Rhein-Neckar, 10. Oktober 2016. (red/pro) Aktuell haben wir exklusiv über ein Video berichtet, das angeblich einen inszenierten Verkehrsunfall zeigt. Wir wurden über unseren anonymen Briefkasten darauf aufmerksam gemacht. Der Absender wollte also unerkannt bleiben. Warum eigentlich? Weil er oder sie der Sache selbst nicht traut? Nach der Veröffentlichung gibt es viele Kommentare, weitere anonyme Meldungen und Postings, die weitere Videos als „Beweis“ veröffentlichen, dass hier „eine Masche“ im Gange ist – Autofahrer sollen durch fingierte Unfälle „abgezogen“ werden. Ist das so?
Von Hardy Prothmann
Es ist seit Jahren ein Problem und es wird nicht kleiner, sondern immer schneller immer größer. Immer wieder werden Berichte, Fotos, Videos, „Zeugenaussagen“ geteilt, die irgendetwas „beweisen“ sollen. Manchmal handelt es sich um „echtes“ Material, meist nicht. Und selbst wenn das Material echt ist – was beweist es?
In den allermeisten Fällen beweist es nur, dass die Personen, die entsprechendes Material wo auch immer posten, meist eine vollständig mangelhafte Medienkompetenz haben oder schlicht gar keine. Oder dass sie etwas veröffentlichen, was ihre sowieso unumstößliche Meinung (ersetzte durch Ideologie, Weltanschauung) untermauern sollen: „Seht her – das ist der Beweis.“

Was beweist dieser Screenshot aus einem youtube-Video? Nichts oder alles?
Beweis oder haltloser Schwachsinn?
Selbst wenn solche „Beweise“ als haltloser Schwachsinn oder geschickt manipuliertes Material enttarnt werden, gibt es keinen Erkenntnisgewinn, zukünftig etwas misstrauischer zu sein. Dann kommt als „Argument“, „aber es hätte doch…“. Nein, hat es nicht.
Es gibt auch keine bestimmte Gruppe, die man dafür an den Pranger stellen könnte. Es machen alle mit. Rechtsextreme, Linksextreme, Umweltschützer, Bürgerinitiativen, Künstler, Politiker, Privatpersonen – ja selbst Wissenschaftler. Denn alle sind Menschen, haben ihre (verschrobenen) Weltbilder und suchen nach (absoluter) Bestätigung.
Wer den „grünen“ oder „weißen“ Wagen noch nicht kennt, ist selbst schuld. Der wird zuhauf und immer wieder gesichtet und immer folgt die Warnung, dass „glaubwürdige Zeugen beobachtet“ haben, dass „Kinder angesprochen“ werden. Bei der Wagen-Meldung kann man schon von einem „Klassiker“ reden.
Kindern bringt man bei, keine „Lollies“ von irgendwelchen Onkels anzunehmen und in kein Auto einzusteigen. Warum nehmen aber vermeintlich erwachsene Menschen jedweden Blödsinn für bare und absolute Münze und steigen auf jeden Mist ein? Kann mir das jemand erklären?
Medienkritik ist in Ordnung – wenn es Medienkompetenz gibt
Stichwort Lügenpresse: Ist die Kritik gerechtfertigt? Das kommt immer auf den Standpunkt an und was man glaubt, glauben will und was nicht.
Bei Medien arbeiten Menschen. Menschen machen Fehler. Deshalb gibt es auch Fehler in Medienberichten. Das wären also keine Lügenberichte, sondern fehlerhafte Berichte. Nur mal so als Anmerkung: Es gibt einen erheblichen Unterschied, ob man bewusst die Unwahrheit behauptet oder falsch berichtet, weil man einen Fehler gemacht hat.
Sie lesen aktuell nicht mal ein Viertel dieses Textes. Sie lesen in diesem Text geballtes journalistisches Wissen. (Fehlende) Medienkompetenz ist ein Top-Thema für eine umfassende gesellschaftliche Debatte – wenn Sie mitreden wollen, müssen Sie sich informieren. Dieser Artikel ist gebührenpflichtig und kann über selectyco gekauft werden. Wie das funktioniert, steht hier. Neuen Nutzern steht ohne jegliche Verpflichtung nach der Registrierung ein freies Guthaben von 2,50 Euro zum Test zur Verfügung.
Propaganda: Erinnert sich noch jemand an die ölverschmierten, dem Tode geweihten Kormorane im Golfkrieg 1991?
Hierzu der Ausschnitt eines Berichts im Spiegel vom 04. März 1991:
Daß Saddam Hussein nicht davor zurückschreckte, die Natur als Waffe in einem nicht gewinnbaren Krieg einzusetzen, wurde schon Mitte Januar deutlich, als er aus den Ölverladeterminals des Emirats 1,5 Millionen Barrel Rohöl in den Golf pumpen ließ – ein Desaster, das mit Fernsehbildern ölverschmierter Kormorane die Welt zunächst mehr entsetzte als die Rauchschwaden im Grenzgebiet zu Kuweit.
Am 12. März 2003 berichtet eben dieser Spiegel:
Fullers PR-Agenten vertraten die von den USA unterstützte Lobby-Gruppe „Citizens or a Free Kuweit“. Vor TV-Kameras präsentierten die Kunden als angebliche Augenzeugin einer Vielzahl irakischer Babymorde eine junge Frau, die ein Jahr später von der Presse als Tochter des kuweitischen Botschafters identifiziert wurde. Bewegende Bilder eines krepierenden Kormorans, die Saddamsche Umweltsünden an der Golfküste belegen sollten, stammten aus Kanada.
Wie kann das sein? Der Spiegel und fast alle westlichen Medien waren 1991 einer manipulierten Meldung aufgesessen. Sie haben 1991 beschrieben, was angeblich ist. Keinen Zweifel geäußert. Und 2003 wurde beschrieben, was war – ohne Zweifel eine sehr geschickt eingefädelte Kriegspropaganda.
Sind wir bereits im Krieg?
Dabei weiß jeder, der als Journalist noch so einigermaßen alle beieinander hat: Das erste Opfer des Krieges ist die „Wahrheit“. Die nächste Frage lautet: Was ist die Wahrheit?
Teils habe ich leider den Eindruck, dass wir alle miteinander miteinander im Krieg sind und damit auch alle unsere Wahrheiten. Wirklich alle. Was für ein Dilemma. Rettet man die eine, stirbt die andere. Betroffen sind Millionen von Menschen.
Es gibt den Fall „Tom Kummer“. Der Schweizer Journalist hat jahrelang große Medien, darunter die Süddeutsche Zeitung mit „Gonzo“-Journalismus beliefert. Frei erfundenen Porträts und Interviews mit Prominenten, die so „geiler Stoff“ waren, dass sie einfach echt sein mussten und wenn nicht, einfach geiler waren als die Wirklichkeit. Tom Kummer flog auf und verlor erst alle Jobs – jetzt ist er wieder im Geschäft.
Immer wieder gerät die Tagesschau in die Kritik oder das ZDF oder RTL oder andere – und immer wieder sind Zweifel an deren Berichterstattung nicht nur angebracht, sondern berechtigt und teils können krass falsche Berichte nachgewiesen werden.
Alles Lügenpresse?
Alles „Lügenpresse“? Eben nicht. Teils sind es handwerkliche Fehler. Teils eine ständige Überforderung. Teils ist es Habgier. Teils Karrieregeilheit. Und es gibt Ideologen. Es gibt Weltverbesserer. Oder was auch immer der Umstand oder das Motiv sein mag und ist. Es gibt, kurzum, immer wieder (massive) Fehler in diesem Mediensystem. Na und? Nehmen Sie ab morgen nicht mehr am Straßenverkehr teil, weil es Leute gibt, die sich nicht an die Regeln halten? Sind ab sofort alle Verkehrsrowdies außer Ihnen? Haben alle einen Vogel außer Ihnen?
Wir schließen beim Rheinneckarblog übrigens nicht aus, dass wir Fehler machen (auch im Straßenverkehr). Wir machen diese und sind sehr bemüht, diese zu vermeiden oder wenn sie passiert sind, richtig zu stellen und uns zu verantworten.
Das einzige, was zählt, ist Verlässlichkeit und immer wieder aufs Neue bewiesene Glaubwürdigkeit. Darum bemühen wir uns jeden Tag und wir kennen jede Menge Kollegen und Medien, bei denen das überhaupt nicht anders ist.
Journalismus ist harte Arbeit und Leidenschaft
Um eine verlässliche Arbeit leisten zu können, muss diese aber auch bezahlt werden – Journalismus erledigt man nicht wie einen Job am Band, nicht von „nine-to-five“, nicht mit einer 35-Stunden-Woche. Nicht mit Zuschlägen für Nacht- oder Wochenendarbeit. Sondern nur mit Leidenschaft.
Man friert im Freien, man schläft auf Gemeinderatssitzungen ein, die so langweilig sind, wie etwas nicht langweiliger sein kann und sorgt sich, dann doch das wesentliche Detail zu verpassen. Man redet mit unzähligen Menschen, die einem irgendwas erzählen, was sie gehört oder sich ausgedacht oder falsch verstanden haben, um dann, hoppla, eine entscheidende Information zu erhalten.
Und man macht sich, wenn man den Job ernst nimmt, nicht gerade ständig Freunde. Wer einen heute noch für den „überaus gelungenen, ja geradezu genialen Artikel lobt“, ist möglicherweise übermorgen jemand, der einem Rechtsanwälte auf den Hals hetzt.
Leider und das ist ein sehr großes Leider, gibt es Seilschaften, gibt es Systeme, die das bestätigen. Deshalb gibt es auch den Begriff der Lügenpresse und immer mehr Menschen vertrauen Medien nicht. Was immer wieder übersehen wird – Teile sind nie „das Ganze“.
Tragische Trugschlüsse
Es ist ein absolut tragischer Trugschluss, wenn diese Menschen stattdessen anderen „Quellen“ vertrauen. Woher soll „User XY“ bitte schön die Fähigkeiten haben, Quellen zu überprüfen? Wie viel Zeit verwendet XY darauf? Welche Ausbildung dazu hat er/sie? Wo und wie hat sich jemand schon in Sachen „Glaubwürdigkeit“ bewährt? Wie und wo hat XY den Gegencheck gemacht? Welche Gegenkontrolle hat stattgefunden?

Szene aus einem Video, das einen vorgetäuschten Verkehrsunfall durch einen Flüchtling in Mannheim zeigen soll. Im Film ist zu sehen, wie sich ein Mann auf eine Motorhaube wirft und so tut, als sei er ein Unfallopfer. Quelle: youtube
Aktuell gibt es ein Video aus Mannheim, das einen vollständig verstörenden Vorgang zeigt. Wir wissen nicht genau, was die Umstände sind. Wir haben dazu am Wochenende im Rahmen unserer Möglichkeiten recherchiert und tun das weiter – ob wir „die Wahrheit“ herausfinden können, wissen wir nicht und versprechen das auch nicht. Der angeblich fingierte Unfall wird in rechten Hetzkreisen geteilt.
Die Polizei in Mannheim hat dazu keine Erkenntnisse – die Masche ist nicht bekannt. Wir berichten am Montag nach.
Vor ein paar Tagen haben wir über eine Festnahme auf dem Marktplatz in Mannheim berichtet. Die angeblich völlig „inhumane“ Polizeiaktion wird in linken Hetzkreisen geteilt. Stichwort: „Polizeigewalt“, „racial profiling“, sprich: Der Polizei wird struktureller Rassismus vorgeworfen. Zumindest andeutungsweise.
Es gibt nie nur eine Perspektive
Was wir in beiden Fällen wissen – es gibt nur jeweils eine Perspektive, die die jeweils perspektivisch „ganze Wahrheit“ darstellen soll. Wer nur eine Perspektive sieht, ist alle anderen Perspektiven los. Sicher ist – es gibt immer sehr viel mehr als nur eine „Perspektive“.
Alle Fälle, egal welche, sind erstmal immer „Einzelfälle“. Das gilt für Straftaten durch Ausländer wie unverhältnismäßige Gewalt durch Polizisten. Kein Video, kein Bericht, kein Foto, keine „Zeugenaussage“ ist geeignet, als „Teil“ für das „Ganze“ zu stehen.
Klar, man kann aufsummieren und feststellen, dass es „Trends“ und „Entwicklungen“ gibt. Dafür braucht es aber harte Arbeit, Ausdauer und Kompetenz.
Attacken gegen Aufklärer
Wir empfehlen übrigens gerne Mimikama.at für „Fake“-Meldungen im Internet. Wir kennen das Portal, die schon gut 118.000 Facebook-Fans haben, schon seit vielen Jahren und die Seite hat sich zu einer profunden Rechercheplattform für „Hoaxes“ und „Fakes“ entwickelt. Die machen ihre Arbeit so gut, dass sie sogar massiv bedroht werden. Was ein eher „zweifelhafte Auszeichnung“ ist.
Das kennen wir auch. Ebenso wie der von mir sehr geschätzte Kollege Richard Gutjahr, über den eine beispiellose Hetzkampagne abgezogen worden ist. Nur weil er zufällig bei Attentat von Nizza in Nizza war und beim Amoklauf von München in München vor Ort.
Unsere Leserinnen und Leser können sich jederzeit an uns wenden, um eine Meinung zu Quellen von uns zu erfahren. Am Sonntag haben wir Dutzende Anfragen beantwortet und hoffentlich dem einen oder anderen mit Argumenten die Augen öffnen können.
Mediale Schlachtfelder
Wenn wir uns durch die sozialen Netzwerke arbeiten, erkennen wir eins: Medienkompetenz ist das neue Schlachtfeld. Es wird enorm viele Opfer geben, die auf der Strecke bleiben – außer, Gesellschaft und Politik erkennen endlich, dass das so nicht weitergeht.
Die Hysterisierung und Stigmatisierung, allgemein als „Hass-Kommentare“ bekannt, nehmen ein Ausmaß an, dass nicht bedenklich, sondern absolut geeignet ist, eine gesellschaftliche Staatskrise auszulösen. Und jeder, der sich inkompetent und vorsätzlich daran beteiligt, ist verantwortlich zu machen.
Erschreckend ist, dass der Grundsatz der Meinungsfreiheit am Grundsatz der Meinungsverrohtheit zu scheitern droht.
Denken Sie über diesen Satz nach. Er ist absolut entscheidend und Sie werden feststellen, dass bald andere Medien das Thema aufnehmen, das wir gesetzt haben.
P.S. Ja, es gibt einige Videos über fingierte Verkehrsunfälle im Internet. Teils mit echt absurden Szenen. Gucken Sie genau hin. Können Sie irgendwo erkennen, dass jemand Geld gezahlt hat? Nein? Ok. Warum nicht? Macht Sie das nicht stutzig? Nachdenklich? Kritisch? Angeblich ist doch die „Masche“ bewiesen? Oder etwa nicht? Was stimmt denn jetzt?
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