Mannheim/Suruc, 05. Oktober 2014. (red/ld) Wie viele Menschen kamen in der letzten Zeit über die syrische Grenze? 140.000 – meldete die türkische Regierung. Gökay Akbulut spricht hingegen nur von einigen tausend. Die Mannheimer Stadträtin (Die Linke) reiste gemeinsam mit der Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel (Die Linke) als Beobachterdelegation an einen der – nach ihrer Aussage – letzten Grenzübergänge, der nicht vom selbsternannten Islamischen Staat (IS) kontrolliert wird.
Von Lydia Dartsch
Die Fotos zeigen Wasserwerfer und Nebelschwaden von Tränengaseinsätzen vor dem Grenzzaun nach Syrien. Sie zeigen leere Gaskartuschen. Auf einer anderen steht „CS“ aufgedruckt. Die Fotos zeigen einen Streifen Stacheldraht. Davor stehen Soldaten jeweils einen geschätzten Meter nebeneinander entlang des Drahts aufgereiht. Auf manchen Fotos sind statt der Soldaten Militär- und Polizeifahrzeuge zu sehen. Auf der anderen Seite sitzen Menschen – meist Frauen und Kinder.
Sie sollen aus der nahen syrischen Stadt Kobane geflohen sein, die auf arabisch Ayn Al Arab heißt und seit mehreren Wochen unter dem Beschuss des IS steht. Die Männer würden ihre Frauen an den Grenzzaun bringen in der Hoffnung, dass sie bald auf die türkische Seite des Zauns könnten. Dann würden die Männer wieder zurück nach Kobane gehen, um die Stadt weiter zu verteidigen, erzählen die Mannheimer Stadträtin Gökay Akbulut (Die Linke) und die Tübinger Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel, die am 21. September selbst vor Ort an der Grenze waren. Kurzentschlossen seien sie einem Aufruf der türkischen Parteien BDP und HDP gefolgt, aus denen hervorgehe, dass die Situation eskaliere, sagen sie. Am vergangenen Donnerstag berichteten sie davon im Gewerkschaftshaus.
Bevölkerung organisiert Hilfsmaßnahmen
„Die Situation ist chaotisch“, beschreibt Gökay Akbulut, was sie in Suruc und zehn Kilometer weiter an der Grenze gesehen hat: Statt internationaler Delegationen und Hilfeleistungsorganisationen wie dem türkischen Roten Kreuz und dem türkischen Halbmond seien Militär und die Polizei sehr präsent. Auch in Suruc selbst sei von Hilfsorganisationen nichts zu sehen, sagen sie. Hilfe würde hier nur durch die kurdische Zivilbevölkerung geleistet.
Der Grenzort Suruc ist eine Kleinstadt im kurdischen Teil der Türkei, knapp zehn Kilometer von der Grenze nach Syrien entfernt. Knapp 58.000 Menschen leben dort. Eine gerade Straße führt von dort an die Grenze. Würde man von dort aus zwei Kilometer weiter fahren, käme man nach Kobane: Die Stadt, die seit Wochen unter dem Beschuss des IS steht und nach Medienberichten bald durch die islamistische Mörderbande erobert wird, sollte nicht schnell militärische Unterstützung erfolgen.
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von mapsengine.google.com zu laden.
„Wir haben uns sehr kurzfristig zu der Reise entschlossen“, sagt Gökay Akbulut. Sie ist selbst Kurdin, lebt in Deutschland, seit sie neun Jahre alt ist und arbeitet im kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt am Main. Es habe Aufrufe der türkischen Parteien BDP und HDP gegeben, nach denen die Situation an der Grenze sehr chaotisch sei. Deshalb sei man am Abend des 20. September zu einer Beobachterdelegationsreise nach Suruc aufgebrochen.
In Suruc trafen sie zunächst die politischen Vertreter der Stadt, die ihnen von der Situation vor Ort berichteten. Laut Angaben der türkischen Regierung waren dort zuvor 140.000 Menschen innerhalb weniger Tage angekommen – mehr als doppelt so viel, wie in der Stadt normalerweise leben.
Diese vermeldeten Flüchtlingsströme habe sie nicht gesehen, sagt Frau Akbulut: „Es waren vielleicht ein paar tausend Menschen.“ Heike Hänsel spricht in einem Internetvideo von Zehntausenden. Welche Zahlen korrekt sind, ist von hier aus schwierig zu sagen: Die Wahrheit ist meist das erste Opfer des Krieges. Auch auf den Fotos sieht es eher nach einigen hundert Menschen aus, die an der Grenze ausharren, bis sie – vielleicht – auf die andere, sicherere Seite gelangen. Andere Fotos zeigen Frauen und Kinder vor einem Hochzeitssalon in Suruc. Sie sitzen buchstäblich auf der Straße.
Was ist Gerücht? Was Wahrheit?
Gökay Akbulut sagt, sie befürchte, dass die Flüchtlingszahlen instrumentalisiert würden. Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seien die offiziellen Zahlen der türkischen Regierung vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR nicht überprüft worden. Die Stadträtin sagt, die türkische Regierung verfolge ihre eigenen Interessen bei der Kurdenpoilitk: Die Regierung wolle eine militärische Pufferzone im Grenzgebiet errichten, sagt sie. Von der kurdischen Bevölkerung werde dies als Besatzung wahrgenommen. Noch am Donnerstagabend beschloss das türkische Parlament mehrheitlich einen Militäreinsatz in der Region.
Gleichzeitig soll die türkische Regierung mit dem IS zusammenarbeiten, Waffen liefern und Infrastruktur bereitstellen. Es soll Rekrutierungen auf türkischer Seite geben. IS-Kämpfer kämen einfach über die Grenze. Zivilisten nicht. Das erzählt Frau Akbulut. Gleichzeitig sprechen sie von einem Embargo gegen die syrische Region Rojawa, in der Kobane liegt: Also selbst von türkischer Seite käme nichts über die Grenze. Selbst gesehen habe sie weder die IS-Kämpfer in der Türkei noch Lieferungen an die Dschihadisten in Syrien, sagt sie auf Nachfrage: „Es gibt die Berichte einer Krankenschwester aus Adana, die sagt, dass sie es leid sei, Dschihadisten zu behandeln“, sagt sie. Dazu gebe es zahlreiche Videos im Internet, in denen angebliche IS-Kämpfer im Bus in der Türkei fahren.
Starke Militärpräsenz statt Hilfsorganisationen
Man erkenne die Männer an den schwarzen Flaggen der IS, die sie auf ihrer Brust tragen, sagt die Stadträtin. Und an den langen Bärten. Die Videos gibt es beispielsweise bei YouTube. In einem Handyvideo sieht man zwei Männer, auf deren schwarzen T-Shirts das Zeichen der IS zu sehen ist. Was davon Gerücht ist und was wahr, ist schwer zu überprüfen.
Gesehen und erlebt haben die beiden Frauen die starke Präsenz von Militär und Polizei auf dem Weg an den Grenzzaun. Vier bis fünf Militärlinien hätten sie auf dem Weg dahin überwinden müssen, sagt Heike Hänsel. „Als Abgeordnete werde ich normalerweise problemlos durch diese Absperrungen gelassen“, sagt sie. Hier habe es aber an jedem Posten längere Diskussionen gegeben, ob die beiden Frauen durchgelassen werden oder nicht. Für eine Strecke von zwei Kilometern hätten sie so fünf Stunden zu Fuß gebraucht, sagt Frau Hänsel.
Hungerstreiks, Tränengas und Lagerräumungen
Vor Ort hätten sie nicht nur die Menschen gesehen, die auf der syrischen Seite des Zauns saßen, sondern auch Abgeordnete getroffen, die an der Grenze gegen das Vorgehen des Militärs mit einem Sitz- und Hungerstreik protestierten: „Das türkische Militär geht mit großer Brutalität vor“, sagt Gökay Akbulut. Demnach würden die Lager, die mit Hilfe der kurdischen Zivilbevölkerung aufgebaut worden seien, vom Militär wieder eingerissen. Lebensmittel würden beschlagnahmt. Tränengas werde eingesetzt – meist CS-Gas.
Fotos zeigen die Nebelschwaden. Sie sind auch im Hintergrund des Videos zu sehen, das Gökay Akbulut auf ihrer Facebook-Seite gepostet hat. Auf einem Foto hält Frau Akbulut eine der leeren Tränengashülsen in die Kamera. Auf einem anderen Foto sieht man Planen, die auf dem Boden ausgebreitet sind. Davor liegen Gegenstände ordentlich aufgereiht. Dieses Foto soll eines der geräumten Lager zeigen. Welchen Auslöser die Räumungen hatten und wo die Menschen jetzt sind, die dort untergebracht waren, können Frau Akbulut und Frau Hänsel nicht sagen.
Von 1,5 Millionen Menschen, die in die Türkei geflüchtet sind, lebten 250.000 in solchen Camps, die von der Zivilbevölkerung organisiert wurden, sagt die Stadträtin. Andere seien weitergezogen ins Landesinnere. Bei ihrem Urlaub in der Türkei vor einigen Wochen habe sie auch viele von ihnen in ihrem Urlaubsort gesehen, sagt sie.