Rhein-Neckar/Südwesten, 13. April 2017. (red/cr) In den ersten drei Monaten des Jahres 2016 wurden 16.858 Menschen als Asylerstantragstellende in Baden-Württemberg registriert. Im ersten Quartal diesen Jahres waren es nur noch 4.590. Doch diese Menschen sind keine homogene Gruppe. Sind es, wie vielfach behauptet, wirklich fast nur junge Männer? Und wo kommen sie her? Im Vergleich der jeweils ersten Quartale der Jahre 2015, 2016 und 2017 lassen sich Trends ablesen. Herkunftsländer verschwinden aus dem Top zehn und werden durch andere ersetzt. Wie sich das auf die Zahlen der Menschen in kommunaler Zuständigkeit auswirkt, ist jedoch eine ganz eigene Dynamik.
Von Christin Rudolph
Ein Jahr nach der Schließung der Balkanroute blicken wir zurück. Wie haben sich die Zahlen zu Asylsuchenden in Baden-Württemberg und der Region entwickelt? Wie sind und waren Altersstruktur und Geschlechterverteilung? Gibt es Trends?
Wir vergleichen die jeweils ersten Quartale der Jahre 2015, 2016 und 2017 – vor dem Sommer, der den Beginn der „Flüchtlingskrise“ markierte, das Frühjahr danach und die aktuellen Zahlen.
Manche Parameter haben sich sehr geändert, andere weniger stark. Vor allem die Herkunftsländer der Menschen lassen einen Trend ablesen.
Vor allem junge Menschen
Viel hat sich im Laufe der drei Momentaufnahmen geändert. Zwei Variablen jedoch sind relativ konstant geblieben: Alter und Geschlecht.
Betrachtet man die Zahlen des Regierungspräsidiums Karlsruhe zu den registrierten in Baden-Württemberg bleibenden Asylerstantragstellenden, so finden sich in den Alterskategorien maximal Änderungen um vier Prozent.
Aktuell sind knapp 34 Prozent unter 18 Jahren, knapp 43 Prozent zwischen 18 und 29 Jahren, knapp 15 Prozent zwischen 30 und 39 Jahren sowie knapp 6 Prozent zwischen 40 und 49 Jahren. Die Zahlen der beiden vorangegangenen Jahre sind sehr ähnlich.
Zwei Drittel Männer
Insgesamt ist das Geschlechterverhältnis bei den Asylsuchenden in Baden-Württemberg ebenfalls relativ stabil. So waren im ersten Quartal etwa 70 Prozent männlich und 30 weiblich. 2016 waren es knapp 66 Prozent Männer, 2017 leicht über 66 Prozent.
Das Geschlechterverhältnis kann sich jedoch in einzelnen Kommunen sehr unterscheiden, je nach Anzahl und Art der Unterkünfte. Heidelberg zum Beispiel wurden im ersten Quartal 2015nach eigenen Angaben 99 Menschen zugewiesen, von denen 91 Männer waren.
Große Unterschiede bei den Zahlen im Zeitverlauf gibt es hingegen bei den absoluten Zahlen und den Herkunftsländern.
Eineinhalbmal so viele Menschen
Im ersten Quartal 2015 wurden 10.406 Asylerstantragstellende mit Verbleib in Baden-Württemberg registriert. Im selben Quartal ein Jahr später waren es 16.858 neue Registrierungen. Das ist eine Steigerung von 62 Prozent – also mehr als eineinhalbmal so viele Menschen.
Wer sich jetzt fragt, wo die „Flüchtlingskrise“ bei diesem großen, aber nicht überwältigendem Zuwachs bleibt: Hier werden nur die Menschen gezählt, die in Baden-Württemberg registriert werden und nach dem Königsteiner Schlüssel auch in Baden-Württemberg bleiben werden beziehungsweise sollen.
„Vor den Türen der Erstaufnahmeeinrichtungen“ in Baden-Württemberg kamen im ersten Quartal 2016 tatsächlich 28.695 Menschen an, so die Zahlen des Regierungspräsidiums (zum Vergleich: 2015 waren das 15.067). Im Gegensatz zu 2015 und 2017 seien davon allerdings etwa 10.000 weitergezogen, ohne sich registrieren zu lassen.
Aktuell deutlich weniger Asylsuchende
2017 waren es mit 4.590 Asylsuchenden im ersten Quartal sogar weniger als halb so viele wie noch im Vergleichszeitraum 2015. Das hängt unmittelbar mit der Schließung der Balkanroute im März 2016 zusammenhängen.
Die wohl interessanteste Entwicklung findet bei der Zusammensetzung der Herkunftsländer statt. Im ersten Quartal 2015 beherrschten größtenteils noch osteuropäische Staaten die Top 10 der Herkunftsländer von Asylsuchenden in Baden-Württemberg.
Nummer eins war mit großem Abstand der Kosovo mit 3.988 Personen und gut 38 Prozent. Serbien kam mit 777 Personen und mehr als 7 Prozent auf Platz 3. Albanien, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina folgten auf den Plätzen fünf, sechs und acht.
Anfang 2015 vorwiegend Osteuropäer
Die „klassischen“ Herkunftsländer von Flüchtlingen, Syrien und Afghanistan, waren bereits unter den häufigsten zehn. Mit 695 Personen und knappen 7 Prozent befand sich Syrien 2015 jedoch „erst“ auf Platz vier. Afghanistan belegte mit 228 registrierten Personen und rund 2 Prozent den zehnten Platz.
Der Irak befand sich im ersten Quartal 2015 nicht unter den zehn häufigsten Herkunftsländern. Gambia lag mit 1.063 Personen noch bei guten 10 Prozent und damit auf Platz zwei.
Betrachtet man die drei Momentaufnahmen der jeweils ersten Quartale, geht die Zahl der Gambier leicht zurück: Von 1.063 Personen 2015 auf 832 im Jahr 2016 und 565 aktuell. So kommt das Land auf den zweiten Platz – zumindest 2015 und 2017.
41 Prozent Syrer
Denn 2015, dem Jahr mit den meisten Zugängen, wurde bei drei Nationalität ein besonders starker Zuwachs verzeichnet: Syrien auf Platz eins mit 6.847 Personen (knapp 41 Prozent), der Irak auf Platz zwei mit 2.826 Personen (fast 17 Prozent) und Afghanistan auf Platz drei mit 2.653 Personen (fast 16 Prozent).
Serbien verblieb als einziges osteuropäisches Land unter den Top 10, jedoch nur mit 194 Personen und rund 1 Prozent auf dem zehnten Platz. Hinzu kamen neben dem Irak der Iran mit 492 Personen (knapp 3 Prozent), Pakistan mit 327 Personen (fast 2 Prozent) und die Türkei mit 197 Personen (gut 1 Prozent).
Algerien und Nigeria hielten sich mit stabilen Zahlen im Mittelfeld.
Aktuell Nigeria auf Platz drei
Im ersten Quartal 2017 ist das Bild wieder ein anderes – abgesehen davon, dass 12.268 und damit fast 73 Prozent weniger Erstantragstellende registriert wurden.
Syrien ist zwar weiterhin das häufigste Herkunftsland, aber mit 894 (mehr als 19 Prozent) nichteinmal mehr vierstellig. Der Irak kommt mit 338 Personen (mehr als 7 Prozent) nur noch auf Platz vier.
Aus dem Iran kommen mit 183 Personen ganze 309 Menschen weniger als im selben Zeitraum 2016. Dafür legt Nigeria zu. Im ersten Quartal 2015 kamen aus diesem Land noch 326 Personen, 2016 waren 329. Im gleichen Zeitraum 2017 waren es mit 531 deutlich mehr. Damit ist Nigeria im ersten Quartal 2017 das dritthäufigste Herkunftsland.
Neue Länder kommen hinzu
Afghanistan kommt mit 284 Erstanstragstellenden nur noch knapp über 6 Prozent und damit auf Rang sechs. Dicht darauf folgt nun die Türkei mit 225 Personen – fast 5 Prozent und 28 Personen mehr als im Jahr davor.
Neu in die Liste der zehn häufigsten Herkunftsländer sind Eritrea (301 Personen, knapp 07 Prozent und damit Platz 5), Somalia (132 Personen, knapp 03 Prozent und damit Platz 9) und Kamerun (125 Personen, knapp 03 Prozent und damit Platz 10) – diese Personen kamen mit hoher Wahrscheinlichkeit über das Mittelmeer.
Da diese drei Länder geografisch wesentlich weiter entfernt sind als die anderen häufigen Herkunftsländer liegt die Vermutung nahe, dass sich ein Großteil der Menschen aus Eritrea, Somalia und Kamerun bereits 2016 auf den Weg nach Europa gemacht hat. Die Reise dauert jedoch vermutlich einige Monate länger, weswegen sie später in Deutschland und der Statistik des Regierungspräsidiums ankommen.
Belegung unterscheidet sich
Die genannten Zahlen des Regierungspräsidiums Karlsruhe zählen die registrierten Erstanstragstellenden, die in Baden-Württemberg bleiben sollen. Also die neuen Zugänge.
Schaut man allerdings auf die Zuständigkeiten von Kreisen und Kommunen, erfasst man sowohl Menschen, die schon seit langem da sind, als auch neu hinzugekommene.
Dadurch unterscheidet sich hier die Zusammensetzung der Nationalitäten. Beispiel: Belegung der Unterkünfte des Rhein-Neckar-Kreises am 30. April 2016 nach Nationalitäten.
- Syrien (29 Prozent)
- Afghanistan (über 14 Prozent)
- Irak (fast 13 Prozent)
- Gambia (über 10 Prozent)
- Kosovo (fast 5 Prozent)
- Pakistan (fast 5 Prozent)
- Nigeria (über 3 Prozent)
- Serbien (fast 3 Prozent)
- Mazedonien (fast 3 Prozent)
- Iran (über 2 Prozent)
Ein entscheidender Unterschied
Mazedonien und der Kosovo sind hier in den Top 10 vertreten, obwohl sie das bei den Registrierungen in Baden-Württemberg im ersten Quartal 2016 nicht sind.
Natürlich besteht zwischen Registrierung und dem Beziehen einer Unterkunft Zeit, die hier die Ursache sein könnte. Es gibt aber noch einen anderen Faktor: Die Verweildauer in den Unterkünften.
Ein anderes Beispiel für die Unterschiede ist Mannheim. Wegen der Außenstelle der Landeserstaufnahme muss Mannheim keine kommunalen Flüchtlinge aufnehmen. Aus früheren Zuweisungen gibt es jedoch bestehende Zuständigkeiten.
Zum Stichtag des 31. März 2015 befanden sich in Mannheim 463 Flüchtlinge und 56 unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) in kommunaler Zuständigkeit. Ein Jahr später waren es 446 und 208 UMA, am 31. März 2017 420 und 246 UMA. Die Anzahl der Geflüchteten allgemein ist also leicht gesunken, die der UMA rasant gestiegen.
Keine „größeren Verschiebungen“
Die Zahlen zu Herkunftsländer sind recht stabil. Eine Sprecherin der Stadt sagte auf Anfrage:
Der gegenwärtige Fallbestand dürfte auch mit dem Personenkreis 2015 und 2016 vergleichbar sein. Größere Verschiebungen haben nicht stattgefunden.
Der „gegenwärtige Fallbestand“ ist:
- Irak (25 Prozent)
- Kosovo (13 Prozent)
- Bosnien und Herzegowina (9 Prozent)
- Pakistan (9 Prozent)
- Mazedonien (8 Prozent)
Die übrigen 36 Prozent entfallen auf andere Herkunftsländer. Bereits hier fällt eine Diskrepanz zu den Registrierungen der baden-württembergischen Erstaufnahmestellen auf.
Drei Viertel der Sozialleistungsempfänger sind Syrer
Zusätzlich vergleichen wir diese Zahlen mit den aktuell fünf herkunftsstärksten Ländern der Flüchtlinge im SGB II Leistungsbezug in kommunaler Zuständigkeit von Mannheim:
- Syrien (75 Prozent)
- Irak (6 Prozent)
- Eritrea (5 Prozent)
- Iran (3 Prozent)
- Afghanistan (3 Prozent)
Die übrigen 8 Prozent entfallen auf andere Herkunftsländer. Hier fehlen die osteuropäischen Herkunftsländer. Das kann verschiedene Ursachen haben. Zum Beispiel kann es sein, das Osteuropäer oft schon länger in Mannheim sind und daher möglicherweise bereits Arbeit gefunden haben. Klar ist aber auch: Syrer schaffen es bislang überwiegend nicht, als „Fachkräfte“ in den Arbeitsmarkt zu kommen.
Zwei verschiedene Dynamiken
Es gibt nämlich zwei „Wege“, wie jemand, der einen Asylantrag gestellt hat, in kommunale Zuständigkeit kommen kann. Fall 1: Der Asylantrag wird anerkannt oder subsidiärer Schutz gewährt. Das trifft vor allem auf Syrer zu.
Fall 2: Der Asylantrag wurde innerhalb von zwei Jahren nicht entschieden. Die Flüchtlinge werden dann von den Kreisen an die Kommunen überstellt und erhalten dann wie bei einem positiven Bescheid Sozialleistungen der Kommune.
Wer in Unterkünften der Kreise lebt und wer in kommunaler Zuständigkeit ist, spiegelt also nur zu einem Teil die Zusammensetzung der Erstantragstellenden wider. Unterschiedliche Menschen müssen unterschiedlich lang auf eine Entscheidung im Asylverfahren warten, manche finden schnell Arbeit, andere nicht.
Unscharfes Bild trotz Trends
Auch gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern. Im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen folgen die Zuweisungen zwar im Großen und Ganzen ähnlichen Trends wie in Baden-Württemberg – im ersten Quartal 2015 noch viele Osteuropäer, ein Jahr später vorwiegend Syrer, Afghanen und Iraker, aktuell kommen Eritreer und Somalier dazu.
Es finden sich aber auch Nationalitäten, die Ludwigshafen aufgrund seiner Erfahrungen mit bestimmten Ländern zugewiesen werden: Kroatien, Mazedonien, Armenien, Georgien und Aserbaidschan.
Es gibt also Trends und Entwicklungen, die sich verfolgen lassen. Schaut man allerdings auf Kreise und Kommunen, bestimmen eben doch viele Einzelschicksale das Bild. Und Schicksale werden in Statistiken nicht erfasst.
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