Mannheim/Rhein-Neckar, 21. Dezember 2017. (red/pro) Der Prozess gegen angeklagte heranwachsende Schläger, die im Tatalter von 17-18 Jahren einen 28-Jährigen massiv verletzt haben, schreitet voran. Zahlreiche Zeugen werden gehört, dazu Gutachter. Dabei wird deutlich, wie wesentlich journalistische Recherche ist – oder deren Abwesenheit. Das führt nämlich zu ganz wesentlich unterschiedlichen Berichten.
Kommentierender Bericht von: Hardy Prothmann
Ui, “wie ein Gewicht von 250 Kilo” beschreibt ein Gutachter laut einer Lokalzeitung einen mutmaßlichen Sprung auf den Kopf eines Opfers einer Gewaltattacke.
Physik – zwischen Realität und Mystik
Keine Ahnung, wie gut Sie in Physik waren – aber soweit ich mich erinnere, ist das alles etwas kompliziert, wenn man von Gewicht, Gewichtskraft, Masse spricht. Dazu kommen Dichte, Beschleunigung und andere Faktoren, die irgendwie alle miteinander zu tun haben.
Stellen Sie sich eine Situation vor, die Sie möglicherweise schon erlebt haben. Sie bücken sich, Sie gehen in die Knie, auf jeden Fall machen Sie eine Bewegung von unten nach oben und da stellt sich irgendwas in den Weg. Eine Tischkante, eine offene Schranktür. Und es macht Bums. Ihnen tut das weh, vielleicht sogar sehr weh, vielleicht haben Sie auch kurz Sterne gesehen. Haben Sie jemals berechnet, wie viel Weh das in Kilo war?
Wenn Wladimir Klitschko so richtig optimal schlägt und trifft, dann wummst es mit 700 Kilo, heißt es. Also gut das Dreifache der Kilogrammangabe des Gutachters. Niemand schreit auf, sondern alle bewundern diese Kraft. Boxen ist übrigens nicht strafbar, weil das juristisch eine gemeinschaftlich verabredete Körperverletzung ist. Und das ist erlaubt.
Es ist egal, mit wieviel Kilo ein Angriff auf den Schädel erfolgt
Nicht erlaubt ist, jemandem ins Gesicht oder an den Schädel zu treten, der nicht damit einverstanden ist. Schon gar nicht erlaubt ist, wenn das gemeinschaftlich geschieht.
Gar nicht erlaubt sollte ein Journalismus sein, der sein Gehirn bei Tritten an den Schädel ausschaltet. Ein massiver Angriff auf den Kopf eines Menschen, egal wie, ist immer einer, der möglicherweise den Tod des Opfers beabsichtigt.
Es geht in diesem Prozess gegen heranwachsende Straftäter überhaupt nicht um die Frage, ob ein Tritt oder Sprung mit 150, 200, 250 oder mehr Kilo ausgeführt worden ist. Warum? Weil keiner der Täter auch nur ansatzweise in der Lage ist, solche physikalischen Berechnungen durchzuführen und diese auch keine Rolle spielten.
Tatsache ist, dass das Opfer massiv am Kopf verletzt worden ist. Notwendig ist, herauszufinden und zu belegen, wer dafür verantwortlich ist. Der Angeklagte Taufik M. führt die Gutachter und das Gericht vor, wenn er sich erkundigt und genau wissen will, was solche Angaben für eine Rolle spielen sollen.
Taufik M. fällt durch Intelligenz auf, aber nicht durch Verstand
Taufik M. ist intelligent und hat leider mehr Hirn als mancher Prozessbeobachter. Natürlich heißt das nicht, dass er seinen Verstand bislang auch nur ansatzweise intelligent eingesetzt hat. Er ist vollständig auf Krawall gebürstet – das heißt aber nicht, dass seine Fragen keine “Berechtigung” haben. Trotz 250 Kilo Gewichtseinwirkung ist kein Schädel geplatzt. Trotz dieser vermeintlich beeindruckenden Zahl hat das Opfer “nur” eine gebrochene Nase und einige Beulen davongetragen.
Damit das nicht falsch eingeordnet wird: Taufik M. erhält von mir keinerlei Bewunderung. Er ist ein hochkrimineller Straftäter und muss einer gerechten Strafe zugeführt werden, weil er eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Aber er ist halt deutlich intelligenter als die Mitangeklagten. Das ist einfach nur eine Feststellung.
Was Taufik M. nicht auf dem Schirm hat, ist die Motivation der Tat, ganz unabhängig von Kilogramm-Angaben. Wer bereit ist, in einer Gruppe auf einen Menschen loszugehen, aus nichtigen Gründen und diesen schwer zu verletzen und dabei in Kauf nimmt, dass die Physik möglicherweise letale Folgen hat, ist ein brutaler Gewalttäter, der verurteilt werden muss, damit dieser keinen weiteren Schaden mehr anrichten kann.
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Was Taufik M. auch nicht auf dem Schirm hat: Er hat das Recht, Fragen zu stellen und Aussagen in Zweifel zu ziehen. Das sieht der Rechtsstaat so vor und das wird auch eingehalten. Hat sich Taufik M. aber jemals die Frage gestellt, wie paradox sein Verhalten ist? Er ist es, der andere Menschen unrechtmäßig bestohlen, beraubt und verletzt hat. Er ist der Gesetzesbrecher. Er ist der Straftäter. Die anderen waren seine Opfer. Hat er das Recht, sich selbst als Opfer zu sehen?
Ja, hat er. Er kann Gott und die Welt innerlich für sein Schicksal anklagen. Das wird ihm allerdings nicht helfen, weil nicht Gott und die Welt über ihn richten, sondern das Landgericht Mannheim. Nach Recht und Gesetz in diesem Land. Nach klar belegten Straftaten und angemessener Bestrafung. In den Ländern seiner Eltern würde ihm eine andere “Rechtsstaatlichkeit” widerfahren.
Bitter – die behördlichen Ermittlung sind mal wieder unzureichend
Sehr bitter ist bei diesem Prozess, dass wieder einmal deutlich wird, dass behördliche Ermittlungen nicht professionell genug durchgeführt worden sind. Man könnte jetzt klagen, dass die Polizei und die Staatsanwaltschaft “schlampen”. Das kann sein. Viel eher wahrscheinlich ist, dass die Schlamperei mangelnden Ressourcen geschuldet ist. Es gibt zu viele Straftaten und zu wenig Personal. Nach meinen journalistischen Erfahrungen gehe ich nicht von Vorsatz aus, sondern von Überforderung.
Es zeigt sich, dass viele Befragungen und andere Beweismittelerhebungen teils unzulänglich sind und am Ende dazu führen, dass die Straftäter möglicherweise eben nicht vollumfänglich in Verantwortung für ihre Taten gebracht werden können. Mir geht angesichts dieser Erkenntnis das Messer in der Tasche auf. Ich schlitze aber deswegen niemanden auf, ich schreibe nur Texte.
Warum macht mich das ärgerlich? Weil die Straftäter milder davonkommen und weil die Mehrheit der Menschen in diesem Land – davon bin ich überzeugt – immer mehr resignieren. Denn es ist offensichtlich, dass die Behörden zunehmend versagen. Nicht aufgrund von Faulheit oder Desinteresse, sondern aufgrund von mangelnden Ressourcen angesichts überbordender Herausforderungen.
Wir haben aktuell sehr viele Kommentare auf dem Blog nicht veröffentlicht oder bei Facebook gelöscht, weil die Rufe nach Selbstjustiz, irgendwelche Gewaltfantasien keinen Platz bei uns haben.
Kollegen, mehr Hirn bitte
Wünschenswert wäre etwas mehr Hirn bei “Kollegen”. Wünschenswert wäre die Konzentration auf die Sache – ohne reflexhafte Skandalisierung.
In der Analyse ergibt das: Wir sind eine sehr verwöhnte Gesellschaft, in der wir wie selbstverständlich davon ausgehen, dass Kriminalität nicht stattfindet. Es gibt keine solche Selbstverständlichkeit. Wir können diese selbstverständlich einfordern, dann müssen wir aber auch selbstverständlich dafür sorgen, dass wir selbstverständliche Mittel und Wege finden, um diese Selbstverständlichkeit nicht absurd zu machen.
Der Kammer unter dem Vorsitz des Richters Dr. Joachim Bock können weder das Rheinneckarblog noch andere Medien irgendwelche Empfehlungen geben, was ein Strafmaß angeht. Die Richter werden unabhängig urteilen, davon gehe ich aus.
Urteil ist von gesellschaftlicher Relevanz
Aber: Diese Richter stehen bei aller Unabhängigkeit trotzdem in einer gesellschaftlichen Verantwortung. Sie müssen in ihre Betrachtung zuvörderst die Schuld der Angeklagten beurteilen. Sie müssen – das ist meine Meinung – aber auch den gesellschaftlichen Kontext beachten. Hier sitzen keine “Jungs”, wie eine Lokalzeitung diese Angeklagten verniedlicht, auf der Anklagebank, sondern gewalttätige Schläger. Die Angeklagten sind nicht einfach mal so aus Versehen ausgerastet, sondern haben allesamt ein Register.
Selbstverständlich muss das Gericht eine Resozialisierung abwägen. In der Vergangenheit ist diese – zutreffend – absolut gescheitert. Auch diese Erkenntnis muss Gegenstand der Urteilsfindung sein.
Diese Kammer hat nicht nur über Schuld und Unschuld zu urteilen, sondern auch über den Glauben der Gesellschaft an “gerechte” Strafe. Was “gerecht” ist, ist immer relativ – auch im Rechtsstaat. Begrüßenswert wäre, wenn das Urteil Ende Januar ein deutliches Signal setzen würde.
Auch an die Fanbase im Gerichtssaal, die durch ihr Verhalten dafür gesorgt hat, dass die Polizei in einer Stärke von bis zu 40 Beamten diesen Prozess schützen muss. Möglicherweise auch im Zusammenhang mit einer Gewaltattacke auf Beamte in der vergangenen Woche, bei der fünf Polizisten verletzt worden sind – durch jugendliche Schläger.
Den berichtenden Medien sei angeraten, durch Hirn und harte Arbeit aufzufallen, statt durch schlechte Recherche und Skandalisierung. Auch Medien haben in hohem Maße eine Verantwortung für das Befinden der Gesellschaft.
Hinweis zur Transparenz, den Sie bei anderen Medien so nicht finden: Wir waren bei den vergangenen drei Gerichtsterminen selbst nicht vor Ort, sondern haben uns Informationen zutragen lassen. Im Zusammenhang mit unseren eigenen Erfahrungen ordnen wir diese ein und sind ehrlich mit unserer Leserschaft. Wichtig zum Verständnis: Eine Prozessbegleitung liefert zunächst keine “Wahrheit”, was die Anklage angeht, die Zeugenaussagen oder die Verteidigung. Man kann nur protokollieren. Der journalistischen Darstellung sind hier Grenzen gesetzt – die Richter verfügen über Informationen, die weit über die der Journalisten hinausgehen. Wir können nur einordnen, was wir an Informationen haben – möglichst zutreffend.
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