Rhein-Neckar, 21. November 2017. (red/pro) “Jamaika” ist bislang eine Utopie, also eine aktuell im Bund fiktive, aber nicht durch irgendeine Erfahrung oder Tradition vermittelbare Koalitionsform. Aus der Not des Wahlergebnisses und einer Verweigerungshaltung der SPD heraus geboren und durch die FDP in Nöten beerdigt. Alle Beteiligten müssen sich kritisieren lassen, weil sie grundsätzliche Vorbildfunktionen nicht mehr wahrnehmen. Das gilt auch für die Medien und andere Spieler wie Wirtschaftsverbände, Sozialverbände, Kirchen und andere – möglicherweise auch für Sie als Leser/in. Was ist Bund aktuell passiert, kann sich bald kommunal wiederholen.
Von Hardy Prothmann
Deutschland geht es gut, um gleich mal allen Untergangsapologeten den Schaum vorm Maul abzuwischen. Trotzdem ist die zutreffende Frage berechtigt, wie lange das noch so bleibt.
Gewohnte Verhältnisse rutschen
Denn die über Jahrzehnte gewohnten Verhältnisse sind ins Rutschen gekommen. In jeder Hinsicht. In den Zeiten vor der Globalisierung gab es einen überschaubaren Rahmen von Politikfeldern, die den Lauf der Dinge bestimmten. Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, soziale Marktwirtschaft, Wachstum, Arbeitgeber gegen Gewerkschaften et vice versa, Steuern rauf oder runter, Ökologie gegen Technologie, blühende Landschaften. Sie verzeihen, wenn ich hier nicht langatmig werde – dann fiel der eiserne Vorhang. Wiedervereinigung, Ende des kalten Krieges.
Dann kamen die Jugoslawienkriege. Aktiv können sich daran heute nur Leute ü40 erinnern. Das Leid war endlos, die Verbrechen waren brutalst, es kamen viele Flüchtlinge. Trotzdem war die Welt noch einigermaßen in Ordnung, denn die Nato verhinderte völkerrechtswidrig einen völkerrechtswidrigen Exodus von einer Million Kosovo-Albanern, die sich sonst als weitere Flüchtlingswelle über westeuropäische Staaten ergossen hätten – mit vermutet verheerenden Folgen. Übrigens war damals der grüne Außenminister Joshka Fischer entscheidend an der Militärintervention beteiligt, diese “Bedrohung” abzuwenden, die ohne Zweifel zu erheblichen Spannungen auch in Deutschland geführt hätte.
Die Jugoslawienkriege hatten sich lange vor Ausbruch angekündigt und hätten möglicherweise verhindert werden können. Ebenso wie Kriege, die vermeintlich fernab stattfinden, die wir wie damals eher theoretisch, aber jetzt vor Ort eher konsekutiv erleben – durch Flüchtlinge und durch Attacken von Terroristen, weil Deutschland wie andere Länder als Kombattant begriffen wird. Mit Deutschland ist jeder Mensch in Deutschland gemeint. Jeder von uns ist aus Sicht gewisser Leute legitimes Ziel in immer stärker asymmetrisch geführten Kampfhandlungen.
Die Welt steht Kopf
Sie fragen jetzt: Was hat das mit der Bundestagswahl 2017 und der Kommunalwahl 2019 zu tun? Berechtige Frage. Die Antwort ist: Jede Menge. Unsere Welt steht Kopf. Es gibt aktuell weltweit mehr Menschen, die vor direkten oder indirekten Kriegshandlungen fliehen als in der Zeit des 2. Weltkriegs. Das sind aktuell mehr als 60 Millionen Menschen.
Die komplette Levante (Länder im Nahen Osten mit Bezug zum Mittelmeer) ist in Aufruhr, ebenso Ägypten und die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko. Dazu kommen viele Länder in Afrika wie Somalia oder Nigeria und Kongo. Dazu der Hindukusch mit Afghanistan und Pakistan und benachbarten Ländern. Libyen, das aktuelle Nadelöhr für Flüchtlinge, ist ein failed state.
Von überall her fliehen Menschen. Die meisten sind Binnenflüchtlinge, die sich innerhalb der örtlichen Gebiete zu retten versuchen und die ganz sicher keines unserer Wohlstandsprobleme haben. Die rund zwei Millionen, die seit 2015 Westeuropa erreicht haben, sind nur ein sehr kleiner Teil dieser vielen auf der Flucht und derer, die kurz davor sind.
Die allermeisten Menschen, die es bis hier geschafft haben, sind solche ohne Arg. Sie wollen niemandem etwas, sondern nur das, was alle wollen: Leben. Leider befinden sich darunter eine nicht zu ignorierende Zahl von Verbrechern, die anderen was wegnehmen wollen, im Zweifel auch das Leben. Unsere westeuropäischen Gesellschaften sind auf solche “Halsabschneider” institutionell nicht vorbereitet. Alle rechtsstaatlichen Kontroll- und Sanktionsmechanismen scheitern, weil jede abschreckende Wirkung auf diese Halunken fehlt.
Rechtsstaatlichkeit im Dilemma
Die Rechtsstaatlichkeit befindet sich hier in einem erheblichen Dilemma. Der Rechtsstaat ist nur Rechtsstaat, wenn er seine Prinzipien wahrt und diese trotz offensichtlichem Scheiterns bewahrt.
Die USA haben die Rechtsstaatlichkeit massiv verlassen – Stichwort Guantanamo. Menschen wurden dort außerhalb jeder Rechtsstaatlichkeit eingekerkert und misshandelt, gefoltert. Das Experiment ist gescheitert. Möglicherweise haben die USA “wertvolle” Informationen aus Menschen herauspressen können, um hier und da per Drohne Menschen töten zu können, die wir als Terroristen bezeichnen und andere als Freiheitskämpfer sich zum Vorbild nehmen. Tatsache ist, dass die Welt nicht besser geworden ist, sondern der Terror sich weltweit verbreitet. Übrigens auch in asiatischen Ländern, worüber wir aber nur wenige Informationen haben.
Sie fragen schon wieder: Was hat das mit der Bundestagswahl zu tun? Was mit der kommenden Kommunalwahl? Die Frage bleibt gut und berechtigt.
Europa erlebt in vielen Ländern einen so genannten “Rechtsruck”. Das ist – so bewerte ich das – teils sehr unangenehm und insbesondere dann alarmierend, wenn in der Folge rechtsstaatliche Prinzipien angegangen werden. Aus meiner Sicht beispielsweise die Presse- und Medienfreiheit. Aber ist es so wenig nachvollziehbar?
Macron ist ein Symbol
Schauen wir nach Frankreich. Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron hat die Präsidentschaftswahl gewonnen. Er hat Erfahrung mit dem traditionellen Parteiensystem. Aber er hat es verlassen, “En Marche” gegründet und war erfolgreich. In deutschen Medien wird er als so eine Art “Hoffnung” für Europa gefeiert, französischen Sozialisten gilt er als Verräter. Man könnte ihn auch einen erfolgreichen Separatisten nennen. Einen erfolgreichen gemäßigten Separatisten. In Frankreich herrschte Kriegsrecht, was viele nicht wirklich realisieren – jetzt eine verschärfte Antiterrorgesetzgebung. Nicht wegen Macron, sondern wegen massiver Terroranschläge.
Macron mag – das bleibt noch abzuwarten – für Frankreich ein “Glücksfall” sein. Tatsächlich ist er ein Symbol dafür, dass traditionelle, “etablierte” Parteien verlieren, wenn einer wie er antritt.
In Deutschland wird die AfD als “Unglück” begriffen. Leider. Denn eigentlich müssten alle Alarmglocken schrillen. Das tun sie auch. Nur leider hat kaum jemand vernünftige Ideen und Konzepte, um darauf zu reagieren.
Damit sind wir bei der Bundestagswahl und den kommenden Kommunalwahlen.
Fehlende Orientierung
Was ich massiv enttäuschend finde, ist, dass die “etablierten” Medien insgesamt nicht durch überzeugende, vernünftige und faktenorientierte Einordnungen den Menschen im Land Orientierung bieten.
Es ist nicht Aufgabe von Journalisten, sich auf eine Seite zu schlagen. Meiner Überzeugung nach ist es Aufgabe von Journalismus, eine Haltung zu haben. Und die muss, sonst hat man all das mit Rechtsstaatlichkeit, Grundgesetz und Meinungsfreiheit nicht verstanden, genau den Rechtsstaat, das Grundgesetz und die Meinungsfreiheit verteidigen. Journalisten können sich für oder gegen etwas aussprechen – aber nicht, weil sie jemandem gefallen wollen, sondern weil sie gut recherchiert und nachgedacht haben und das Ergebnis dann einordnen.
Die Medien sind aber nicht alleine schuld. Beteiligt sind auch andere “Spieler”. In den Verwaltungen, in den Parteien, in der Wirtschaft, im Vereinsleben. Unsere Welt vor Ort ist schon sehr komplex, weltweit betrachtet ist sie überkomplex.
Insbesondere durch das Internet gibt es eine Fülle von neuen Informationen – auch diesen Text, den Sie gerade lesen und der im früheren Mediensystem so nie erschienen wäre. Dadurch gibt es immer weniger “große Linien” in Debatten. Das ist auf den ersten Blick gut. Auf den zweiten Blick auch – wenn man damit umgehen kann. Was man aber nur kann, wenn man sich intensiv beschäftigt und auch in der Lage ist, Informationen zu beurteilen.
Tatsächlich findet eine enorme Lagerbildung statt. Neudeutsch “Filterblasen”. Und wenn man nicht aufpasst, wird die Sicht auf die Welt sehr begrenzt, obwohl sie doch eigentlich sich stetig erweitert, zumindest nach den Möglichkeiten.
Fragmentierung der Gesellschaft
Ohne die AfD wäre die Bundestagswahl anders ausgegangen. Ich habe noch keine gescheite Analyse dazu gelesen. Die AfD ist kurz davor ihr Ziel zu erreichen: Merkel muss weg. Sekundiert wird sie dabei von der SPD. Das ist ein hartes Urteil – aber das lasse ich mal so stehen. Ausführen kann ich es an dieser Stelle nicht, sonst lesen Sie noch bis Weihnachten an diesem Artikel.
Die FDP hat die Sondierungsgespräche aus meiner Sicht nachvollziehbar abgebrochen. Weil sie der Außenseiter in dieser Viererkonstellation ist. CDU und Grüne haben sich aneinander gewöhnt, die CSU will an der Macht bleiben und ist in der Realität eigentlich ein Vorbild. In Bayern funktioniert alles, was mit Flüchtlingen zu tun hat, in jeder Hinsicht besser als in Berlin und besser im Vergleich mit anderen Bundesländern. Das weiß man nur nicht im öffentlichen Bewusstsein, weil es medial nicht dargestellt wird.
Die AfD ist Vorbote einer systematischen Fragmentierung von “Gruppeninteressen”, die nicht mehr bereit sind, sich in das “große Ganze” früherer Zeiten einzubringen. Die AfD besetzt diesen Raum, weil etablierte Parteien diesen verlassen haben.
Mein Text soll keine Parteienschelte sein, sondern eine Zustandsbeschreibung. Auch die Medien sind beteiligt, weil sie Räume nicht mehr besetzen und statt ausgeruhte Hintergründe zu bieten von Thema zu Thema hetzen, oft ohne jede inhaltliche Tiefe und Kompetenz. Selbstverständlich gibt es viele hintergründliche Berichte, ob beim RNB, Deutschlandfunk oder großen Medien, aber sie bleiben rar gegenüber dem Hype der schnellen Skandalisierung.
Beteiligt sind aber auch Sie – ja Sie, der Sie diesen Text lesen. Beteiligen Sie sich aktiv im gesellschaftlichen Kontext? Haben Sie noch ein Abo einer Tageszeitung oder zahlen Sie für unsere Arbeit? Beurteilen Sie heute unsere Berichte ganz klasse, aber morgen als letzten Dreck, der ja alles, aber kein Journalismus sein kann? Weil Ihnen persönlich was nicht passt?
Selbst wenn das bei Ihnen nicht der Fall sein sollte – bei vielen Menschen ist jegliche Bindung an Linien verloren gegangen und das nimmt zu.
Chaotische Verhältnisse ab 2019?
Bei der kommenden Kommunalwahl 2019 werden wir das vermutlich erleben. Hier am Beispiel Mannheim – kleinere Orte sind nicht so dynamisch – wird es eine weitere Fragmentierung geben. Dass die NPD tatsächlich in der aktuellen Wahlperiode einen Sitz erhalten konnte, ist nur ein Vorzeichen.
Es wird vermutlich einige weitere Wählervereinigungen geben, die sich bewerben und vor dem Hintergrund des geänderten Wahlverfahrens auch Chancen auf Erfolg haben. Das wird zu Lasten insbesondere von CDU und SPD gehen, die aktuell beide 13 Sitze haben und mit dem Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz (SPD) im Zweifel die Mehrheit mit 27 von nötigen 25 Stimmen haben.
Wenn nur drei dieser Stimmen 2019 wegfallen, wird jede Mehrheit noch schwerer zu organisieren sein als das heute bereits der Fall ist.
Aktuell wird über den Haushalt in Mannheim beraten. Mannheim geht es nicht gut, aber erfreulich besser als gedacht. Insbesondere die Grünen haben sich sehr ideologisch positioniert. Aber auch SPD und CDU ergehen sich in Traditionalismen und ignorieren konsequent die sich ändernden Zeiten.
Im Unterschied zur Bundestagswahl gibt es bei der Kommunalwahl keine Frage nach Neuwahlen. Die Verhältnisse werden sein, wie sie sein werden.
Es gibt eine Reihe von Indikatoren, die eine negative Entwicklung beschreiben. Und damit ist nicht das Thema “Ankunftszentrum” gemeint. Wenn die großen “Spieler” im Gemeinderat weiterhin denken, dass die Selbstdarstellung das Maß aller Dinge ist, statt Probleme gemeinsam zu lösen, wird man die Separatisten befördern und ihnen Chancen eröffnen, die letztlich zu dem führen können, was aktuell im Bund gegeben ist: Lähmung auf der kompletten Linie.
Darüber sollten alle Beteiligten und Verantwortlichen dringend nachdenken.
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