Rhein-Neckar/Mannheim/Heidelberg/Berlin, 25. März 2020. (red/pro) Aktualisiert. Das Robert Koch Institut wie auch andere wissenschaftliche Einrichtungen betonen immer wieder, wie wichtig valide Daten sind, um die Entwicklung der SARS-CoV-2-Epidemie zu verstehen und daraus notwendige Maßnehmen abzuleiten. Doch offenbar gibt es erhebliche Probleme bei der Datenerfassung. Damit werden die Daten zweifelhaft – aber auch Maßnahmen.
Von Hardy Prothmann
Es gilt als sicher, dass sowohl der massive Ausbruch der Corona-Epidemie in der chinesischen Provinz Hubei und hier in dessen Hauptstadt Wuhan als auch der massive Ausbruch in Norditalien eins gemeinsam haben: Man hatte hier wie dort massiv steigende Zahlen von Infektionen nicht erkannt. Bis es soweit war, hatte sich längst eine exponentielle Ausbreitung entwickelt. Mit den bekannten Folgen: Tausende Menschen starben an der Lungenkrankheit Covid-19.
Die zentrale Datenerfassungsstelle in Deutschland ist das Robert Koch Institut (RKI) in Berlin. Hierhin melden alle Landesgesundheitsämter die erhobenen Zahlen der infizierten Personen – auch, ob diese sterben oder als geheilt gelten. Doch ganz offenbar gibt es keine einheitliche Erfassung der Daten und bei der Einpflegung der Daten Verzögerungen von mehreren Tagen.
(Das RNB beobachtet das schon mehrere Tage – aktuell hat Spiegel online “Die große Meldelücke” dazu ebenfalls berichtet. Anm. d. Red.: Spiegel online ist für uns nur eine von vielen Quellen und eine, die wir immer kritisch betrachten und nicht einfach so unser Vertrauen schenken. Es gilt die RNB-Redaktionsregel Nummer 1: Traue Keinem!)
RKI hinkt hinterher
Schaut man sich nun die Daten des RKI, der aktuell wichtigsten Quelle, an, fällt auf, dass diese bezogen auf Baden-Württemberg, immer einen Tag “hinterherhinken”. Das ist erstaunlich, denn wir erhalten regelmäßig am späten Nachmittag oder frühen Abend die Tageszählung des Sozialministierums in Stuttgart.
Aber auch ein Blick auf diese Meldungen zeigt, wo das Problem grundsätzlich liegt. Wer mit Statistik umgeht, weiß, dass es unbedingt notwendig ist, formale Kriterien einzuhalten und diese auch zu benennen, sonst stochert man bei jeder Erhebung im Nebel.
Dass es offenbar keine “Stichzeit” gibt, zeigen die folgenden Daten. Das Sozialministerium versendete seine Pressemitteilungen mit den tagesaktuellen Daten am 21. März um 19:05 Uhr, eine Korrekturmeldung um 19:27 Uhr, am 22. März um 20:17 Uhr, am 23. März um 19:29 Uhr, am 24. März um 18:32 Uhr, um nur die letzten Tagen in Augenschein zu nehmen.
Sofern die Meldungen jeweils beispielsweise um 21 Uhr eingepflegt würden, stellten die Zumeldungen kein Problem dar, weil ja vor der Einpflegezeit vorhanden. Das ist so aber nicht, denn ganz offenbar fehlten häufig die aktuellen Zahlen und die Angaben des RKI und damit der dortige “Wissenstand” hängen häufig einen Tag hinterher.
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Ganz erstaunlich ist, dass auch gegenteilige Unstimmigkeiten zu beobachten sind. So meldete das Sozialministerium Baden-Württemberg am 23. März insgesamt 5.333 nachgewiesene Infektionen, das RKI aber mit Stand 24. März um 24 Uhr insgesamt 5.348 Fälle, also 15 positive Ergebnisse mehr. Was lässt sich daraus schließen? Womöglich gibt es Informationen für die Öffentlichkeit und andere Informationen, die die Öffentlichkeit zunächst nicht erfährt. 15 Fälle klingen jetzt nicht wirklich viel und sind auch nicht wirklich viele Fälle angesichts der Gesamtzahl – es geht aber ums Prinzip: Kann man amtlichen Informationen trauen oder nicht?
Journalisten wie Bürger müssen amtlichen Informationen trauen können. Das sind “Offizialquellen”, die unabhängig und zutreffend sein müssen. Stellen Sie sich nun vor, das Rheinneckarblog berichtete am 23. März gegen 21:00 Uhr, dass es 5.333 nachgewiesene Infektionen gebe, ein interessierte Leser guckt dann auf die Statistik des RKI und findet die Zahl 5.348 und zweifelt damit an der “Wahrhaftigkeit” unseres redaktionellen Angebots. Nur weil es offenbar “Standards” der Datenpflege gibt, die nicht verlässlich sind.
Laut des Berichts auf Spiegel.de ist das grundlegende Problem enorm und man muss mit ungläubigen Staunen feststellen, dass es Ämter gibt, die ihre Zahlen tatsächlich noch per Fax melden. Per Fax. Im Jahr 2020. Das muss man erstmal sinken lassen.
Wenn man dann noch lesen muss, das Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis habe “Software-Probleme” gehabt und infolge einer “Absprache” habe es “andere Stichworte” zur Erfassung gegeben, bleibt einem echt die Spucke weg:
“Etliche Fälle seien in Absprache mit dem Landesgesundheitsamt zunächst unter einem anderen Stichwort registriert worden als für die Erfassung nötig, sagte Andreas Welker, stellvertretender Leiter des Gesundheitsamts Rhein-Neckar-Kreis/Heidelberg. Nach Rücksprache mit dem Landesgesundheitsamt sei das Problem am Donnerstag zunächst behoben worden. Kurz darauf habe es weitere EDV-Probleme gegeben, so die Behörde. “Nun ist auch dieser Fehler behoben, sodass ab Dienstag von einer korrekten Übermittlung auszugehen ist.”
(Anm. d. Red.: Schauen Sie immer genau hin. Der Artikel ist bei Spiegel.de am 24. März 2020 um 19:56 Uhr erschienen. Darin wird Herr Welker derart zitiert, “sodass ab Dienstag”. Das bedeutet vermutlich, dass die Aussage vor dem 24. März 2020 getroffen wurde, sonst würde dort “heute” stehen. Ob die Fehler “behoben” sind, wissen wir nicht.)
Noch interessanter wird es, wenn man die Daten des RKI mit denen anderer Einrichtungen vergleicht – der John Hopkins University (JHU, Baltimore, US) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO, New York, US). Wir zeigen Ihnen drei Screenshots vom 25. März 2020, 01:00 Uhr:
Die niedrigsten Zahlen hat das RKI – 27.436. Dann folgt die WHO mit 29.212. Dann die JHU mit 32.986.
Wie kann es sein, dass WHO und JHU deutlich mehr Fälle ausweisen als das RKI? Gucken die in eine Glaskugel? Würfeln die ihre Zahlen? Oder pflegen sie diese schneller ein als das RKI, wobei die JHU deutlich vor der WHO liegt. Und überhaupt: Woher kommen die Zahlen, unter welchen Bedingungen werden diese erhoben und sind diese auch zuverlässig?
Daten muss man kritisch hinterfragen
RNB-Leser/innen wissen, dass wir alle Informationen immer kritisch hinterfragen und immer sehr transparent berichten und Sie Teil haben lassen an unserer Arbeit.
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Mit was haben wir es hier zu tun? Ich lasse mal die WHO in der Mitte weg und nehme die niedrigste (RKI) und höchste Zahl (JHU). Dazwischen liegt ein krasser Unterschied von 20 Prozent. Aus meiner Sicht ist das “dirty data”, das sind schmutzige Zahlen oder in einem Wort: Dreckzahlen. Die kann man nur mit der Beißzange anfassen.
Folgt man den JHU-Zahlen, ist die Lage dramatischer als sowieso schon, folgt man dem RKI, ist es zwar schlimm, aber eben noch nicht so schlimm. Wie ordne ich das als Journalist ein, ist die eine Frage. Die viele wichtigere ist: Wie ordnet das die Politik ein? Kann man auf Basis von “schmutzigen Zahlen” weitreichende Entscheidungen treffen? Die Antwort darauf kann drastische Folgen haben, wie wir alle aktuell erleben.
In China, Italien und nun auch Spanien sterben überwiegend alte Menschen weg wie die Fliegen. In Deutschland sind es im Vergleich noch sehr wenige Todesfälle. Offenbar trifft es über 60-jährige Menschen besonders und hier vor allem solche mit Vorerkrankungen, was auf viele Menschen in diesem Alter vermutlich zutrifft.
Ob die Todeswelle auch in Deutschland zu verzeichnen sein wird, weiß aktuell noch niemand, weil sich die Infektionswelle vermutlich noch nicht aufgetürmt und ihre volle Kraft entfaltet hat.
Möglicherweise bleiben wir hier weitestgehend verschont – das dachte man in Italien und Spanien auch.
Aktualisierung: Am 25. März, 02:33 Uhr gab es beim RKI immer noch die Zahlen vom 24. März, 0:00 Uhr.
Meine persönliche Einschätzung als Journalist mag banal klingen, aber so ist es leider:
Niemand weiß mit Sicherheit, wie sich die Lage in Deutschland entwickelt. Klar ist nur, dass die Kurve der Infektionen nach wie vor steigt – und zwar nach wie vor exponentiell. Ob die aktuellen Maßnahmen ausreichen, um diese abzuflachen und ins Negative (unter 1) zu bringen, ist offen. Das weiß man in zwei Wochen möglicherweise.
Die uneinheitlichen Regelungen der Bundesländer bis zu diesem Wochenende sind eine Farce – hier wurde viel Zeit verspielt. Der politische Kampf um die Deutungshoheit ist angesichts der Tausende von Toten in anderen Länder widerwärtig.
Die nun geltende grundsätzliche Linie ist notwendig. Hektische Gesetzesänderungen, die Freiheitsrechte aussetzen, sind kontraproduktiv und erzeugen enormen Schaden, der erst später vielen klar wird.
Wenn wir als Gesellschaft die Freiheit retten wollen, müssen wir jeder für sich auch frei entscheiden, zurückzutreten und das große Ganze im Blick zu haben. Wenn dies nicht gelingt, heißt das nicht, dass die Menschen das nicht können, sondern dass es noch erheblich mehr Anstrengungen braucht, um diese Kraft in der Gesellschaft zu entwickeln.
Obwohl wir uns viel auf Bildung einbilden, ist leider festzustellen, dass Politiker und Medien offenbar nicht gut mit Zahlen umgehen können und es an grundsätzlichem Verständnis für statistische und mathematische Themen gibt. Hier muss dringend nachgebessert werden. Das gilt insbesondere auch für Medienkompetenz.
Das RNB ist hier Vorreiter – wir fordern unsere Leser/innen immer zur kritischen Auseinandersetzung auf und geben Hinweise, wo und wie man Informationen prüfen kann und nicht einfach nur die Überschriften liest und sich daraus eine (falsche) Meinung bildet.
Die zweite Redaktionsregel heißt übrigens: “Ohne Vertrauen ist alles nichts”. In Bezug zu “Traue keinem” erscheint dies als Paradoxon. So ist das und das wird sich auch nicht ändern. Man muss vertrauen können, darf aber nicht blindlings dabei werden.
Machen Sie es gut. Und das werde ich noch häufiger anmerken: Wir haben erhebliche Umsatzverluste durch diese Krise. Unsere ökonomische Basis war davor auch schon alles andere als “prall”.
Ich als verantwortlicher Redakteur bezahle meine Leute deutlich über den Honoraren, die sonst so von lokalen Medien aufgeboten werden, weil ich meine Mitarbeiter wertschätze. Dafür habe ich selbst über Jahre auf “höhere” Einnahmen verzichtet.
Das mache ich nicht mehr lange.
Ich kenne sehr viele Leute mit sehr guten Gehältern, die sehr intensiv die von RNB bereitgestellten Informationen nutzen, aber nichts dafür zahlen – ich kenne ja die Daten der zahlenden Kunden.
Und ich weiß gleichzeitig von Leuten, die sehr wenig haben, aber trotzdem bereit sind, etwas zu zahlen, auch wenn es nur 5 Euro sind. Hochachtung meinerseits.
Und es gibt andere, die erheblich mehr zahlen, das sind einzelne, aber die überweisen einfach mal so sehr viel Geld (Höchstbetrag bislang 1.000 Euro), um unsere kritische Arbeit zu unterstützen.
Wir beim RNB sind dankbar für jeden individuellen Beitrag – das Problem: Das lässt sich überhaupt nicht kalkulieren. Besser ist es, wenn möglichst viele einen Beitrag leisten, mit dem man “rechnen” kann.
Ich werde in den kommenden Monaten genau beobachten, ob es hier eine positive Entwicklung gibt. Wenn nicht, schließen wir irgendwann ab und zwar für immer. Denken Sie drüber nach – jeder, egal, ob man einen oder 1.000 Euro zahlen kann. Danke!
Ich beende diesen Artikel übrigens um 02:05 Uhr.
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