Heidelberg/Rhein-Neckar/Stuttgart, 24. Juli 2015. (red/ms) Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat heute das Patrick Henry Village (PHV) in Heidelberg besucht. Angeblich spontan ist er für ein paar Stunden mit Integrationsministerin Bilkay Öney und Staatssektretär Klaus-Peter Murawski angereist, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Für 17:30 Uhr war eine Pressekonferenz angekündigt. Die dauerte knapp 25 Minuten und ganze vier Fragen wurden zugelassen. In Sachen Informationspolitik muss sich noch Einiges verbessern. Denn die Pressekonferenz warf für den aufmerksamen Beobachter mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Eine Ansage war allerdings unmissverständlich: Der Ministerpräsident wünscht sich schnellere Abschiebungen.
Von Minh Schredle
Die Flüchtlingszahlen werden quasi im Wochentakt nach oben korrigiert. Anfang des Jahres wurden 50.000 Asylbewerbern prognostiziert. Inzwischen heißt es von Staatssektretär Klaus-Peter Murawski man müsse für das kommende Jahr von 80.000 bis 85.000 Menschen ausgehen. Nach Angaben der Landesregierung rechne man bundesweit mit 600.000 Flüchtlingen – nicht mit 450.000, wie das Bundesamt für Migration und Integration prognostiziert.
Wie die Landesregierung gegenüber dem Rheinenckarblog mitteilt, nehme man die Lage sehr ernst und wolle gut vorbereitet sein – daher gehe man intern von deutlich höheren Flüchtlingszahlen als denen aus, die offiziell vom Bundesamt herausgegeben wurden. So könne man besser und schneller reagieren und geeignetere Maßnahmen durchführen.
In jedem Fall ist klar: Die ansteigenden Zahlen stellen die gesamte Gesellschaft vor große Herausforderungen: Auf Bundesebene. Auf Landesebene. Die Regierungsbezirke. Die Städte, Kreise und Kommunen. Und schließlich die Bürger.

Integrationsministerin Öney und Ministerpräsident Kretschmann auf einer Pressekonferenz im PHV.
Das Heidelberger Patrick-Henry-Village (PHV) sollte als „Bedarfsorientierte Erstaufnahmeeinrichtung“ (BEA) in Notlagen um die 1.000 Menschen – maximal 2.000 Menschen – aufnehmen. Aktuell sind es 2.400, zu Höchstzeiten waren es sogar 2.800. Die Überbelegung verursacht Probleme. Die Stimmung ist angespannt. Immer wieder kommt es zu Konfrontationen unter Flüchtlingen. Und die Heidelberger Bevölkerung wird unruhiger.
Am vergangenen Mittwoch hat sich Integrationsministerin Bilkay Öney dem Volkszorn der Kirchheimer gestellt. Heute besuchte Ministerpräsident Winfried Kretschmann das PHV persönlich, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.
Der Besuch war angeblich spontan – vermutlich eher ein Notfall, um die Gemüter zu beruhigen. Der Ministerpräsident machte keinen entspannten Eindruck.

Der journalistische Andrang war riesig.
Eine Mail mit der Ankündigung erreichte unsere Redaktion um 11:56 Uhr. Für 17:30 Uhr wurde darin eine Pressekonferenz angekündigt. Tatsächlich begann sie ein paar Minuten früher. Das Interesse ist riesig: Rund 35 Journalisten sind anwesend, die meisten von ihnen stehen zu einem dichten Pulk gedrängt nur wenige Meter von Herrn Kretschmann und seiner Begleitung entfernt.
Ein Journalist fragt Herrn Kretschmann, ob dieser wie sein Herausforderer Guido Wolf (CDU) gestern schockiert von der Lage vor Ort sei. Der Ministerpräsident überlegt kurz und runzelt die Stirn. Dann antwortet er:
Schockiert? Nein, schockiert bin ich nicht. Natürlich sind die Zustände hier unwürdig und auf Dauer nicht tragbar. Darüber muss man gar nicht diskutieren. Aber ich wurde gut darüber informiert, wie ernst die Lage hier vor Ort ist. Also konnte ich mich darauf einstellen, was mich erwartet.
Herr Kretschmann spricht davon, dass sich auf dem PHV sehr vieles verbessern müsse: „Und zwar schnell“. Die Menschen bräuchten mehr Beschäftigungsmöglichkeiten. Mehr Sportangebote, ein kleines Kino oder ähnliches. „Damit die Flüchtlinge nicht immer in die Stadt müssen.“

Die Akteure – unter ihnen auch Heidelbergs Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner – sein Blick in Richtung Frau Öney spricht Bände.
Der Ministerpräsident spricht sehr offen davon, dass man die aktuelle Situationen nur mit vielen Notlösungen bewältigen könne. Vieles laufe alles andere als optimal. Eine hilfsbereite Bevölkerung sei in diesen Zeiten das größte Glück für die Politik. Aber man komme auf keinen Fall ohne professionelle Arbeit aus. Und auch hier gebe es eine Menge Nachholbedarf:
Das Kabinett hat in den vergangenen Wochen einen Entwurf ausgearbeitet. Wir wollen den Schlüssel deutlich verbessern. Dann soll sich ein Sozialarbeiter um 100 Asylbewerber kümmern.
Aktuell liegt das vorgeschriebene Verhältnis bei 1 zu 125. Doch davon ist man auf dem PHV meilenweit entfernt: Denn hier gibt es momentan sechs Sozialarbeiter. Für 2.400 Flüchtlinge. Das ist ein Verhältnis von 1 zu 400.

Ministerpräsident Kretschmann macht sich ein Bild von der Kinderbetreuung. Journalisten folgen ihm auf Schritt und Tritt.
Ministerpräsident Kretschmann kündigte an, die Zahl der Sozialarbeiter „so schnell, wie es nur irgendwie geht, deutlich zu erhöhen“. An der Notwendigkeit könne kein Zweifel bestehen, das habe die Situation heute vor Ort deutlich gezeigt. Es gebe allgemein dringenden Handlungsbedarf:
Das Bettenlager im Casino stellt ein großes Risiko für die Gesundheit der Flüchtlinge dar.
Infektionen könnten sich sehr schnell verbreiten – das habe bereits das Sozialministerium beanstandet. Deswegen müsse man „zusätzliche leehrstehende Wohnungen für Quarantäneunterbringung ausweisen“. „Zusätzliche?“ Die sind dann für Quarantärefälle reserviert – aber die anderen sind mit 2.000 Personen voll belegt. Alles in allem klingt das nicht gerade danach, als würde die Überbelegung auf dem PHV in absehbarer Zeit reduziert werden können.
_____________________
Lesetipp: Unwürdige Unterbringung im Container-Ghetto
Schwetzingens Camp der Beschämung
_____________________
Leere Liegenschaften nutzen?
Aktuell hat ein Vorschlag von Ministerpräsident Kretschmann für kontroverse Debatten gesorgt, man solle mehr Flüchtlinge in Ost-Deutschland unterbringen. Herr Kretschmann begründete das unter andererem damit, dass es dort deutlich mehr freistehende Liegenschaften als im Westen gebe und freie Liegenschaften genutzt werden sollten.
Auch auf dem PHV gibt es noch jede Menge freistehende Liegenschaften – bis zu 8.000 US-Soldaten haben hier gleichzeitig gelebt. Momentan gibt es nur eine mündliche Zusage des Landes Baden-Württemberg, dass man maximal 2.000 Menschen auf dem PHV unterbringen werde. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten.

Der Ministerpräsident war weitestgehend konzentriert – aber sehr angespannt an der Grenze zur Übellaunigkeit.
Auf der Pressekonferenz war die Rede von einem Vertrag, in dem die Höchstgrenze von 2.000 Menschen schriftlich und verbindlich festgelegt werden sollte. Oder ist es nur eine Vereinbarung? Doch weil kaum Fragen zugelassen wurden, blieben entscheidende Aspekte unbeantwortet: Ab wann wird der „Vertrag“ in Kraft treten? Und noch viel entscheidender: Welche rechtliche Bindekraft hat er? Wie lange wird der Vertrag gelten? Und was passiert danach?
Informationspolitik verbessern?
Pressesprecher sind an diesem frühen Abend keine mehr zu erreichen. Die Informationslage bleibt desaströs. Was, wenn der Vertrag zeitlich befristet ist? Wenn er 2016 ausläuft – aber das Interesse von Herrn Kretschmann, freistehende Liegenschaften zu nutzen, dann immer noch besteht?
Nach Aussage des Ministerpräsidenten sei es realistisch, ab Oktober die Obergrenze von 2.000 Asylbewerbern auf PHV wieder einzuhalten. Aktuell arbeite man mit Hochdruck daran, neue Erstaufnahmestellen zu schaffen. Bis dahin sei man auf Notlösungen angewiesen.
Eine andere Notlösung sind die knapp 600 „bedarfsorientierten“ Flüchtlinge auf dem Benjamin-Franklin-Village. Gibt es hier eine verbindliche Höchstgrenze, die zwischen der Stadt Mannheim und dem Land Baden-Württemberg vertraglich festgelegt wurde? Aus dem Stand konnte Integrationsministerin Öney keine konkreten Zahlen nennen. Sie versprach, diese nachzureichen.
Auf Nachfrage bestätigte Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner, dass es noch „offene“ Punkte bei den Verhandlungen gebe. Die Zahl der Flüchtlinge? Antwort: „Ja.“
_____________________
Lesetipp: Integrationsministerin Öney stellt sich den Kirchheimern
„Flucht nach vorne“
_____________________
Erst diesen Mittwoch hatte Frau Öney bei einem Bürgergespräch im Kirchheimer Bürgerzentrum von sich aus eingestanden, dass die Informationspolitik und die Kommunikation deutlich verbessert werden müsste – die Pressekonferenz bestätigt das, denn sie wirft mindestens so viele Fragen auf, wie sie beantwortet hat.
Herr Kretschmann kündigte an, die Polizeipräsenz zu erhöhen. Nicht nur auf dem PHV, sondern im gesamten Heidelberger Süden. Er spricht von bis zu 100 Polizisten, die je nach Bedarf und Lage vor Ort zusätzlich eingesetzt werden könnten. Aber wo kommen diese plötzlich her? Wird das Polizeipräsidium Mannheim personell aufgestockt? Oder müssen diese Kräfte von anderswo abgezogen werden? Ab wann und für wie lange kommen sie wie zum Einsatz? Diese Fragen konnte man nicht stellen.
Unmissverständliche Ansage: Schnellere Abschiebungen nötig
Es gab auch klare, unmissverständliche Ansagen: Herr Kretschmann betonte mit Nachdruck, dass nicht das Land Baden-Württemberg für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist. Sondern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dies werde bald um 2.000 Personen aufgestockt. Man habe es bereits geschafft, das durchschnittliche Asylverfahren von neun auf sieben Monate zu verkürzen. Weitere Schritte müssten sukzessive erfolfen.
Ministerpräsident Kretschmann ist ein Grüner. Aber er ist durch und durch Realpolitiker. Alle Asylbewerber können unmöglich aufgenommen werden, sagt er auf unsere Nachfrage völlig offen. Selbstverständlich müsse man die Menschen, die nicht politisch verfolgt werden, abschieben. Dies sei Konsens der Ministerpräsidentenkonferenz. Und man arbeite mit Hochdruck daran, die „Verfahren“ zu beschleunigen. Auf die Klassifizierung von Asylbewerbern von „chancenlos“ nach „chancenreich“ gefragt, antwortete er: „So einfach, wie Herr de Maizìere sich das vorstellt, ist das aber nicht.“
In der Frage der „sicheren Drittländer“ hatte Herr Kretschmann den Zorn vieler Grünen auf sich gezogen, weil fortan Asylsuchende aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien so gut wie keine Aussicht auf Anerkennung haben. Insbesondere aus diesen Ländern und weiteren Balkanstaaten kommen aktuell rund 50 Prozent der Asylsuchenden. Ziel ist, diese schon aus den Landeserstaufnahmestellen heraus abzuschieben. Das würde, statistisch gesehen, die aktuelle Belegung von PHV innerhalb kurzer Zeit auf 1.-1.200 Personen reduzieren. Mal ganz abgesehen von den hohen Kosten.
Aktuell ist Heidelberg in einer guten Lage – die Ministerin war vor Ort, der Ministerpräsident war vor Ort. Beide haben Zusagen gemacht und stehen nun unter Zugzwang.
Aktualisierung – der Abgeordnete Karl Klein (CDU) kommentierte den heutigen Besuch:
Karl Klein MdL: „Kurz vor dem Asylgipfel am kommenden Montag geht der Ministerpräsident auf einen Teil unserer Forderungen ein. Den Worten müssen jetzt aber auch Taten folgen. Es bleibt insbesondere auch unsere Forderung nach einer umfassenden erkennungsdienstlichen Behandlung und einer gesundheitlichen Untersuchung.“
Gefallen Ihnen unsere Artikel?
Dann machen Sie andere Menschen auf unser Angebot aufmerksam. Und wir freuen uns über Ihre finanzielle Unterstützung als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für informativen, hintergründigen Journalismus. Hier geht es zum Förderkreis.

Medienrummel.

Herr Kretschmann mit Frau Öney vor der Kinderbetreuung.

Bilkay Öney im Gespräch mit einem Albaner – auch Albaner werden nach dem Willen von Herrn Kretschmann so schnell wie möglich abgeschoben.

Bilkay Öney im Gespräch mit Polizeirevierleiter Torben Wille.

Ab Montag fahren von hier Pendelbusse für Flüchtlinge in die Innenstadt.

Staatskarossen auf der Abreise.

Fuß- und Radweg von PHV nach Kirchheim und zurück.