Heidelberg/Rhein-Neckar, 24. Juli 2015. (red) Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) hatte es am Mittwochabend in Kirchheim vor rund 800 Bürger/innen freundlich ausgedrückt „nicht einfach“. Aktuell sind rund 2.500 Flüchtlinge auf Patrick Henry Village untergebracht. Die Sorgen sind groß. Die Vorurteile auch. Die Tatsachen gegeben. Ebenso wie die Gerüchte. Die Ministerin war zum Thema Flüchtlinge zur Flucht nach vorne angetreten. Sie hat sich gestellt. Der Ablehnung. Den Fragen. Der Stimmung. Und das hat sie gut gemacht.
Von Hardy Prothmann
Das Bürgerzentrum in Kirchheim ist so voll, wie es noch nie voll war. Geschätzt gut 700 Bürger/innen. Alle Plätze besetzt. Viele müssen stehen, überall drängt man sich, selbst draußen im Foyer, vermutlich sind es sogar mehr als 800 Personen. Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney (45) ist vor Ort, sie will sich drängenden Fragen der Bürger stellen. Das wird sie auch machen.
Die Atmosphäre im Saal ist spannungsgeladen, teils aggressiv. Nach der Begrüßung durch den Stadtteilvereinsvorsitzenden Jörn Fuchs redet die Integrationsministerin Bilkay Öney – oder, sie versucht es. Immer wieder wird sie durch Zwischenrufe unterbrochen. Immer wieder muss Herr Fuchs als Moderator „eingreifen“, immer wieder wird Herr Fuchs aber auch „anheizen“.
Buh-Rufe – aber auch viel Applaus
Frau Öney behält die Ruhe – und das macht viele noch unruhiger. Viele Bürger interessieren sich anfangs nicht für die Inhalte, die die Ministerin vorträgt, sondern wollen ihre Wut loswerden. In der Presse wird sie am Tag danach nochmals in die Mangel genommen – die Rhein-Neckar-Zeitung berichtet über „Buh-Rufe und Pfiffe“. Das ist korrekt. Das gab es zwei Mal kurz während der zweieinhalbstündigen Veranstaltung. Davon, dass die Ministerin wiederholt viel Applaus erhalten hat, berichtet die Zeitung nichts.
Die ersten Buh-Rufe handelt sie sich ein, als sie von 2.000 Flüchtlingen spricht – dabei waren es vor kurzem noch rund 2.800, an diesem Abend 2.600. Hier war sie schlecht durch ihr Team unterrichtet. Für die Bürger kommt es auf jede einzelnen an – aus Sicht der Ministerin kommen aktuell täglich 4-500 dazu, die verteilt werden müssen.
Kirchheim – Zusammenhänge interessieren nicht
Als sie versucht, die „Gesamtlage“ zu erläutern, muss sie sich der Dorfprovinz beugen. Brandanschläge in der Nähe von Karlsruhe oder andere Themen interessieren nicht. Es soll nur über Kirchheim geredet werden. Gleichzeitig insistiert man auf der Frage, warum in Mecklenburg-Vorpommern die Bearbeitung von Asylanträgen nur halb so lang dauere, wie in Baden-Württemberg. Sie erläutert, dass man hier sehr viel mehr Flüchtlinge habe und dementsprechend mehr Arbeit. Und sie verzichtet auf den schwarzen Peter an die Bundesregierung – denn die Bearbeitung der Anträge ist nicht Ländersache.
Als Bilkay Öney darüber spricht, dass die Situation eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei und wenn alle zusammen arbeiten würden, sofort eine Entlastung eintreten könnte – bekommt sie viel Applaus. Nur keine Berichterstattung dazu – außer bei uns.
Es werden Fragen aus dem Publikum vorgelesen – erstaunlicherweise nur solche, die sich empören. Gibt es keinen unter den 800, die eine Frage wie „Wie können wir helfen?“ aufgeschrieben haben? Man hat den Eindruck, dass die Fragen klar selektiert werden. Und aus dem Publikum dürfen Fragen gestellt werden, die sich oft in ermüdenden Statements ohne Frage ergehen.
Bilkay Öney lässt es über sich ergehen. Sie ist nicht gestylt, sie hat eine Art Baumfällerhemd an, eine schwarze Hose, trinkt Eistee und hat vor sich ein paar Blätter einseitig bedrucktes Papier, auf dem sie sich Notizen macht. Sie sitzt zwar neben Herrn Fuchs, aber sie stellt sich alleine dem Unmut, den Fragen, den Blicken, der Situation.
Quellenlagen – Blogs, Zeitungen, andere Medien
Plötzlich sagt die Ministerin:
Ich gebe Ihnen Recht. Was unsere Informationspolitik angeht, da müssen wir besser werden, damit die Bürger nicht den Eindruck haben, dass sie hinter das Licht geführt werden. Ich informiere mich regelmäßig und ich habe den Eindruck, dass der Rheinneckarblog sehr sachlich, sehr informativ und sehr transparent über die Probleme berichtet. Ich lese den Rheinneckarblog sehr gerne, weil er einfach auch ungeschönt die Wahrheit aufschreibt.
Uff. Ich stehe neben der Ministerin und wundere mich. Denn unsere Berichterstattung war, freundlich ausgedrückt, nicht unbedingt das, was sonst von Politikern als „angenehm“ empfunden wird. Wir haben Frau Öney journalistisch ziemlich hart angefasst. Und dafür lobt sie uns? Das ist keine ganz alltägliche Erfahrung. Ich habe sie an diesem Mittwoch persönlich das erste Mal getroffen.
Unsere Berichte über den Zoff um ihr Ministerium. Unsere Reportage über das Camp in Schwetzingen. Unser Berichte über „PHV“ und die vielen Probleme, die damit verbunden sind. Die Sorgen der Bürger, die Zustände vor Ort, die Belastung für die Polizei und ja – die zunehmende Kriminalität. Wie hat Frau Öney das ausgedrückt: „Ungeschönt die Wahrheit aufschreibt.“
Der Mannheimer Morgen hat es nicht so mit der Wahrhaftigkeit und schreibt:
(…) Sie behauptet auch noch, sie sei über die Lage in Heidelberg bestens informiert. Öney liest nach eigener Darstellung vor allem einen Blog, die Regionalzeitungen dienen ihr demnach nicht als Quelle.
Die Wahrheit ist an diesem Abend insgesamt ein turbulentes Thema. Denn die Wahrheit ist immer eine Frage der Perspektive. Der Haltung. Der eigenen Befindlichkeit. Der Notwendigkeiten. Der Beeinflussung. Der Quellen.
Teilnehmer überwiegend „deutsch“
Unter den vielen Bürger/innen sind kaum „Migranten“ auszumachen. Hier sind ganz überwiegend deutsche Kirchheimer versammelt. Hat der Heidelberger 16.000-Einwohner-Stadtteil wirklich so wenige Migranten? Oder sind die nicht gekommen? Warum nicht? Ich weiß das nicht, das werde ich noch recherchieren, weil das eine Frage ist, die nicht wegläuft. Was ich aus bester Quelle erfahren habe: Das waren nicht alles Kirchheimer, viele waren vom Boxberg, vom Emmertsgrund und aus Heidelberg Süd – also weniger betroffene Menschen. Kamen die von sich aus oder wurde getrommelt?
Auch die Ministerkollegin Theresia Bauer (Grüne) hatte einen Auftritt und hat diesen mit Forderungen verknüpft: Man will eine Begrenzung der Personenzahl, man will einen Shuttle, man will mehr Sozialarbeiter und man braucht Wlan, weil es keinen Empfang auf PHV gebe und die Asylbewerber nach Kirchheim laufen müssen, um dort zu telefonieren.
Das ist Quatsch. Der Empfang auf PHV ist 1a.
Sie lobt die Kollegin für ihren Mut, alleine auszuhalten und man weiß nicht, ob das aufrichtig gemeint oder nicht doch eine Spitze ist. Grün-rot versteht sich in der Koalition bekanntermaßen nur solala.
Politisches Hick-Hack
Immer wieder betont man, man sei nicht fremdenfeindlich und die Kirchheimer hätten gut mit Fremden zusammengelebt und verweist auf die US-Soldaten. Tatsächlich ist PHV eine Kaserne außerhalb des Ortsteils. Die Soldaten liefen nie in Gruppen wie die Flüchtlinge nach Kirchheim. Sie lebten ihr Leben überwiegend auf PHV. Man stilisiert Heidelberg als fremdenfreundliche Stadt und empört sich darüber, dass 16.000 Einwohner mit knapp 3.000 Flüchtlingen „herausgefordert“ werden. Was ist nun die Bezugsgröße? 150.000 Heidelberger oder 16.000 Kirchheimer?
Im Vorfeld der Veranstaltung agierte die Ministerin ungeschickt – den Sozialdezernenten Joachim Gerner (SPD) outete sie als „überfordert“. Dann stellte sich die Frage, was sie Reiterinnen mit vor Flüchtlingen scheuenden Pferden oder Kassiererinnen sagen soll? Was sie direkt geschrieben hat, wird durch den Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner als „Verunglimpfung“ interpretiert und als Mangel an Respekt.
Einen Mangel an Respekt erfährt vor allem die Ministerin an diesem Abend – durch einen Teil der Menschen vor sich. Jenen Teil, der am lautesten Buh ruft und aggressiv zwischenruft und das sind nicht wenige. Der größere Teil will zuhören und wissen, was die Ministerin zu sagen hat.
Ministerin macht Zugeständnisse
Wer genau zugehört hat, versteht: Die Situation wird sich nicht leicht lösen und PHV wird vermutlich über April 2016 hinaus ein Flüchtlingslager bleiben. Die Ministerin hat versprochen, die Zahlen einzuhalten – ihre sind 1.000 als Basis, 2.000 als kann und darüber als möglich. Zurückgewiesen hat sie unsere Informationen, dass es auch 4.-6.000 werden könnten. Und auch, wenn das vielen noch nicht einleuchten mag – eventuell hat unsere Berichterstattung Kirchheim vor größeren Begehrlichkeiten bewahrt.
Weiter hat sie den Shuttle versprochen, mehr Sozialarbeiter und vor allem mehr Transparenz und öffentliche Information.
Klar ist: Vor allem daran hat es bislang gemangelt – an einer klaren Informationspolitik. Ebenfalls deutlich wurde, dass die Bedeutung des Begriffs „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ noch nicht jeden erreicht hat – weder im Bund, noch im Land, noch in den Kommunen, nicht in den Parteien, nicht bei anderen Organisationen und schon gar nicht beim einzelnen Bürger.
Das Thema Sicherheit ist beispielsweise nicht ihres – hier ist das Innenministerium zuständig. Ebensowenig das Thema „Antragsbearbeitung“ – hier ist der Bund zuständig.
„In Kürze“ sollte nicht überdehnt werden
Bilkay Öney hat ihre Sache vor Ort gut gemacht. Sie hat die Flucht nach vorne angetreten, sich gestellt, ausgehalten, sich erklärt und zugehört. Jetzt erwartet man vor Ort die Umsetzung ihrer Ankündigungen, die „in Kürze“ folgen würden. „In Kürze“ ist ein dehnbarer Begriff, den sie nicht überstrapazieren sollte.
Und die Heidelberger ebenso wie die Kirchheimer müssen verstehen, dass sie Teil einer „gesamtgesellschaftlichen Aufgabe“ sind – das gilt auch für Sozialdezernenten, Oberbürgermeister, Ortsvereine und Ministerkolleginnen.
Weitere Fotos von der Veranstaltung: