Rhein-Neckar, 16. Januar 2015. (red/pro/ms) Wie gefährdet ist Deutschland durch islamistischen Terrorismus? Welche Bedrohung geht von den etwa vier Millionen Muslimen mit Migrationshintergrund aus? Sind sie gewaltbereit? Verweigern sie sich der Integration? Im Interview erläutert der Politik- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Kai Hafez, dass es eindeutig Probleme gibt und dass diese Probleme ernst genommen werden müssen. Doch würden in der Berichterstattung häufig wesentliche Aspekte außer Acht gelassen und Zerrbilder vermittelt. Der Islam sei bei Weitem nicht so schlecht, wie er überwiegend dargestellt wird.
Interview: Hardy Prothmann und Minh Schredle
Schätzungen zufolge leben derzeit etwa vier Millionen Muslime mit Migrationshintergrund in Deutschland. Sind diese gut integriert – oder eine Bedrohung?
Prof. Dr. Kai Hafez: Die Bilanzen der Integration sind gar nicht mal so schlecht, wie es häufig dargestellt wird. Dazu muss gesagt werden: Es gibt verschiedene Ebenen der Integration. Die politische, die ökonomische und die kulturelle Integration.
Die politische Integration gelingt sehr gut. Der Großteil der Muslime in Deutschland bekennt sich zum Rechtsstaat und der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Nach den Zahlen des Innenministeriums werden bei weniger als einem Prozent der muslimischen Bevölkerung extremistische Ansichten vermutet.
Nun können aber auch kleine radikale Gruppen für sehr viele Probleme sorgen, wenn sie skrupellos und radikal vorgehen, wie man erst vor Kurzem bei den tragischen Ereignissen in Frankreich gesehen hat. Wie groß schätzen Sie die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus ein?
Hafez: Dazu ist in meinen Augen keine seriöse Abschätzung möglich. Es gibt letztendlich nie eine Garantie gegen Terrorismus.Und wie Sie sagen: Auch kleine Gruppen können hier enormen Schaden anrichten. Das gilt für deutsche Rechtsextremisten ebenso wie für islamistische Terroristen
“Die Bedrohung entsteht im Kopf”
Unsere Sicherheit ist also bedroht?
Hafez: Es wird immer Gefahrenquellen geben, die man nicht vollständig unter Kontrolle hat. Aber eines muss klar sein: Die Bedrohung durch Terrorismus entsteht vor allem im Kopf. Die Menschen haben Angst. Und das ist absolut verständlich nach Ereignissen wie in Frankreich.
Aber insgesamt gibt es etliche Gefahrenquellen in unserem Alltag, die für unser Leben weitaus bedrohlicher sind. Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland zum Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, ist statistisch betrachtet für den einzelnen Bürger, äußerst gering.
Sie sagen, die politische Integration gelingt gut. Einigen Studien zufolge soll in Sachen Bildung Einiges dahingehend schlecht laufen, dass – insbesondere die türkisch-stämmigen Migranten – gegenüber vergleichbaren Gruppen unterdurchschnittlich schlecht abschneiden.
Hafez: Es gibt innerhalb der muslimischen Migrantenschaft unterschiedliche Einwanderungskohorten. Also zum Beispiel die iranische oder die arabische. Die Soziodemographie der türkischen Einwanderung zeigt eine ganz besondere Zusammensetzung. Viele Zuwanderer stammen eher aus bildungsfernen Familien. Und für deren Kinder ist es häufig schwierig, Anschluss zu finden. Hier gibt es tatsächlich zahlreiche Defizite. Aber das betrifft lange nicht alle: Das muss an dieser Stelle in aller Deutlichkeit gesagt werden.
Es gibt eine breite türkische bürgerliche Mittelschicht in Deutschland, über die leider selten geredet und fast nie berichtet wird. Aber sie existiert und erwirtschaftet Jahr für Jahr Millionen Euro an Steuern. Und wenn man zum Beispiel die Iraner zum Vergleich heranzieht, von denen auch zehntausende in Deutschland leben, sieht man: Die sind statistisch gesehen sogar besser gebildet als der Durchschnittsdeutsche. Man muss also auch hier sehr genau differenzieren.
“Migranten kennen den Wert von Bildung”
Wenn die Integration, zum Beispiel in Sachen Bildung, unterschiedlich gut gelingt – woran liegt das? Ist der Fehler in der Politik angesiedelt – oder in der Mentalität der Leute?
Hafez: Wir haben es bis heute nicht geschafft, auch nicht in unserem allgemeinen Bildungswesen, Menschen aus Arbeiterschichten im gleichen Prozentsatz zum Abitur und zu Hochschulabschlüssen zu führen, wie wir das in den besser situierten Teilen der Bevölkerung, schaffen.
Unsere Befragungen zeigen, dass ein Großteil der Migranten, auch aus bildungsfernen Milieus, sehr wohl weiß, dass Bildung ein wichtiges Kapital in der deutschen Gesellschaft ist. Ich glaube nicht, dass man die Probleme, die es zweifellos gibt, auf eine Verweigerungshaltung bei den Muslimen zurückführen kann. Der derzeitige Stand der Forschung zeigt zumindest ein ganz anderes Bild.
“Wenn alles gut und normal läuft, ist das keine Nachricht wert.”
Was ist denn der Grund, warum die eben angesprochene muslimische Mittelschicht so wenig Beachtung findet?
Hafez: Vermutlich, weil sie zu normal ist, um irgendwie diskutabel zu sein. Journalisten suchen das Außergewöhnliche, weil das mehr Aufmerksamkeit erzeugt. Und dabei ist auffällig: Den negativen Nachrichten wird beim Thema Einwanderung übermäßig viel Raum gegeben: Terror, Intoleranz, Fanatismus und Ehrenmorde prägen unser Medienbild des Islams.
Wenn alles gut und normal läuft, ist das keine Nachricht wert. Die negative Abweichung wird dagegen thematisiert. So entsteht ein Zerrbild, das nur wenig mit der Realität zu tun hat. Eine Teilschuld trifft auch die Nachrichtenkonsumenten. Und zwar dann, wenn sie reißerischen Sensationsjournalismus einer ausgewogenen und differenzierten, aber vielleicht etwas trockeneren Berichterstattung vorziehen.
“Die Berichterstattung ist in vielen Fällen abwertend. Gegen die meisten Vorurteile helfen Fakten.”
Was wird denn zum Beispiel an Positivem verschwiegen?
Hafez: Viele sehen die Zuwanderung deswegen als problematisch an, weil sie eine finanzielle Belastung sein soll. Das ist aber völlig falsch: Wie Statistiken zeigen, verdient Deutschland sogar an der Zuwanderung, es entsteht unterm Strich ein Plus. Hier ist mehr Aufklärung notwendig.
Gegen die meisten Vorurteile helfen Fakten. Wir sollten den Islam auch nicht nur als politische Ideologie, sondern zur Abwechslung auch mal wieder als Religion betrachten, die 1,5 Milliarden Menschen auf der Welt spirituellen Halt verleiht, soziale Gerechtigkeit predigt und positiv zur modernen Lebenswelten beiträgt.
Leisten die deutschen Medien genug Aufklärungsarbeit? Oder gibt es hier strukturelle Defizite?
Hafez: Wir haben hierzu aufwändige Studien durchgeführt und die belegen eindeutig: Die meisten Mainstream-Medien vermitteln ein sehr reduziertes Bild. Vor allem, was den Islam angeht, ist die Berichterstattung eindeutig abwertend.
Je nach Haltung und Medium haben wir hier eine negative Themenagenda, die etwa zwischen 50 und 80 Prozent der Berichterstattung ausmacht. Wir bekommen ganz überwiegend die negativen Seiten der islamischen Lebenswelt zu sehen: Unterdrückung von Frauen, Gewalt, Repression, Terrorismus. Das sind alles große, tatsächliche Probleme – das will ich auf keinen Fall bezweifeln. Aber die positiven Aspekte werden viel zu sehr außer Acht gelassen.
“Vorurteile werden unterschwellig vermittelt”
Ist die Berichterstattung also rassistisch?
Hafez: Rassismus ist ein starkes Wort. Die Berichte sind in vielen Fällen unangemessen negativ. Vorurteile werden oft nicht ausgesprochen, aber unterschwellig vermittelt. Niemand schreibt in den großen Medien heute noch explizit: Muslime sind gewalttätig. Aber dadurch, dass fast ausschließlich über Terrorismus und Gewaltverbrechen berichtet wird, entsteht beim Rezipienten genau dieses Bild.
Es ist zwar nicht der Fall, dass alle Nachrichtenkonsumenten einfach das übernehmen, was sie in den Medien lesen und sehen. Aber normalerweise denkt man vor allem über die Dinge nach, die in den Medien auftauchen. Und wenn dort Terrorismus und Islamismus zu den Hauptthemen gehören und es kaum alternative Sichtweisen auf muslimisches Leben gibt, dann ist der Anreiz gering, den Islam in einem positiven Kontext zu reflektieren. Probleme im Islam sind zweifellos vorhanden – aber sie werden stark übertrieben dargestellt.
Was ist denn ein Beispiel für eine Gegendarstellung, die unterbleibt?
Hafez: Wann stand zuletzt beispielsweise Indonesien im Zentrum der Aufmerksamkeit? Hier leben 200 Millionen Muslime, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Aber es gibt nur wenig Gewalt, Indonesien ist eine Demokratie und ein dynamisches Schwellenland. Die friedlichen Facetten der muslimischen Lebenswelten werden gerne unterschlagen.
“Mehr Verantwortungsbewusstsein wäre wünschenswert”
Sind also Journalisten die wahren Schuldigen, weil sie falsche Bilder vermitteln?
Hafez: Etwas mehr Verantwortungsbewusstsein bei den Medien wäre wünschenswert. Allerdings ist das nicht so einfach. Ich glaube, sehr viele Journalisten sind frustriert wegen der bestehenden Strukturen: Sie würden lieber anderes berichten oder auch unterschiedlichere Themen auswählen. Aber es gibt ökonomische Imperative: Themen, die so viel Aufmerksamkeit erzeugen, dass es nicht wirtschaftlich wäre, zurückhaltend und ausgewogen zu berichten.
Und ich habe den Eindruck, dass es unter Journalisten inzwischen ein Bewusstsein für dieses große Problem gibt. Nur hat auf der Ebene der Entscheider, der Verleger, der Chefredakteure und der Organisation selbst bis jetzt kein Umdenken stattgefunden. Negative Nachrichten über den Islam verkaufen sich gut. Es gibt auch alternativere Medien, die differenziertere Darstellungen liefern – aber die sind inhaltlich meistens sehr speziell und erreichen keine breite Öffentlichkeit.
Jetzt haben wir viel über die deutschen Medien geredet. Aber wie sieht es im Ausland aus? Hier in Deutschland gibt es zum Beispiel viele Zeitungen auf Türkisch. Sind die geeignet, um sich eine differenzierte Meinung zu bilden?
Hafez: Die Medienkritik, die bei deutschen Medien gilt, gilt natürlich im Wesentlichen auch für ausländische Medien. Unter den Medien in türkischer Sprache, die in Deutschland verfügbar sind, sind viele Boulevard-Zeitungen. Ähnlich wie auch bei der Bild-Zeitung werden hier häufig komplexe Themen auf eine Art reduziert und vereinfacht, die problematisch ist. Und das betrifft häufig auch das Deutschlandbild.
Die meisten Migranten, insbesondere die jüngeren, bilden sich ihre Meinungen aber durch verschiedensprachige Medien und benutzen dabei in der Regel auch deutsche Informationen. Es sind vor allem die sprachlich weniger kompetenten, älteren Menschen, die hier einwandern und dann im türkischen Medienkosmos verharren. Aber die sind mittlerweile eindeutig in der Minderheit.
Hintergrundwissen fehlt
Migranten lassen sich also nicht über eigensprachliche Medien steuern?
Hafez: Ich sehe kaum eine Gefahr, dass die Migranten in Deutschland durch ausländische Medien verblendet werden. Der türkischstämmige Medienkonsument in Deutschland hat nicht nur verschiedensprachige Medien zur Hand, sondern er oder sie kennt Deutschland auch aus eigener Anschauung: eine direkte Nahwelterfahrung, die den nicht-muslimischen Deutschen im Umgang mit dem Islam und der islamischen Welt zumeist fehlt. Insofern ist die Problematik beim medialen Transport in den deutsch-islamischen Beziehungen eher auf der Seite der deutschen Medienkonsumenten anzusiedeln.
Die Menschen hier werden immer wieder mit schockierenden Bildern vom Islam konfrontiert, aber ansonsten wissen die meisten nur wenig von dieser Religion und den Lebensweisen dieser Menschen, von denen die meisten genau so normal sind, wie die Leute hier. Wenn man nur die negativen Ausschnitte kennt, führt das auf Dauer zu einer hohen Islamfeindlichkeit.
“Es gibt keine Islamisierung des Abendlandes”
Die zunehmende Islamophobie ist ein ernstzunehmendes Problem. In Dresden gehen beispielsweise tausende Menschen gegen eine sogenannte Islamisierung demonstrieren – was halten Sie von diesem Begriff und wie sehen die tatsächlichen Umstände aus. Gibt es eine Islamisierung im Abendland?
Hafez: Es gibt wirklich überhaupt keinen Hinweis auf eine Islamisierung in Deutschland. An keinem einzigen statistischen Indikator könnte ich so etwas festmachen. Ich sehe keine Islamisierung von Schulen, ich sehe keine Islamisierung von Bildungseinrichtungen und ich sehe erst recht keine Islamisierung unserer Kultur. Mit fünf Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind die Muslime zwar eine große Minderheit – aber ganz eindeutig eine Minderheit.
Sollte man dann Bewegungen wie Pegida überhaupt ernst nehmen?
Hafez: Mir ist völlig schleierhaft, was Pegida eigentlich sagen will. Es gibt jedenfalls keine Fakten, die eine Bedrohung durch eine Islamisierung befürchten lassen. Ich denke, es handelt sich dabei um eine Art Kampfbegriff, der von einem virtuellen Islambild ausgeht: Man hält die Religion für expansionistisch und extremistisch und propagiert sozusagen eine Art Gegenmobilisierung. Das hat allerdings mit den Realitäten einer messbaren Islamisierung in Europa überhaupt nichts zu tun.
Ernst nehmen sollte man das Problem trotzdem: Denn es zeigt, wie einfach man die Überbleibsel der Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft politisch missbrauchen kann.
Zur Person: Kai Hafez (*1964) ist seit 2003 Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen und Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt. Hafez studierte von 1985 bis 1994 Politikwissenschaft, Neuere Geschichte, Journalistik und Islamwissenschaft an der Universität Hamburg und der Georgetown University in Washington, D.C.. Anschließend war er ab 1995 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut in Hamburg tätig und wurde 2001 habilitiert. Er forscht zum Verhältnis der westlichen und islamischen Welt. Aktuell ist vergangene Woche der “Religionsmonitor” im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erschienen. |