Rhein-Neckar, 06. März 2017. (red/pro) Viele schwärmen für Gaggenau – die Stadt hätte sich dem türkischen Justizminister erfolgreich entgegengestellt. So ein Quatsch. Die 30.000-Einwohner-Stadt hat die geplante Veranstaltung aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen. Das war keine politische, sondern eine sicherheitsrelevante Entscheidung. In Deutschland gilt immer noch die grundgesetzlich garantierte Versammlungsfreiheit – außer, die öffentliche Ordnung gerät in Gefahr. Und genau das versuchen türkische Aktivisten und Politiker zu erreichen, ob Pro-Erdogan oder Kontra-Erdogan.
Von Hardy Prothmann
Kompliment an Recep Tayyip Erdogan, den türkischen Staatspräsidenten. Wie man hört, soll er ein brillanter Redner sein. Das können wir nur so wiedergeben, aber nicht prüfen, weil wir kein türkisch sprechen. Was wir allerdings prüfen können, ist, wie geschickt Erdogan es versteht, deutsche Politiker zu provozieren.
Die Frage ist, warum tut er das? Wieso schickt er seine Minister nach Deutschland, um hier für die Volksabstimmung zur Verfassungsänderung am 16. April zu werben? Die Antwort ist ganz einfach: Weil jede Stimme zählt und zwar auch von Türken, die im Ausland leben und in Deutschland sind das rund 1,4 Millionen Türken, die in der Türkei wahlberechtigt sind. Angeblich wird der Ausgang der Abstimmung knapp, also braucht es eine hohe Mobilisierung und vor allem Aufmerksamkeit.
Beides erreicht Herr Erdogan – dank der Unterstützung deutscher Politiker und Medien. Denn die gehen auf seine Provokationen ein. Sogar, wenn sie vollständig absurd sind, wie aktuell der Nazi-Vergleich.
Stil oder kein Stil – das ist hier die Frage
Die Frage, ob man ausländischen Politikern erlaubt, in Deutschland aufzutreten, stellt sich nämlich nicht. Wenn doch, dann für alle ausländischen Politiker. Erinnert sich noch jemand an den Auftritt von Barack Obama in Deutschland 2007 an der Siegessäule in Berlin? Auch damals gab es Diskussionen – zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem demnächst neuen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier. Spiegel Online berichtete damals:
„Die Amerikaner haben entscheidend zur Rettung der Stadt Berlin beigetragen“, sagte der SPD-Politiker, „drum sollten wir ihnen auch ermöglichen, an historischen Stätten wie dem Brandenburger Tor aufzutreten.“ Er hoffe deshalb, dass die innerdeutsche Diskussion darüber „keinen falschen, gar abweisenden Eindruck erweckt“. Wenn sich Obama entscheide, eine Europa-Reise zu machen und außer Großbritannien und Frankreich auch Berlin zu besuchen, solle er hochwillkommen sein. Dasselbe gelte natürlich auch für John McCain.
Die Bundeskanzlerin empfand es als „stillos“, im Ausland Wahlkampfveranstaltungen durchzuführen. Und genau darum geht es auch im Fall Erdogan und seiner Minister. Es stellt sich die Frage, wie stilvoll es ist, im Ausland für eine Wahl zu werben, insbesondere, wenn in diesem Ausland die überwiegende Mehrheit mit großer Sorge auf die Entwicklungen in der Türkei schaut.
Betrachtet man das Steinmeier-Zitat, könnte man auch fragen: Haben nicht die Türken als „Gastarbeiter“ einen nicht unerheblichen Anteil am Wohlstand Deutschlands? Sollte man dies nicht ehren?
Polit-Raudi Erdogan
Herr Erdogan zeigt sich als politischer Rüpel. Als stilloser Provokateur. Als Polit-Raudi. Er macht es einem schwer, ihm mit Respekt zu begegnen, weil er selbst keinen Respekt zeigt.
Möglicherweise sieht er das umgekehrt genauso: Denn in Deutschland gibt es quasi täglich Demonstrationen kurdischer PKK-Anhänger, die das hier geltende Versammlungsrecht nutzen, um gegen Erdogan und für die PKK zu demonstrieren, auch wenn dies nur versteckt geschieht. Häufig werden die Reden nicht auf deutsch gehalten, so dass die Behörden nicht wissen, ob gegen die Versammlungsauflagen verstoßen wird oder nicht – außer, man beschäftigt politisch geschulte Dolmetscher, was teuer ist und dringend nötig. Verstoßen Redner gegen die Auflagen, wenden sie sich gegen Recht und Gesetz, kann man die Veranstaltungen sofort auflösen. Der Rechtsstaat bietet Meinungs-, aber keine Hassfreiheit. Für niemanden.

Immer wieder treten Politiker aus der Türkei in Deutschland auf. Oder Türken, die in Deutschland leben, machen für politische Themen in der Türkei mobil – so auch in Mannheim. Wir wollen in unserer Online-Umfrage wissen, wie Sie dazu stehen.
Für Herrn Erdogan sind diese Demonstrationen eine absolute Provokation. Was die können, kann ich auch, wird er sich sagen und hat damit leider im Grundsatz recht. Die einzige Möglichkeit, öffentliche Veranstaltungen zu untersagen, sind oben benannte Sicherheitsbedenken. Doch das wirkt in der Interpretation wie ein politisches Verbot – es ist zwar keins, aber wen interessiert das schon? Erdogan strickt daraus sogar einen tatsächlich blödsinnigen Nazi-Vergleich.
Man sollte Herrn Erdogan dafür die kalte Schulter zeigen und ihn darauf aufmerksam machen, dass unsere Meinungsfreiheit auch dumme Sprüche toleriert. Der reflexartige Vergleich, Erdogan fordere, was er selbst nicht erlaubt, ist unsinnig. Deutschland orientiert sich nicht an Herrn Erdogan.
Ich vermisse politische Klugheit
Was ich vermisse, ist ein kluges, umsichtiges Verhalten der deutschen Politik. Man sollte nicht zurückrüpeln, keinen Blödsinn über Verbote reden und schon gar nicht drohen. Denn damit erreicht Herr Erdogan sein Ziel: Aufmerksamkeit. Gleichzeitig gibt er sich die Rolle des furchtlosen Kämpfers, der sich für „seine Türken“ von niemanden etwas vorschreiben lässt. Diese Inszenierung beherrscht er perfekt.
Herr Erdogan hat mit gut drei Millionen Flüchtlingen scheinbar ein Druckmittel in der Hand – macht er die Tore auf, laufen die Richtung Europa und hier Richtung Deutschland. An diesem Punkt wird klar, wie wichtig Europa ist und wie nachlässig europäische Politik betrieben wird, weil zu viele nationale Befindlichkeiten eine Rolle spielen.
Europa kann locker drei Millionen und mehr Flüchtlinge aufnehmen, wenn diese ordentlich verteilt werden und politische Entscheidungen getroffen werden, diese Leute in Lohn und Brot zu bringen. Damit hätte Herr Erdogan keinen Joker mehr. Weiter könnte man die vielen Milliarden, mit denen die EU die Türkei förderte und fördert, um sie „anschlussfähig“ zu machen, einfrieren, ebenso wir wirtschaftliche Beziehungen. Mal schauen, wie lange Herr Erdogan und „seine Türken“ das durchhalten.
Erdogan richtet zu viel Schaden an
Schon jetzt befindet sich die Inszenierung des großen Wirtschaftsführers Erdogan in Auflösung, denn die Türkei hat massive wirtschaftliche Probleme. Bei enorm hohen Kosten, die der Polizei- und Militärstaat benötigt, um gegen Andersdenkende vorzugehen.
Die Türken sind besser beraten, sich Gedanken zu machen, warum Deutschland und andere Länder mit großer Sorge auf die Türkei schauen. Das hat nichts mit Hochmut oder Arroganz zu tun, sondern nur mit Erfahrung und Interessen. Die Türkei sollte ein wichtiger Partner für Europa sein und auch die Aufnahme in die EU sollte ein wichtiges Ziel sein. Aber die Türkei muss weder Partner noch Mitglied werden. Wer sich von europäischen Werten im Eiltempo entfernt – und das ist in der Türkei der Fall -, muss darauf gefasst sein, das Europa darauf entsprechend reagiert.
Und ohne Europa wird sich die Türkei nicht weiter entwickeln können. Herr Erdogan – auch das sollten die Türken bedenken – ist nicht der Mann, dem das gelingen wird. Er hat dafür zu viel Porzellan zerschlagen und muss dringend abgelöst werden, bevor er noch mehr Schaden anrichtet. Sollte eine Mehrheit der Türken diesem Mann eine nahezu unbegrenzte Macht verleihen, dann haben die Türken das so gewollt und müssen mit den negativen Konsequenzen leben.
Schätzen Sie diese Art von Artikeln? Die Transparenz? Die Analyse? Die Haltung?
Dann machen Sie andere Menschen auf unser Angebot aufmerksam. Und unterstützen Sie uns als Mitglied im Förderkreis – Sie spenden für unabhängigen, informativen, hintergründigen Journalismus. Der kostet Geld und ist ohne Geld nicht zu leisten. Wir arbeiten professionell mit hohen Standards, aber wir sind kein „Mainstream“ – sondern ehrlich, kritisch, transparent und meinungsfreudig. Hier geht es zum Förderkreis.“ Sie können auch per Paypal spenden.
Teile unseres Angebots sind gebührenpflichtig: Wenn Sie uns mit mindestens 60 Euro Jahresbeitrag (gerne mehr) unterstützen, können Sie einen Förderpass erhalten, mit dem Sie auf alle kostenpflichtigen Artikel zugreifen können. Wie das geht, steht hier.
Das Angebot für den „Förderpass“ gilt nur für private Nutzer. Gewerbliche Nutzer können einen Mediapass für 10 Euro monatlich für einen pauschalen Zugriff erwerben. Dieser ist monatlich kündbar.
Wenn Sie eine Überweisung tätigen wollen, nutzen Sie bitte auch das Förderkreis-Formular (erleichtert uns die Verwaltung). Dort können Sie einen Haken setzen, dass Sie nur überweisen wollen. Alle Förderer und Spender erhalten eine Rechnung. Sie können auch per Paypal spenden.
Den größten Teil unserer Einnahmen erzielen wir über Werbung, seit Ende September machen wir einzelne Artikel kostenpflichtig über den Dienstleister Selectyco für kleine Cent-Beträge. Insgesamt ist die Finanzierung unserer Arbeit immer noch heikel und Sie tragen durch den Kauf von Artikeln, Förderkreisbeiträge und Spenden dazu bei, unser Angebot zu ermöglichen. Danke dafür!
Vorschaubild: Kremlin.ru, CC-BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=45256896