Stuttgart/Rhein-Neckar, 14. Oktober 2016. (red/me) Nach einem Gast-Beitrag von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in der Zeit, bei dem es um seine selbstkritische Auseinandersetzung mit Ängsten in der Bevölkerung ging, überschlug sich die Kritik zu einem Satz, der die “Ehe als bevorzugte Lebensform” beschrieb. Doch die die Kritik an Kretschmann wurde inzwischen durch Beiträge des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (Grüne) weiter aufgeheizt und der Streit ist vermutlich noch lange nicht zu Ende.
Kommentar: Mathias Meder
Vor wenigen Monaten wurde auf der Seite der grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung ein Artikel ins Netz gestellt (LINK) mit dem Titel „Alle Heteros sind homophob“. Darin wird erklärt, dass alle heterosexuellen Männer homophob sind – also Angst vor homosexuellen Menschen haben. Dementsprechend ist es nur logisch, wenn Kretschmann, Palmer und wohl auch der Autor dieses Artikels als „homophob“ oder „latent homophob“ bezeichnet werden – müssen.
Obwohl der Artikel des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) nun schon vor gut einer Woche in der Zeit veröffentlicht wurde, ebbt der Streit im Netz noch immer nicht ab. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hat ihn aufgegriffen und lässt nicht locker. Ihm gegenüber steht Queer.de, ein schwul-lesbisches Magazin, das ihn inzwischen als homophob betitelt hat und ebenso wie Palmer dem Streit nicht aus dem Weg geht.
Doch worum geht es überhaupt?
Da hat der grüne Ministerpräsident in einem Gastbeitrag für die Zeit selbstkritisch darüber reflektiert, wie möglicherweise auch die Politik der Grünen zu Ängsten und Verunsicherung in Teilen der Gesellschaft geführt hat. Er formuliert dabei auch einen Satz, der ihn bald darauf schon zu einer Klarstellung veranlasst. Denn viel wird hineininterpretiert, das von ihm so nicht formuliert wurde:
So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so.
Viele Kommentatoren haben diesen Satz, ein Zitat des schwulen Klaus Wowereit mit dem dieser sich outete, in ihrer ersten Berichterstattung aus dem Zusammenhang gerissen, bei queer.de legte man dem Ministerpräsidenten jedoch gleich eine rechtskonservative Forderung in den Mund und titelte:
Kretschmann fordert mehr Politik für Heteros.
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Der Shitstorm lässt nicht lange auf sich warten. Trotz des Hinweises von queer.de, dass das Staatsministerium sofort nach Veröffentlichung des Kretschmann-Beitrags klargestellt habe:
Aus dem Text geht eine solche Schlussfolgerung wie in Ihrem Artikel nicht hervor und ist auch nicht beabsichtigt.
Die schwul-lesbische Szene diskutiert aufgebracht im Netz, die taz bezeichnet Kretschmanns Zeit-Beitrag als „latent homophoben Kommentar“ und niemanden dort interessiert, in welchem Zusammenhang dieser eine Satz eigentlich formuliert wurde. Das erinnert an die AfD, die sich auch immer über aus dem Zusammenhang gerissene Zitate aufregt…
Das Maß aller Dinge für die Kretschmann-Basher ist queer.de, obwohl es auch andere Stimmen gibt, wie beispielsweise das Schwulenmagazin “blu”. Dort schreibt Online-Chefredakteur Christian Knuth über Kretschmann:
Nein, progressiv links ist dieser Mann sicher nicht – war er auch nie. Aber ihm aus einer ehrlichen politischen Analyse mit konkreten Handlungsempfehlungen an die eigene Partei einen antimanzipatorischen Strick drehen zu wollen, geht mir zu weit.
Es ist fast schon Ironie des Schicksals, dass Kretschmanns zentrale Aussage in dem Zeit-Beitrag eine ganz andere ist. Ihm ging es in seinem Beitrag nicht um einen Diskurs über die Ehe und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, sondern um mehr gegenseitigen Respekt in politischen und gesellschaftlichen Debatten:
Schließlich brauchen wir eine Sprache, in der wir uns politisch verständigen können. Auf der einen Seite erleben wir eine tendenziell übersteigerte politische Korrektheit, auf der anderen Seite das krasse Gegenteil: einen Verbalradikalismus und eine Verrohung der Sprache. Wir müssen eine neue Tonlage finden, getragen von Klarheit und Respekt.
Genau diese Tonlage von queer.de und anderen Kommentatoren in den sozialen Netzwerken ist auch dem Tübinger OB Palmer ein Dorn im Auge. Er äußerte sich streitbar, aber immer argumentativ in der Vergangenheit zu Themen über seine lokale Politik hinaus und hält mit seiner Meinung selten hinterm Berg. Er geht auch diesmal keinem Streit aus dem Weg und nimmt provokant Stellung zu allen Kommentaren:
Der Bannstrahl trifft die Mitte der Gesellschaft und zerstört damit die Unterstützung für ein richtiges Anliegen. Warum soll ich mich für Leute einsetzen, die mir dauernd um die Ohren hauen, ich sei homophob?
Die Antwort sind weitere Schlagzeilen bei queer.de, die sich nun auf Palmer fokussieren und seine Kommentare als Beweise für seine “totale” homophobe Einstellung herausarbeiten.
Als Anja Reschke, Moderatorin des Magazins „Panorama“, vor rund einem Jahr in ihrem Beitrag die Stimme für die Flüchtlinge erhob, da war der öffentliche Beifall stark.
Die größere Aufmerksamkeit erhielt sie damals jedoch nicht für ihre Position gegenüber den Flüchtlingsströmen, sondern für das Anprangern der Unsitte, im Netz ungebremst hetzen zu können:
Schön wäre also, wenn darüber sachlich diskutiert würde. Aber so würde es nicht laufen. Ich bekäme eine Flut von Hasskommentaren.
Kretschmann wollte mit seinem Beitrag den innerparteiischen Diskurs über den Umgang mit der AfD und der Verunsicherung in der Gesellschaft befördern und zu mehr gegenseitigem Respekt aufrufen.
Auch Palmer treibt dies an. Doch Palmer ist nicht “politisch korrekt” und will das auch nicht sein. Er will sein Recht auf freie Meinungsäußerung genauso nutzen wie dies andere tun. Palmer diskutiert dabei hart und ohne Kompromisse. Und hält auf diese Weise seinen Kritikern den Spiegel vor.
Er fordert für sich und Kretschmann das ein, wofür viele Minderheiten jahrzehntelang hart kämpfen mussten: Respekt und Achtung vor Andersdenkenden. So wie es aussieht, verhallt diese Forderung bei denen, die es eigentlich besser wissen müssten, ein weiteres Mal ungehört.
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