Heidelberg/Rhein-Neckar, 05. Dezember 2014. (red/ms) Ruft der Koran zum Dschihad auf? Dürfen Andersgläubige geschlachtet werden? Sind 1,6 Milliarden Muslime eine Bedrohung für die westliche Welt? Raif Georges Khuory ist Professor für Islamwissenschaften an der Universität Heidelberg – und er klärt über einige Missverständnisse auf. Im Interview erläutert der Christ, wie sehr die orientalische Kultur verkannt wird und warum alle Religionen ihren Unfehlbarkeitsanspruch aufgeben müssen, wenn ein friedliches Miteinander möglich sein soll.
Interview: Minh Schredle
Sie unterrichten seit 41 Jahren in Heidelberg Islamwissenschaften. Sind sie selbst ein Muslim?
Prof. em. Dr. Dr. hc. Raif Georges Khoury: Nein, ich selbst sehe mich als überzeugten Christ. Aber ich bin nicht bibeltreu.
Wie hat man das zu verstehen?
Khoury: Ich halte es für falsch und sogar gefährlich, jede Aussage der Bibel wörtlich zu nehmen und mein Leben nach einem Wort auszurichten. Die Bibel dient aber als gute ethische Grundlage und Orientierungshilfe, sein Handeln auszurichten. Ähnlich wie auch bei anderen Religionen. Das trifft auch auf den Koran zu.
Wie sind sie dann zur Islamwissenschaft gekommen?
Khoury: Das ist eine lange Geschichte. Ich habe zu Schulzeiten fünf Sprachen gelernt: Französisch, Englisch, Latein, Alt-Griechisch und später dann als Wahlsprache Arabisch. Nicht besonders viel, aber es war genug, um eine Grundlage zu schaffen und meine Kenntnisse eigenständig weiterzuentwickeln. Auf der Universität habe ich dann zunächst Romanistik, Griechisch und Latein belegt und anschließend noch Philosophie und Geschichte hinzugenommen, um Entwicklungen verfolgen und verstehen zu können. Irgendwann kam mein Literaturprofessor auf mich zu und sagte: Du beherrschst Französisch und Griechisch – aber in der Mitte fehlt etwas. Ich habe sofort verstanden, was er meint: Die Islamische Welt. Denn das war die große Lücke in meinem Verständnis der Weltkulturen.
„Religionen trennen, Kulturen verbinden“
Und wie sind sie als Franzose in Heidelberg gelandet?
Khoury: Schon 1960 habe ich meine Frau, die in Mannheim wohnte, geheiratet. Ab 1963 habe ich dann in Heidelberg unterrichten können. Dann bin ich jede Woche für zwei Tage nach Heidelberg gekommen. Ich habe Deutsch auf meinen Zugreisen gelernt – auf einer langen Fahrt zwischen Paris und Heidelberg habe mit einem Buch über Grammatik angefangen. Später habe ich dann Zeitungen gelesen und alles notiert, was ich nicht verstanden habe. Dadurch ist meine Sprache vielfältiger geworden. Man kann sich sehr vieles eigenständig beibringen. Inzwischen spreche ich viele europäische und orientalische Sprachen.
Wie hat sich das auf ihr Weltbild ausgewirkt?
Khoury: Ich bin sehr froh, dass ich das kann. Es erleichtert die Arbeit erheblich und ich kann die Texte im Original lesen, was man immer tun sollte, wenn es einem möglich ist. Bei jeder Übersetzung oder Übertragung gehen Feinheiten verloren. Durch das viele Lesen deutscher Literatur habe ich immer mehr Sympathie für die deutsche Kultur entwickelt, auch weil ich sie jetzt viel besser verstehen kann. Das ist meistens so: Wenn einem irgendetwas fremdartig, suspekt und unplausibel erscheint, hat man meistens die kulturellen Hintergründe noch nicht richtig verstanden. Daher die intensive Beschäftigung mit den Sprachen, die mindestens für das eigene Fach von Bedeutung sind.
Im Verständnis der Kulturen liegt also der Schlüssel für eine friedfertige Verständigung?
Khoury: Genau. Religionen trennen die Menschen, Kulturen verbinden sie. Ist ein Dialog zwischen den Religionen jemals von Nutzen gewesen? Deswegen muss auf Sprachen und Kulturen zurückgegriffen werden.
Und ist das Verständnis in Deutschland für den Islam und die zugehörige Kultur ausreichend?
Khoury: Nein, es ist mangelhaft. In der Allgemeinbildung gibt es hier massive Lücken. Viele sind leider völlig ahnungslos.
Medien berichten unzureichend
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Khoury: Viele haben offenbar gar kein Interesse, die islamische Kultur zu verstehen. Es ist ein sehr komplexes Thema, in das Geschichte, Kultur, Religion und Politik involviert sind. Fundierte Kenntnisse zu erlangen, ist ein großer Aufwand. Aber gegenseitiges Verständnis ist essenziell, um Konflikte zu vermeiden. Und hier sind die Sprachen und deren Kulturen der einzig geeignete Schlüssel.
Wie akkurat ist das Bild, was die Medien von der Islamischen Welt zeichnen?
Khoury: Es ist leider sehr unzureichend. Viele Berichte stammen von Leuten, die keine Schulung im Fach haben, die aber schnell berichten müssen. Und obwohl sie etwas nicht genau verstehen, wollen sie trotzdem darüber reden und sogar informieren. Das ist generell ein großes Problem vieler Medien: Immer wieder werden Zerrbilder vermittelt, die eigentlich nur wenig mit dem tatsächlichen Sachverhalt zu tun. „Fremde“ Religionen und gerade der Islam sind hierfür Paradebeispiele.
Was wird denn zum Beispiel falsch vermittelt?
Khoury: Die islamische Welt ist bei Weitem nicht so konservativ und rückständig, wie sie gerne dargestellt wird. Sie hat eine einzigartige Philosophie, die im Westen leider kaum bekannt ist, und enormes Entwicklungspotenzial. Gewaltbereite Terroristen sind eine kleine Minderheit, die durch das extreme Vorgehen viel Aufsehen erregt. Viele Muslime wollen das nicht unterstützen, aber haben Angst, getötet zu werden, wenn sie Widerstand leisten.
In vielen Medien wird behauptet, der Koran legitimiere die Tötung Andersgläubiger und den Dschihad. Was ist daran dran?
Khoury: Es gibt Passagen, die sich so auslegen lassen. Aber die gibt es auch im Neuen und im Alten Testament. In jeder Religion finden sich Passagen gegen „Ungläubige“ – das ist auch quasi ein glaubensimmanentes Muss, wenn man den Anspruch vertritt, das einzige unfehlbare Wort Gottes zu vertreten. Die Bücher des Korans sind etappenweise entstanden und müssen daher historisch wahrgenommen und interpretiert werden, wie etwa die großen islamischen Gelehrten im Mittwelalter taten.
Religion als Grundlage für Ethik
Ist ein friedliches Zusammenleben dann überhaupt möglich?
Khouris: Nur unter einer Bedingung: Man selbst sollte glauben dürfen, woran man will – aber man muss andere mit ihrem Glauben in Frieden lassen. Unfehlbarkeitsansprüche sind immer problematisch, vor allem weil sie häufig missbraucht werden, um Angst zu verbreiten und gefügig zu machen. Da gibt es sowohl im Westen, als auch im Osten zahlreiche Beispiele. So lange verschiedene Parteien eine überzeugte Unfehlbarkeit beanspruchen, sind Konflikte kaum noch zu vermeiden. Schließlich will dann jeder für „seine einzige Wahrheit“ kämpfen. Das ist auch der Grund, warum es so viele Probleme zwischen Muslimen verschiedener Glaubensschulen, wie den Sunniten und den Shiiten gibt. Gerade das wird häufig beim Reden über „den“ Islam nicht berücksichtigt.
Und was kann man tun, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen?
Khouris: Das ist ein großes Problem und bestimmt nicht einfach zu lösen. Schließlich ist es seit Jahrhunderten immer wieder Ursache für Kriege gewesen. Es ist wichtig, eine Erkenntnis zu vermitteln: Es ist nicht möglich zu sagen, dass irgendein Prophet jede Bewegung und jeden Atemzug durch den Willen des Himmels diktiert bekommen hat und dass man auch Jahrhunderte später immer noch sein Leben danach ausrichten kann. Dieser Standpunkt muss aufgegeben werden.
Aber der Koran gilt doch als das Wort Gottes – würde das die Religion nicht zerstören?
Khoury: Die Muslime müssen lernen, dass der Koran historisch zu interpretieren ist. Das ist die einzige Möglichkeit, wie die Religion weiterhin fortbestehen kann, ohne dass es zu kriegerischen Konflikten kommt. Und dazu gibt es zahlreiche Ansätze, die leider zu wenig Beachtung finden. Der Koran bietet eine hervorragende Grundlage für ethisches Handeln. Daher darf nicht einfach unbedacht alles zitiert werden, sondern das, was verbindet und zu einem vernünftigen Zusammenleben führt. Die Bücher des Korans sind etappenweise entstanden und müssen daher historisch wahrgenommen und interpretiert werden, wie etwa die großen islamischen Gelehrten im Mittelalter taten. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Vorbilder, die nicht beiseite geschoben werden dürfen. Dies gilt übrigens für alle Religionen.
Islam und kritisches Denken?
Nun wird das Wort „Islam“ häufig als „Unterwerfung vor Gott“ übersetzt. Wie lässt sich das mit kritischem Denken vereinbaren?
Khoury: „Unterwerfung vor Gott“ ist nur eine von vielen verschiedenen möglichen Übersetzungen. Eine andere ist „Frieden“. Frieden, den man erreichen soll, wenn man sich Allah hingibt und sich unter seinen Schutz stellt. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie mangelhafte Sprachkenntnisse zu einem verfälschten Bild führen.
Es gibt also auch Muslime, die nicht jedes Wort im Koran wörtlich nehmen und von den Vorgaben abweichen?
Khoury: Natürlich gibt es die. Und sie sind sogar in der Mehrheit. Das ist ähnlich wie beim Christentum in den vergangenen Jahrhunderten: Glauben Sie, dass die großen Philosophen des Ostens tatsächlich streng gläubige Muslime waren oder sind? Sie waren nicht islamische Philosophen, sondern Philosophen im Islam. Das ist ein großer Unterschied. Goethe war auch Christ – aber bestimmt nicht besonders fromm und bibeltreu.
Und was sagen die großen Philosophen des Ostens?
Khoury: Die wirklich geistreichen Gelehrten predigen seit Jahrhunderten unabhängig von ihrer religiösen Orientierung ähnliche Botschaften: Es geht um Liebe, Zusammenhalt und ein friedfertiges Miteinander – leider werden ihre Aussagen viel zu selten von einer breiten Masse verstanden.
Haben Sie ein Beispiel für einen großen Gelehrten des Ostens, der hierzulande kaum bekannt ist?
Khoury: Ja, natürlich. Unter vielen: Averroes Ibn Ruschd war der größte Philosoph im Islam und der erlesenste Geist des Orients aller Zeiten. Er ist 1198 gestorben. Und dann noch eine Frau, eine Christin, Mayy Ziyada. Sie ist 1941 gestorben und sprach alle bekannten Weltsprachen, konnte sie miteinander verbinden und sagte: „Das Schwert unterwirft und bestraft, während der Geist, das Wort kultiviert und sanftmütig stimmt und miteinander verbindet. Das Schwert erobert die Länder, schlägt Verlangen zurück und vernichtet feindliche Armeen. Es erklärt den Krieg, indem es zwischen den Menschen eine Mauer von Hass und Entfremdung schafft. Die Waffen des Geistes sind dagegen so leicht wie der Wind und so süß wie eine frische Brise. Aber sie haben die Wucht eines Donnergrollens“.
„So viel Elend kann eigentlich nur in Terrorismus resultieren“
Wenn es so hohes Gedankengut und Philosophie gibt: Worin liegen die Ursachen für den Terrorismus, der im nahen Osten so präsent ist?
Khoury: Die islamische Welt hat keinen Kopf mehr. Sie haben eine großartige Kultur. Aber sie sind im Begriff, alles zu zerstören. Die Ursachen dafür liegen nicht in der Religion, sondern der Art und Weise, wie die Religion für politische Ziele missbraucht wird. Den meisten Leuten vor Ort geht es wirklich, wirklich schlecht. Je mehr Probleme entstehen, desto mehr Elend, Leid und Unruhe gibt es. Man müsste diesen Menschen eigentlich helfen Frieden und Glück in ihrem Leben zu finden. Stattdessen macht der Westen sich schuldig: Viele Vorgehensweisen sind nicht zu entschuldigen und es wurden viele falsche Versprechungen gemacht. So viel Elend kann eigentlich fast nur im Terrorismus resultieren. Auch das zieht sich durch die Geschichte: Wenn Minderheiten zu sehr unterdrückt werden, kommt es zu Aufständen. Mal laufen die eher friedlich ab, aber sehr häufig resultiert Verzweiflung auch in der Ausübung von Gewalt. Ob jemand als Terrorist verurteilt oder als Freiheitskämpfer umjubelt wird, hängt oft vom Standpunkt des Betrachters ab oder der Bedeutung einer Person oder einer Gruppe.
Sie meinen also Terrorismus ist gar nicht so schlimm?
Khoury: Das meine ich auf keinen Fall! Er ist furchtbar. Aber man kann sich kaum wundern, dass Menschen unter solchen Umständen anfangen, sich zur Wehr zu setzen. Gewalt ist natürlich der falsche Weg. Terrorismus muss aufs Schärfste verurteilt werden – aber ordentlich vor Gericht. Es kann doch nicht sein, dass durch Bombardements auch die Häuser und Familien eines einzelnen Schuldigen zerstört werden oder sogar unbeteiligte Unschuldige zu Leidtragenden werden. Das kann ich als Christ nicht akzeptieren. Stellen sie sich mal vor, wenn hierzulande ein Mörder nicht nur verurteilt wird, sondern gleich er und seine ganze Familie vernichtet werden. Das wird dort dort seit Jahren getan und egal, was die Umstände sind: Das kann ich nicht gutheißen. Das ist barbarisch.
Wie könnte ein friedliches, konfliktfreies Miteinander funktionieren?
Khoury: Es ist zu stark bezweifeln, ob wir die Konflikte gewaltfrei aus der Welt schaffen können – aber wir müssen es zumindest versuchen. Und hierfür ist die Kultur gut geeignet. Man muss die Gemeinsamkeiten in der Vielfalt der Kulturen erkennen und sie für ihre Unterschiede schätzen lernen. Ich will eine Politik sehen, die auf Kultur basiert. Dass man versucht, die Welt zu verbessern mit Hilfe von Gesprächen und gegenseitigem Verständnis und Wertschätzen – das gibt es leider viel zu wenig. Es gibt kaum noch Dialoge. Und da trifft sowohl den Westen, als auch den Osten große Schuld. Die Welt im Orient lebt von der Allmacht des Wortes. Streng gläubige Muslime sprechen dem Islam Allmacht zu. Ich sage das von der Kultur generell, zu der der Islam gehört. Das müssen die Leute begreifen. Und wenn sie das nicht tun, dann tun sie mir Leid.
Friedliche Verhandlungen?
Was halten Sie von der Situation in Syrien und Nordirak – sehen Sie dort die Möglichkeit einer Befriedung?
Khoury: Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es hier in naher Zukunft eine Lösung geben wird. Mit diesen Extremisten ist nicht zu reden, wer den Dialog sucht, wird womöglich noch umgebracht. Das ist tragisch. Aber ich sehe wirklich nicht, wie es hier momentan zu friedlichen Verhandlungen kommen könnte.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung und die Rolle der Türkei?
Khoury: Die Türkei könnte deutlich mehr machen, in ihrem eigenen Interesse. Aber der Staat entfernt sich leider mehr und mehr von den kemalistischen Grundsätzen.
Haben Sie für unsere Leser zum Abschluss noch eine islamisch-arabische Weisheit?
Khoury: Eine kleine Weisheit des großen abbasidischen Dichters al-Mutanabbi: „Der beste Lebensgefährte in der Welt ist ein Buch.“
Zur Person:
Raif Georges Khouris unterrichtet seit 41 Jahren Islamwissenschaften in Heidelberg und ist Autor von 27 Büchern. Der 78-jährige hat sowohl die deutsche, als auch die französische Staatsbürgerschaft. Seit 12 Jahren ist er im Ruhestand. Trotzdem gibt er weiterhin ehrenamtlich Vorlesungen an der Universität Heidelberg. Für ihn ist Unterrichten kein Beruf, sondern eine Profession, sagt er. Er sei dankbar darum, seine Forschungsergebnisse an interessierte Studenten weitergeben zu können.