Mannheim/Stuttgart/Ankara, 18. April 2017. (red/pro) Das Referendum zur Änderung der türkischen Verfassung ist beendet – die Diskussionen darum nicht und die weiteren Entwicklungen schon gar nicht. Der Blick auf die Abstimmung im Detail lohnt sich – pauschale Analysen nicht. Richtig ist: Die Erdogan-Unterstützer haben mit knapper Mehrheit für das angestrebte Präsidialsystem mit einer fast diktatorischen Machtfülle gestimmt. Falsch sind viele Aussagen in angeblichen Analysen.
Kommentar: Hardy Prothmann
Vorabbemerkung: Das größte Problem politischer Analysen zur Lage in der Türkei ist die mangelhafte Informationslage. Das betrifft nicht nur kleine Medienangebote wie uns, sondern auch alle großen Medien. Nur gibt das bis auf uns niemand zu.
Die Türkei ist in der Fläche größer als Deutschland und von der Einwohnerzahl her fast gleichauf. In Deutschland gibt es rund 350 Tageszeitungsverlage plus Nachrichtenmagazine plus Nachrichtenagenturen plus ARD und ZDF mit insgesamt vielen zehntausend Mitarbeitern – es soll mehr als 40.000 hauptberufliche Journalisten in Deutschland geben. Die Redakteure und freien Journalisten sind hier aufgewachsen, sprechen die Sprache und haben „Connections“. In der Türkei selbst gibt es aus Deutschland gerade mal einige Korrespondenten. Das Land bietet nicht dieselben freien Arbeitsbedingungen wie hier. Aber trotzdem tun viele Medien so, als seien sie Gralshüter der „Wahrheit“. Und das ist ein Fehler.
Wir geben also zu, dass unsere Kenntnisse und Möglichkeiten begrenzt sind – können wir dann überhaupt berichten? Können wir – über das, was wir einigermaßen sicher recherchieren können und das, wo wir uns gut auskennen.
Die erste Falschmeldung, die sich in vielen Medien findet, ist: 63 Prozent der Türken in Deutschland haben für die Verfassungsänderung gestimmt. Tatsache ist: Nur 29 Prozent der in Deutschland lebenden Türken mit Wahlberechtigung haben mit Ja gestimmt. Richtig ist: 63 Prozent der Türken, die in Deutschland leben, wahlberechtigt sind und gewählt haben, haben mit Ja gestimmt. In absoluten Zahlen: Von rund 1,43 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland haben nur 46 Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, also rund 660.000 Menschen, davon haben rund 416.000 mit Ja gestimmt. Das sind etwa 0,5 Prozent der Menschen, die in Deutschland leben.
In der Türkei lag die Wahlbeteiligung nach verschiedenen Angaben zwischen 83-86 Prozent, was enorm hoch ist. Es gibt Berichte, die Unregelmäßigkeiten bei der Wahl anprangern, wir haben dazu bislang keine soliden Informationen gefunden, ob diese Kritik berechtigt ist. Kann sein, kann auch nicht sein.
Die zweite Falschmeldung: Die im Ausland lebenden Türken hätten das Ergebnis maßgeblich beeinflusst. Richtig ist: Die Abstimmung ging im Gesamtergebnis nach Informationen der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu mit 51,41 Prozent zu 48,59 Prozent aus. Ohne die im Ausland lebenden türkischen Staatsangehörigen mit Wahlrecht stand es 51,18 Prozent zu 48,82 Prozent. Die korrekte Meldung: Die Stimmen aus dem Ausland waren für den prozentualen Gewinn des Referendums bedeutungslos, weil sie gerade mal 0,23 Prozentpunkte ausmachen. Unterm Strich zählt jede Stimme, aber hier nicht.
Richtig ist: Vor allem in Deutschland war die Zustimmung größer als in der Türkei selbst. In Österreich, Belgien und den Niederlanden sogar über 70 Prozent. In anderen Ländern aber nicht, wie etwa Spanien, Italien oder USA und Kanada, wo überwiegend Nein gestimmt wurde.
In der Analyse kann und muss man sich fragen, warum das so ist? Betrachtet man sich die Daten innerhalb der Türkei, wird schnell klar, dass eher die Landbevölkerung für Ja gestimmt hat – ausgenommen die kurdischen Gebiete. In den Metropolen Ankara, Istanbul und Izmir haben die Mehrheiten für Nein gestimmt. In Deutschland in allen 13 Wahlbezirken waren die Ja-Wähler in der Mehrheit, am knappsten in Berlin mit 50,13 Prozent, in dem für unser Gebiet relevanten Bezirk Karlsruhe erreichten die Ja-Wähler 61,6 Prozent.
Schaut man auf die eklatant unterschiedlichen Ergebnisse, ist eine Aussage, „Auslandstürken“ hätten Erdogan gestützt, falsch und wahr zugleich. Falsch, weil das Ergebnis in vielen Ländern eben nicht so ist, wahr, weil insbesondere die größte „Community“ von im Ausland lebenden Türken in Deutschland mehrheitlich hinter Herrn Erdogan steht, teils knapp, aber insgesamt deutlich.
Falsch ist auch die Aussage, das Staatspräsident Erdogan einen Sieg errungen hat. Er hat die Abstimmung in seinem Sinne gewonnen, aber damit das Land tiefer gespalten als je. Es steht etwa „fifty-fifty“. 50 Prozent plus eine Stimme entscheiden. So geht das demokratisch. Aber wie kam das zustande?
Das Land ist nicht erst seit dem Putschversuch vor knapp einem Jahr im Ausnahmezustand. Man darf nicht vergessen, dass das Ende des osmanischen Reiches keine hundert Jahre vorbei ist. Es folgten Kriegsjahre wie überall in Europa auch im Grenzland Türkei. Man muss die Rolle der Alliierten sehen, insbesondere Großbritanniens und Frankreichs. Man muss auch das Umfeld der Grenzländer sehen – aktuell insbesondere Syrien. Die Türkei ist in einer sehr instabilen Lage.
Auch insbesondere dadurch, dass das Land ein Vielvölkerstaat ist – wir Deutschen haben keine Ahnung davon, was das bedeutet. Die Türkei beherbergt mehr als doppelt so viele Flüchtlinge aus Syrien als Deutschland. Die Türkei ist ein überwiegend muslimisches Land. Gleichzeitig ein Industriestaat, der über viele Jahre enorme Kraft entwickelt hat, aber ebenso ein Agrarland mit ärmlichen Strukturen. Wie groß die Herausforderungen mit „blühenden Landschaften“ sind, wissen wir Deutschen seit 27 Jahren. In der Türkei sind die Ausgangsbedingungen weitaus härter.
Hinzu kommt ein Leben mit Gewalt, von dem wir nach Kriegsende keine Ahnung mehr haben. Rund 1.000 Attentate pro Jahr sind krass. Die Mehrheit hier in Deutschland hat keine Vorstellung davon, was das bedeutet. Auch bei uns würden Panzer auf der Kreuzung stehen, wenn das hier so wäre.
Die angebliche Verfolgung von „Journalisten“ betrachte ich ebenso kritisch und bis in einem enormen Dissens mit Reporter ohne Grenzen dazu, für die ich selbst mal drei Jahre Korrespondent für die deutsche Sektion war. Wieso der Streit? Weil nicht klar zwischen Journalist und politischem Aktivist getrennt wird. Wenn der Rechtsradikale Günter Deckert von sich behaupten würde, ein Journalist zu sein, dann könnte er das. Die Berufsbezeichnung ist nicht geschützt und oft wünschte ich mir einen Schutz, lehne ihn aber unterm Strich ab. Er „recherchiert“, er veröffentlicht, er sucht den Drang nach Öffentlichkeit – aber er ist und bleibt ein rechtsradikaler Aktivist und ist eben kein „objektiver“ Journalist.
Ähnlich ist das mit vielen „Journalisten“ sonstwo auf der Welt und auch in der Türkei. Die Türkei hat ein miserables Medienssystem und unabhängige Berichterstattung ist Mangelware – damit sind die staatsnahen Medien gemeint wie die „oppositionellen“. Beider Glaubwürdigkeit ist extrem in Frage zu stellen. Die vollkommen desolate Lage der Medien in der Türkei muss auch in Deutschland als absolute Warnung verstanden werden – eine lebendige und funktionierende Demokratie ist ohne ein intaktes, verlässliches Mediensystem nicht denkbar.
Zurück zum Referendum: Klar ist, nur knapp 30 Prozent der in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigten haben für die Verfassungsänderung gestimmt. Mit rund 63 Prozent sind sie die Mehrheit, aber von weniger als die Mehrheit, denn nur rund 46 Prozent der Wahlberechtigten haben abgestimmt.
Was bedeutet das? Entwarnung? Mitnichten. Diese Lethargie ist erschütternd. Wieso ist es nicht gelungen, den in Deutschland lebenden Türken zu vermitteln, das Wahlen wichtig sind und man sich beteiligen muss? (Anm. d. Red.: Diese Frage muss auch Deutschen gestellt werden…) Wieso sind die rund 54 Prozent der wahlberechtigten Türken bei einer so essentiellen Entscheidung nicht zur Wahl gegangen? Wieso gab es in anderen Ländern deutliche Mehrheiten dagegen, nicht aber hier in Deutschland?
Ein sehr entscheidender Fehler wäre, die „Türken“ jetzt in Deutschland abzukanzeln. Fakt ist: Die Mehrheit hat sich nicht entschieden und nicht gewählt. Die, die gewählt haben, haben für ein entferntes System gestimmt, dass unsere Grundwerte massiv verletzt – Beispiel Todesstrafe. Wer sich fragt, wie das sein kann? Ganz einfach – natürlich genießt man hier Grundrechte und Rechtsstaat und wünscht sich halt was anderes. Opportunismus ist nicht erst mit dem Referendum erfunden worden.
Leider liegen uns keine Zahlen zu Mannheim vor – wir versuchen diese zu bekommen. Solange können wir dazu keine Aussage treffen.
Fakt ist: Die Lage in der Türkei wird sich nicht entspannen, sondern anspannen, möglicherweise eskalieren. Fakt ist auch: Weder Erdogan-Anhängern noch -Gegnern kann erlaubt werden, hier auszurasten. Möglich ist, dass es dazu kommt.
Ob Türken modern oder traditionell orientiert sind, spielt keine Rolle. Man muss erwarten können, dass die Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit, die hier bei uns leben, sich anständig und nach unseren Regeln, die auch ihre sind, verhalten. Sie können an diesen Regeln mitwirken. Durch Teilhabe.
Der überwiegende Teil der in Deutschland lebenden, wahlberechtigten Türken hat sich nicht entschieden. Das ist nicht gut. Ist es Desinteresse? Fatalismus? Oder Komfortzone? Was auch immer – die Stimmen fehlen. Niemand weiß, wie diese Mehrheit abgestimmt hätte, hätte sie abgestimmt.
Demokratie ist eine sehr anstrengende Staatsform, weil viele Prozesse zäh sind und aufgrund der Kompromisse „Sieger“ selten eindeutig sind. Das gilt auch für Herrn Erdogan. Er ist kein eindeutiger „Führer“, sondern nur ein knapper.
Nach alldem, was Deutschland, die Türkei, Europa, die Weltgeschichte durchgemacht haben, ist es enttäuschend, dass ein „Führer“ knapp Erfolg hat und Anhänger denken, alles liefe nach seinem Kommando und Medien das so darstellen.
2017 sollte die Menschheit soweit sein, dass „absolute Wahrheiten“, „Totalitäten“ und alles, was keinen Kompromiss und keine Abwägung zulässt, eigentlich tabu sein sollten. Vor allem mit Blick auf die Geschichte.
Eine klitzekleine Mehrheit der wahlberechtigten Türken meint, dass es kein Tabu geben sollte. Diese Mehrheit hat keine stabile Basis und das ist gefährlich. In der Türkei und bei uns. Das ist Zündstoff für Konflikte, die vermutlich nicht demokratisch, sondern gewaltsam ausgetragen werden. Einer ist an der Macht – die eine Hälfte unterstützt ihn, die andere ist dagegen.
Das muss Sorge machen. Und hier ist Herr Erdogan gefragt – in den vergangen Monaten ist er nur noch als politischer Rüpel aufgefallen. In Zukunft hat er die absolute Macht – auch die der Gestaltung. Daran wird man ihn messen müssen. Im Altertum war ein Diktator kein schlecht besetzter Begriff – wer alleinherrschend das Wohl des Volkes mehrte, erhielt Respekt. Die Geschichte der Menschheit und der Politik kennt allerdings kein dauerhaftes Beispiel, dass ein Diktator jemals erfolgreich war – im Sinne des guten Auskommens miteinander, im Sinne des Friedens und der Mehrung des Wohlstands.
Fazit: Die Mehrheit der wahlberechtigten Türken in Deutschland hat weder Erdogan unterstützt, noch ein Zeichen gegen ihn gesetzt. Das stimmt nicht hoffnungsvoll, weil sich diese Mehrheit genauso ignorant gegenüber demokratischen Wahlen verhält, wie Deutsche. Die Mehrheit der wählenden Türken, die hier in Deutschland alle Vorteile der Demokratie, des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung genießen, hat das diktatorische Präsidialsystem unterstützt. Und das ist schlecht.
Es wird anstrengend sein und ist so aktuell wie noch nie notwendig, dass die demokratischen Kräfte in Deutschland sich fragen müssen, wieso das sein kann und was man unternehmen kann, um diese fatale Geisteshaltung zu begrenzen. Nicht nur bei Deutschen, sondern auch bei Türken und anderen Ausländern.
Der Diskussionshorizont muss sein, möglichst offen zu sein. Es darf allerdings nicht verboten sein, klare Grenzen zu erklären und diese auch durchzusetzen. Erdogans Vorstellungen von „Staat“ haben keinen Platz in Deutschland – und wer dessen Vorstellungen hier im Land verteidigt, ist falsch in diesem Land. Dabei geht es nicht um Meinungsaustausch, sondern um Grundsätzlichkeiten. Zur Lektüre wird das Grundgesetz empfohlen.
Eine Mehrheit – wenn auch sehr knapp – hat entschieden, was alle betreffen wird. Nicht nur die Türken in der Türkei, sondern überall. Nicht nur die Türkei, sondern europäische und andere Länder.
Welches Format Staatspräsident Erdogan hat, wird man erst in der Zukunft erkennen können. Der Eindruck aus der Vergangenheit ist fatal, kann aber korrigiert werden. Dafür gibt es wenig Hoffnung.
Europa, insbesondere Deutschland muss klar machen, was geht und was nicht. Wenn Herr Erdogan mit einem Flüchtlings-Exodus droht, muss Europa antworten: „Dann mach mal und guck, wo Du am Ende bleibst.“
Europa kann das locker leisten – allen Horrorszenarien zum Trotz. Als erstes werden es die Türken merken. Plötzlich brummt die Wirtschaft nicht mehr (Anm. d. Red.: Ist schon länger so…). Plötzlich fehlt es überall in der Kasse, alles wird schwierig. Und wenn der Iman dann Allahu-Ekber ruft, muss man sich entscheiden. Zwischen dem gottbestimmten und dem eigenem Leben.
Erfolgreiche, gebildete Menschen haben gelernt zu zweifeln, deswegen sind sie auch erfolgreich.
Das gilt auch für sehr viele Türken und türkischstämmige Menschen in Deutschland. Man darf Hoffnung haben, dass sie lieber dem Zweifel als dem Führer folgen.
Die, die Ja gesagt haben, müssen sich hierzulande ein Nein gefallen lassen. Ob sie wollen oder nicht.
Denn hier ist Deutschland. Ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat, der Menschen respektiert, aber auch Respekt verlangt.