehr vorstellbar. Es gibt ganz andere technischen Voraussetzungen.
Den ersten Entwurf musste ich wegwerfen
Hast Du jemanden der Beteiligten getroffen?
Nein.
Warum nicht?
Als ich „Ramstein“ gemacht habe, habe ich Angehörige getroffen. Das hat mich zwar sehr für diese Menschen eingenommen, aber auch eine objektive Sicht auf die Ereignisse zunichte gemacht.
Das sollte mir hier nicht passieren, deswegen haben Rechercheure dort nachgebohrt, wo ich noch Nachfragen hatte. Der Regisseur hat mit Zeitzeugen gesprochen und die Produktion mit den Angehörigen der Opfer. Frau Ziegler, die Produzentin, steht zum Beispiel seit drei Jahren in engem Kontakt mit der Mutter von Silke Bischoff. Der Fall ist außerdem sehr umfassend dokumentiert. Darauf habe ich mich gestützt. Ich bin der Autor, der eine Geschichte erzählt, kein Rechercheur oder Ermittler.
Es gab einen Rechercheur. Was hat der Dir vorgelegt?
Der Produzent hat einen Rechercheur beauftragt, der viel Material aus der damaligen Berichterstattung zusammengetragen und mir eine minutiöse Chronologie der Ereignisse erstellt hat. Darauf basierte mein erster Drehbuchentwurf. Den musste ich aber noch sehr korrigieren.
Warum?
Weil sich im Laufe der Bearbeitung viele Fragen ergeben haben und bei deren Überprüfung eben auch, dass insbesondere in den Archivartikel von Spiegel und Stern unscharfe, falsche oder sogar erfundene „Informationen“ enthalten waren.
Fakenews – schon damals
Ein Beispiel?
Einmal soll Rösner die Polizei angerufen haben – es soll kein Gespräch zustande gekommen sein, weil der betreffende Beamte gerade auf der Toilette war. Das war frei erfunden.

Ein Geiseldrama als bizarres Spektakel: Fotografen und TV-Teams umringen die Gladbeck-Entführer in der Kölner Innenstadt.
Bild: ARD Degeto/Ziegler Film/Martin Valentin Menke“ (S2)
Der Sündenfall lange vor dem Begriff „Fakenews“?
Wenn Du so willst – ja. Um einen authentischen Blick zu erhalten, benötigte ich darüber hinaus noch verlässlichere Quellen.
Was war die Lösung?
Ich habe mir die Unterlagen der Untersuchungsausschüsse besorgen lassen. Da hatte ich dann siebenhundert Seiten kleinbedrucktes Papier vor mir – mit geprüften Informationen. Das habe ich durchgearbeitet.
Das war wie ein Sog – ein Verbrechen in Echtzeit
Hat der Film eine moralische Sicht auf die Geschehnisse?
Nein. Mein Ansatz war von Anfang an, dass ich niemanden verurteilen, sondern dass ich verständlich machen wollte, was damals vorgefallen war. Der Zuschauer bekommt keine Meinung vorgekaut, die muss er sich selbst bilden.
Du hast Dich, obwohl kein Journalist, sehr viel tiefer in die Materie eingearbeitet, als ich, denn ich kenne die Akten nicht und mache ja keinen Bericht zur Sache, sondern ein Interview zum Film mit Dir. Welchen Eindruck hast Du, dass die Dinge sich damals so entwickeln konnten, wie sie sich entwickelt haben?
Das war wie ein Sog. Die Journalisten waren irgendwann von einer Art Herdentrieb erfasst. Ein Verbrechen in Echtzeit zu berichten, das gab es noch nie zuvor. Einer sagte damals aus: „Die anderen standen ja auch schon da, dann bin ich da halt auch hin.“ Keiner wollte wohl zu kurz kommen, etwas verpassen und in den Medienhäusern gab es auch entsprechende Erwartungen.
Die Geiselnahme von Gladbeck:
Am 16. August 1988 überfielen Dieter Degowski (31) und Hans-Jürgen Rösner (32) eine Filiale der Deutschen Bank im nordrhein-westfälischen Gladbeck – es folgte eine zweitägige Flucht mit Geiseln durch Norddeutschland und die Niederlande. Später kam noch die Freundin Rösners, Marion Lieblich (35) dazu. In einem entführten Linienbus ermordete Degowski den 15-jährigen Schüler Emanuele di Giorgi. Am 18. August kam es zum Showdown durch die Polizei auf der A 3 bei Bad Honnef. Dabei starb die Geisel Silke Bischoff (18), nach Angaben der Behörden durch eine Kugel aus der Pistole von Rösner. Ein Polizist starb infolge eines Unfalls bei einer Verfolgungsfahrt. Dieter Degowski kam am 15. Februar 2018 nach fast 30 Jahren Haft unter Auflagen auf freien Fuß. Er hat eine neue Identität. Löblich kam nach sechs Jahren wegen guter Führung frei. Rösner sitzt weiterhin ein und scheiterte mit dem Versuch, den Film verbieten zu lassen. Die Geiselnahme von Gladbeck gilt als medialer Sündenfall – ein Tross von Journalisten begleitete die beiden Straftäter und machten das Verbrechen zu einer „Echtzeitberichterstattung“.
Wie weit ging das?
Spätestens als ein Bildfotograf den Kopf des ermordeten Emanuele anhob, damit andere Fotografen den Jungen aufnehmen konnten, hätte jedem klar sein müssen, dass hier maßlos Grenzen überschritten worden sind. Oder in der Kölner Fußgängerzone, wo auch ein Zugriff hätte stattfinden können, aber Polizeibeamte durch Journalisten behindert wurden und manche sich regelrecht mit den Verbrechern solidarisierten. Andere Reporter versuchten, in die verfolgenden Polizeiwagen zu springen, um dran zu bleiben. Da sind so viele absurde Sachen passiert, das kann man sich gar nicht ausdenken. Wenn ich so etwas in einem fiktiven Buch vorschlagen würde, würde man mich zu recht fragen, ob bei mir was durchgegangen ist. Vieles klingt komplett unglaubwürdig, aber es ist das wahre Geschehen von damals.
Udo Röbel ist nur der Obersündenbock
Sicher hast Du Dich auch mit Udo Röbel beschäftigt – der Express-Reporter ist damals sogar mit den Geiselnehmer im Auto mitgefahren. Was denkst Du über ihn?
Eigentlich tut er mir fast leid. Er ist der Obersündenbock, dabei steht er eigentlich für viele. Rösner sprach ihn an: „Kannst Du uns hier rausbringen?“ Er traf eine spontane Entscheidung. Er wollte eine exklusive Geschichte, also hat er es gemacht. Andere hätten es vermutlich auch gemacht. Hätte ich es auch gemacht, wäre ich damals ein junger Journalist gewesen? Das weiß ich nicht. Ausschließen kann ich es vermutlich nicht.
Wir kennen uns schon lange und ich weiß, dass Du eigentlich die Freiheit des Fiktionalen genießt. Warum jetzt wieder ein Drehbuch zu einem realen dramatischen Fall?
Ich werde immer wieder zu realen Ereignissen angefragt: „Der Briefbomber“, „Der Stich des Skorpion“, „Mord in Eberswalde“ beispielsweise basieren alle auf realen Fällen. Die Bedingungen für solche Stoffe sind andere. Aber wenn ich einen Zugang dazu habe, mache ich das. Ein anderes Beispiel: „Die Sturmflut“ basiert auch auf einem realen Ereignis, aber das waren vielleicht zehn, zwanzig Prozent realer Rahmen, der Rest war eine packende emotionale Erfindung von mir. Das war auch der Auftrag: Der Film sollte ein Quotenbringer werden. Das ist gelungen.
„Gladbeck“ orientiert sich nah am echten Geschehen – was ist fiktional?
Das, was ich vorhin angesprochen habe: Die Stimmen der Getöteten. Sie sind verstummt. Sie konnten später keine Aussage mehr machen. Mir war es wichtig, mich in sie einzufühlen und Ihnen eine Stimme zu geben.
Zur Person:
Holger Karsten Schmidt (52) wuchs in Hamburg auf und studierte in Mannheim Germanistik und Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Medienwissenschaft. Zuvor machte er eine Ausbildung als Datenkaufmann. Er wechselte nach Ludwigsburg und studierte dort an der Filmakademie – später wirkte er hier als Dozent. Für den SWR entwickelte der die Tatort-Charaktere Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare). Der vielfach preisgekrönte Drehbuchautor ist auch als Schriftsteller tätig. 2011 erschien sein erster mittelalterlicher Kriminalroman „Isenhart“ (hier unsere Besprechung). 2015 folgte der Thriller „Auf kurze Distanz“. 2017 folgte „Lost in Fuseta“ unter dem Pseudonym „Gil Ribeiro“. Der Krimi ist der Auftakt einer Reihe: Der Hamburger Kriminalkommissar Leander Lost wird im Rahmen eines europäischen Austauschprogramms nach Faro an der Algarve versetzt und löst dort Kriminalfälle. Das ist ein Markenzeichen des Autors Schmidt: Er verwendet gerne biografische Erlebnisse und Kontakte in seinen fiktionalen Geschichten. „Prothmann“ oder „Hardy“ beispielsweise kommen auch ab und an vor – als Depp oder Fiesling. Oder als aufrechter Polizist („12 Winter“). Das hat der Freundschaft bislang keinen Abbruch getan.
Du nimmst auch die beteiligten Journalisten und Medien kritisch in den Blick – wegen ihrer Sensationsgeilheit. Kann man den Vorwurf umdrehen? Wird hier nicht ein reales Drama filmisch sensationalisiert?
Deine Frage ist berechtigt. Stell sie mir nochmal, nachdem Du den Film gesehen hast. Das ist wirklich harter Stoff und kein Vergnügen. Natürlich wünschen alle Beteiligten auch eine gute Quote, aber das war nicht mein Auftrag. Stofflich gibt es so viel Material, da hätte man fünf bis sechs Teile draus machen können. Die ARD hat sich für einen Zweiteiler entschieden, auch deshalb, weil die Atmosphäre so dicht ist, dass man zwischendrin durchatmen können muss – in einem Rutsch ist das nur schwer zu ertragen.
Diese Geschichte konnte man nicht erfinden
Mit was bleiben die Zuschauer zurück, wenn sie beide Teile gesehen haben?
Das wird jeder Zuschauer selbst erleben müssen. Ich war damals fassungslos und bin es heute immer noch. Es gibt dramatische Entwicklungen, die nehmen einen nur schwer verstehbaren Verlauf. Trotzdem ist es wichtig, sich gerade damit auseinanderzusetzen. Das echte Leben schreibt manchmal Geschichten, die man sich eigentlich nicht vorstellen kann.
Anm. d. Red.: Holger Karsten Schmidt und Hardy Prothmann kennen sich seit 1990 aus dem Studium in Mannheim und führen eine Fernfreundschaft.