Mannheim/Rhein-Neckar, 11. Januar 2015. (red) Der Terroranschlag in Paris gilt vielen als Anschlag auf die Werte unserer Welt. Das ist zutreffend, aber auch eine Interpretation. Unmittelbar sind 17 getötete Menschen betroffen, sowie deren Familien. Mittelbar „wir“ Journalisten und dann die, die Journalismus konsumieren. Der Terroranschlag ist fürchterlich. Wir alle werden darüber nachdenken, was er zu bedeuten hat, was er mit uns allen macht. Was ist Meinungs- und Pressefreiheit? Was ist sie uns wert? Achten wir sie wirklich? Stützen und verteidigen wir sie wirklich? Wo, wen und wann? Was erwarten wir von ihr? Was von uns?
Von Hardy Prothmann
Die furchtbaren Attentate von Paris haben „die westliche Welt“ erschüttert, berichten viele Medien. Wer ist das, diese „westliche Welt“? Warum schreiben Journalisten nicht einfach „die Welt“? Weil in Ländern wie Yemen Terror-Gruppen jubeln, also nicht „die ganz Welt“ schockiert ist? Warum schreiben Journalisten dann nicht „die zivilisierte Welt“? Weil die, insbesondere Frankreich, an so ziemlich jedem Krieg in Afrika beteiligt ist und von deutschem Boden aus die amerikanischen Drohnen gelenkt werden, die im Yemen Terroristen töten und leider „unvermeidbar“ auch immer wieder unschuldige Zivilisten, darunter viele Kinder?
Charlie Hebdo – vulgäres Opfer eines Terrorakts
Charlie Hebdo ist schon vom Konzept her eine Zumutung. Eine Satirezeitschrift, die bewusst provoziert. Ist das noch „journalistisch? Ist eine Satirezeitschrift „journalistisch“? Ja, die Satire ist eine Form von Journalismus oder mindestens von Meinungsfreiheit.
Wäre Charlie Hebdo in Deutschland möglich? Nein, die Macher wären hierzulande längst pleite oder vorbestraft angesichts der massiven „Gotteslästereien“. Das regelt §166 Strafgesetzbuch. Auf diesen Straftatbestand stehen Geldstrafe oder bis zu drei Jahre Gefängnis. (Über Sinn und Unsinn von §166 kann man auch viele Artikel schreiben.) Aktuell könnten Muslime in Deutschland gegen die Nachdrucke von Charlie Hebdo also klagen – das wird niemand tun.
Für alle, die das noch nicht wussten: „Hebdo“ steht für „hebdomadaire“, das heißt „wöchentlich“. Diese wöchentliche Provokation hätte ich als verantwortlicher Redakteur zum Beispiel nie veröffentlicht – erstens bin in kein Comic-Fan, zweitens finde ich das meiste weder lustig noch satirisch. Und drittens, das ist entscheidend: Es ist mir zu schamlos, zu vulgär. Und wer sich den Großteil der deutschen Presse anschaut und ein wenig recherchiert, wird herausfinden, dass die allermeisten, die sich jetzt solidarisch mit Charlie Hebdo erklären, vorher sehr negativ und ablehnend über das Satireheft geschrieben haben.
Wir haben trotzdem im Verbund mit anderen Medien öffentlich bekannt und uns solidarisiert: Wir sind Charlie. Der Grund: Weil Kugeln gegen Köpfe weder geschmacklos, noch satirisch, noch irgendetwas anderes sind als tödlich und terroristisch. Gewalt gegen Gedanken ist die Abschaffung aller Freiheit. Wer Gedanken tötet, will die Menschheit auslöschen.
Todeszone Syrien
Das weltweit gefährlichste Land für Medienschaffende war 2014 wie schon im Vorjahr Syrien: Alleine dort wurden 15 professionelle Journalisten und 17 Bürgerjournalisten getötet sowie 27 Medienschaffende entführt. Zu den gefährlichsten Ländern und Territorien für Journalisten gehörten dieses Jahr auch die Palästinensergebiete (vor allem der Gazastreifen), der Osten der Ukraine, der Irak und Libyen.
Zu diesem Ergebnis kommt Reporter ohne Grenzen. Allein in Syrien wurden seit Ausbruch des Bürgerkriegs 130 „Journalisten“ getötet – die Zahl derer, die bedroht, entführt, gefoltert wurden, dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Weltweite Empörung rief die Exekution der amerikanischen Journalisten James Foley und Steven Sotloff durch den „Islamischen Staat“ hervor.
Raif Badawi, ein saudi-arabischer Blogger, ist zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt worden, weil er es gewagt hat, in seinem Blog über Religion und Politik zu berichten. In Beiträgen hatte er Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig bezeichnet – damit hat er nach Auffassung des Gerichts den Islam beleidigt. Der Todesstrafe entging der 30-Jährige nur, weil er drei Mal das islamische Glaubensbekenntnis aussprach.
Fest steht, dass die Pressefreiheit weltweit gesehen, in muslimischen Ländern am stärksten bedroht ist. Und fest steht auch, dass sie in allen Ländern, die nicht demokratisch verfasst sind, praktisch nicht existiert. In vielen muslimischen Ländern ist die Lage mehrfach bitter für die Menschen: Sie sind von Krieg und Verfolgung bedroht und habe keine Möglichkeit, über Meinungs- und Pressefreiheit eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen. Weltweit gesehen sind Muslime die Hauptopfer islamistischer Terroristen und staatlicher Verfolgung.
Deutschland hinter Tschechien und Österreich
Und die Türkei? Erstes Drittel? Mittelfeld? Weit gefehlt. Platz 154 von 180 Ländern. Also fast ganz hinten. Die Türkei liegt sogar hinter dem Kongo und dem Irak. In der Türkei gibt es kaum unabhängige, freie, kritische Medien. Die staatliche Repression gegenüber Journalisten ist enorm. Recep Tayyip Erdogan kann mit Fug und Recht als ein Feind der Presse- und Meinungsfreiheit genannt werden. (siehe SPON und Zeit.de) Ebenso wie Wladimir Putin, Russland steht mit Platz 148 „besser“ da als die Türkei.
Auch die USA (46) und England (33) stehen in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit nicht weit vorne. Nicht, weil dort Journalisten massiv bedroht werden, in der Erhebungsmethode werden auch Faktoren wie Pluralismus und Unabhängigkeit der Medien sowie Selbstzensur mit einberechnet.
Meinungsfreiheit unter Strafe
Während man in den USA Hitlers „Mein Kampf“ überall erwerben kann und die Meinungsfreiheit auch die Leugnung des Holocaust zulässt, gilt vielen Medienmenschen dort Charlie Hebdo als „vulgär“ (siehe FAZ). In Italien ist die Holocaustleugnung übrigens auch nicht verboten – nur der Aufruf zum Rassenhass. In Deutschland gilt je nach Umständen ein Strafmaß zwischen drei Monaten und fünf Jahren.
Wie oben schon erwähnt, wären die satirischen Karikaturen von Charlie Hebdo in Deutschland vermutlich justiziabel. Weil die Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz zwar sehr umfangreich ist, aber keine anderen Rechtsgüter verletzen darf, insbesondere keine Persönlichkeitsrechte. Hierzu gibt es keine eigenen Gesetze, sondern eine abgeleitete Rechtssprechung.
Wie sinnvoll Rechtsprechung sein kann, zeigt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008. Danach ist „Dummschwätzer“ zwar eine Beleidigung – nicht aber, wenn es sich um eine zutreffende Tatsachenbehauptung handelt. Das Gericht unterschied im Fall eines Streits zweier Gemeinderäte, einer hat den anderen als Dummschwätzer bezeichnet, nachdem der andere meinte, dieser habe wohl noch nie eine Schule von innen gesehen.
Meinungsfreiheit ist kein absoluter Wert
Charlie Hebdo hat die Meinungsfreiheit bis an die Grenze der Belastbarkeit ausgereizt. Das kann man mögen oder ablehnen. Eventuell sogar gerichtlich verurteilen. Selbstjustiz, auch im vermeintlichen Mantel einer „gerechten“ Sache, ist natürlich nur eins: Mord.
Die bundesweiten Proteste gegen diese Terrortat sind richtig und wichtig. Sie sollten aber genutzt werden, um Meinungs- und Pressefreiheit kritisch zu hinterfragen. Insbesondere religiöse Gruppen wären in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit juristisch gegen ein deutsches Charlie Hebdo vorgegangen. Nun demonstriert man für die Meinungs- und Pressefreiheit – weil die Bedrohung nicht weit weg ist, irgendwo in Saudi-Arabien, Syrien oder Russland, sondern direkt in der Nachbarschaft.
Der Schock und die Empörung sind groß. Man kann nur hoffen, dass sich die Menschen auch in Zukunft daran erinnern. Und nicht nur ihre Meinung verteidigen, sondern sich selbst und anderen die Freiheit geben, sie immer wieder neu zu bilden.
Und die „westlichen“ Gesellschaften stehen vor einer großen Aufgabe: Sie müssen endlich anfangen, sich für Meinungen der Minderheiten und Ausländer und „Andersgläubigen“ zu interessieren – auch, was deren Gefühle angeht. Charlie Hebdo hat diese massiv verletzt. Religiöse Fanatiker haben deshalb diese Journalisten umgebracht und sind selbst getötet worden. Die Spirale der Gewalt muss aufgehalten werden – sowohl die der extremen Meinungen als auch die der extremen Gewalt. Das aber geht nur mit einer verantwortlichen Freiheit des Denkens.
Die „westlichen“ Gesellschaften müssen sich aber auch dringend für Meinungs- und Pressefreiheit in anderen Ländern einsetzen, denn sonst sind dort zivilisierte Veränderungen nicht möglich. Insbesondere Deutschland sollte sich an die Propaganda und Gehirnwäsche der Nazis erinnern und nicht nur über den Wiederaufbau freuen, sondern über eines der wichtigsten Güter überhaupt, die die Alliierten Deutschland nicht nur erlaubt, sondern aufgebaut haben: Ein freies Rundfunksystem und eine freie Presse im Rahmen einer gesetzlichen Verfasstheit.
Die Auspeitschung von Raif Badawi hat am 9. Januar 2015 begonnen. 20 Wochen lang erhält er alle acht Tage 50 Peitschenhiebe. Sie können hier protestieren.