Mannheim/Rhein-Neckar, 09. Januar 2016. (red/pro) Wir dokumentieren die Rede von Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz zum Neujahrsempfang im Rosengarten Mannheim im Rahmen unserer „Montagsgedanken“. Wir empfehlen diese Rede unserer Leserschaft. Der Oberbürgermeister tut das, was ein Oberbürgermeister tun muss: Er schildert Erfolge der Stadtentwicklung und beschreibt die künftigen Herausforderungen. Allerdings geht er – obwohl er immer über Mannheim spricht – weit darüber hinaus. Dr. Peter Kurz ist nicht nur ein sehr erfahrener Kommunalpolitiker und promovierter Jurist, sondern ein Intellektueller von hohem Rang, der bei aller Theorie immer das praktische und gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen im Blick hat. Der Text enthält überaus deutliche Passagen – klare Ansagen, Mahnungen und die unmissverständliche Aufforderung, mit Mut und Haltung für unsere Demokratie einzutreten – und zwar politisch korrekt. Der Mann meint das sehr ernst und ideologiefrei. Politisch korrekt heißt nicht verniedlichen oder wegschauen, sondern Probleme klar zu benennen und diese mit bewährten rechtsstaatlichen Verfahren zu lösen.
Anm. d. Red.: Es galt das gesprochene Wort. Die vorliegende Redefassung wurde uns von der Stadt auf Anfrage mit Anpassungen gegenüber dem ersten Redemanuskript übermittelt. Die Zwischenüberschriften wurden durch die Redaktion erstellt.
Von Dr. Peter Kurz
Ihnen allen wünsche ich – auch im Namen meiner Frau – ein gutes neues Jahr 2017, Gesundheit, Erfolg und persönliches Glück und uns allen die Bewahrung und – wo nötig – Wiederherstellung eines Miteinanders. Mehr inneren und äußeren Frieden wird es nur mit mehr Miteinander und mehr Achtung geben können.
Ein Beispiel des Miteinanders in einer Stadt, wie es in dieser Form nur wenige gibt, ist dieser Neujahrsempfang selbst. Verschiedenste Gruppen unserer Stadt gestalten ihn mit. Alt und Jung, Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung, Menschen unterschiedlichster Kulturen, gläubige Menschen und Atheisten, Menschen unterschiedlicher sexueller Identität und Orientierung.
Viele begegnen sich, die sich sonst im Alltag kaum begegnen. Nutzen Sie die Chance, Menschen neu oder besser kennenzulernen. Vielleicht verabreden sich ja heute verschiedene Gruppen, sich einmal gezielt außerhalb dieses Empfangs zu begegnen. Sie hätten damit im Sinne der guten Wünsche für das neue Jahr schon etwas bewirkt.
Alle, die heute hierherkommen, haben etwas Gemeinsam: Sie sehen Mannheim als Ort ihres Lebens oder Wirkens, sehen Mannheim als Teil ihrer Heimat, interessieren sich für das, was um sie geschieht, bilden somit das, was uns Menschen ausmacht: Gemeinschaft.
Herausforderungen sind nicht geringer geworden
Ein herzliches Dankeschön deshalb an all diejenigen, die hier mitwirken und diesen großen Empfang für alle gestalten. Im letzten Jahr habe ich drauf verwiesen, dass wir in das neue Jahr 2016 wohl nachdenklicher gehen werden als dies in den letzten Jahrzehnten die Regel war. Die Herausforderungen in Deutschland, Europa und der Welt sind nicht geringer geworden, wobei die Antworten des Jahres 2016, die in Großbritannien mit dem Brexit und den USA mit der Wahl von Donald Trump gegeben wurden, unsere Probleme nicht kleiner machen.
Protektionismus, übersteigerter Nationalismus und die Befeuerung von Feindseligkeit und Aggression hat immer nur den Führern von extremen Bewegungen genutzt, nie den Menschen.
Diese globalen Entwicklungen – sie prägen nicht nur die Wahrnehmung der Welt, sie prägen auch die Wahrnehmung unseres Alltags vor Ort.
Für ein Gemeinwesen gilt nichts anderes als für jede und jeden Einzelnen: Wer gesund bleiben will, sollte die Schwierigkeiten, die Probleme wahrnehmen und angehen, gleichzeitig aber auch realistisch einordnen. Eine Nichtwahrnehmung von Problemen schädigt uns. Eine verzerrte und hysterische Wahrnehmung treibt uns zu falschen Entscheidungen oder macht uns handlungsunfähig.
Kühlen Kopf bewahren
Kühlen Kopf zu bewahren. Das ist zuallererst die Pflicht von denen in Verantwortung. Kühlen Kopf bewahren – das sollten gleichzeitig wir alle.
Das Thema Sicherheit hat uns in stärkerem Maß bewegt als in den Jahren zuvor. Nachdem wir über Jahre eine sinkende Kriminalitätsbelastung hatten, ist sie 2015 und 2016 angestiegen – auf ein Niveau wie wir es übrigens vor 10 Jahren auch hatten.
Darauf haben die Polizei und wir reagiert. Dabei sind wir mit unseren Maßnahmen noch nicht am Ende. Manches braucht auch Zeit, weil neue Phänomene auch neue Antworten brauchen. Wichtig ist mir am heutigen Tag eine Feststellung: Wir nehmen negative Entwicklungen im Bereich Sicherheit nicht hin – egal von wem sie verursacht werden und egal an welchem Ort in unserer Stadt sie stattfinden.
Auf alle neuen Schwierigkeiten gab es Antworten, manchmal nicht sofort wirksam, manchmal dauerte die Vorbereitung oder die Suche nach einem Lösungsansatz länger. Aber: Die Antworten gab es und zwar überwiegend erfolgreich. Wie beim Vorgehen gegen Ausbeutungsstrukturen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt gegenüber osteuropäischen Zuwanderern, stellten sich bei Bettlerbanden, der Trinker- und Drogenszene, Einbrecherbanden, Lärmbelästigungen durch Poser, beim schnell verfestigten und breit angelegten Handel mit Drogen am Neckarufer und nahe der Breiten Straße nach und nach Erfolge ein. Wichtig ist: Der Staat war und ist handlungsfähig.
Dank an die Polizei
Die Probleme sind nicht alle gelöst, aber zum Teil deutlich reduziert. Und: Wir werden weiter an Ihnen arbeiten. Videoüberwachung, auch ein partielles Alkoholverbot, aber auch Hilfsangebote und aktive, positive Nutzung gefährdeter öffentlicher Räume werden wir 2017 umsetzen.
Ich will unserer Polizei unter Führung ihres Präsidenten Thomas Köber für ihre so engagierte wie besonnene und erfolgreiche Arbeit 2016 ausdrücklich danken.
Den anwesenden Abgeordneten, aber auch der Justiz möchte ich zum Thema Sicherheit gerne einen Gedanken mitgeben: In anderen europäischen Ländern werden bei Ordnungsstörungen zum Teil deutlich höhere Buß- und Verwarnungsgelder angedroht und verhängt. Geben Sie uns hier mehr Möglichkeiten öffentliche Ordnung sichtbar durchzusetzen. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen hängt auch von der Reaktion auf alltägliche Ordnungsstörungen ab.
Wir lassen uns nicht auf der Nase herumtanzen
Und: für alle, gerade auch die hier um Schutz Suchenden wäre es gut, wenn auf Straftaten konsequent auch aufenthaltsrechtlich reagiert würde. Ich glaube nicht, dass sich ein relevanter Teil der Deutschen Sorgen macht wegen fußballspielenden Ministranten aus dem Senegal – im Gegenteil. Es untergräbt aber das Gerechtigkeitsgefühl und Zutrauen in unser aller Handeln, wenn der Eindruck entsteht, dass man als jugendlicher Intensivtäter unserem Staat auf der Nase herumtanzen kann.
Vor Ort haben wir hier für unsere Jugendlichen mit dem Haus des Jugendrechts entsprechende Weichen gestellt. Das führt dazu, dass eine Reaktion schnell erfolgt. Für diejenigen ohne festen Aufenthalt wirken solche Strukturen jedoch nicht nachhaltig.
Zum Stichwort Sicherheit sei hier angemerkt, dass auch unser größtes, durch städtisches Geld finanziertes Bauprojekt der Sicherheit dient und im April 2017 in Dienst gestellt wird: Es ist eine neue Hauptfeuerwache, die Maßstäbe setzen wird. Und meine Hoffnung ist, dass wir bis zu dieser Einweihung ebenso den gordischen Knoten „Leitstelle“ mit dem Land endlich auflösen können.
Viele positive Entwicklungen
Handeln und Gestalten ist gefragt – nicht nur in den Bereichen, in denen Herausforderungen offensichtlich und drängend sind. So sind die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt wie die wirtschaftliche Entwicklung außerordentlich positiv gewesen. Die Einweihung von Q6/Q7 ist nicht zuletzt ein Beleg für diese positive wirtschaftliche Entwicklung. Im vergangenen Jahr sind weitere 2.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze neu entstanden – nach 3.000 im Jahr zuvor. Über 182.000 sind es jetzt. Wir müssen bis in die 80er Jahre zurückschauen, um solche Zahlen zu finden. Dies stärkt auch unsere Finanzkraft. Für das letzte Jahr erwarten wir ein positives Finanzergebnis von 60 bis 70 Millionen Euro.
Dennoch ist das kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen: Man denke nur an die harte Auseinandersetzung um die Zukunft von GE und die Turbulenzen beim ein oder anderen Unternehmen.
Die Prägung Mannheims durch große Unternehmen und die Industrie ist nach wie vor groß. Sie ist Teil unserer Identität und wir können darauf mit Stolz verweisen. Sie beinhaltet aber auch Risiken, denen wir nach und nach und Jahr für Jahr dadurch begegnen wollen, dass wir konsequent auf den Ausbau des Wissenschaftsstandorts, auf neue Unternehmen und Innovation setzen. Jedes Jahr nimmt die Zahl der Unternehmen in unserer Stadt um rund Einhundert zu.
Und: Der Anteil von Dienstleistung, Forschung und Entwicklung an der Wertschöpfung in unserer Stadt wächst. Beides gibt uns etwas mehr Stabilität als in der Vergangenheit. Wir werden deshalb das Profil Mannheims als Innovations- und Gründerstandort konsequent weiter stärken.
Die Allee der Innovationen hat das nach außen getragen, der nächste unmittelbare Schritt ist der Spatenstich für den industriellen Medizintechnik-Campus im Frühjahr. Konsequent versuchen wir auch unsere internationalen Beziehungen zur Stärkung von Mannheims Wirtschaft einzusetzen.
Vier Ansätze gegen ein langfristiges Risiko
Ein zweites Charaktermerkmal unserer Stadt ist zugleich ein langfristiges Risiko. Es ist die Tatsache, dass das Einkommen der Mannheimerinnen und Mannheimer insgesamt unterdurchschnittlich ist, weil viele Menschen von Armut betroffen sind. Sie partizipieren also zu wenig an der positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Hier bedarf es dauerhafter und hartnäckiger Anstrengungen.
Wir verfolgen hier vier Ansätze. Der eine lautet: Demokratische, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen. Das mildert nicht nur die Folgen materieller Armut: Teilhabe erhöht die Chance, einen Weg aus der Armut zu finden. Der zweite Ansatz lautet schlicht: Bildung. Es gibt in unserer Gesellschaft keinen anderen Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Der Ausbau von gebundenen Ganztagsschulen, der Betreuung, der frühen Hilfen, der Sprachförderung von Anfang an zeigen Erfolge. Aber natürlich ist es ein langer Weg.
Der dritte Ansatz ist Integration in den Arbeitsmarkt. Hier sind die Bedingungen so gut wie selten, aber nun merken wir umso mehr, wie verfestigt die Arbeitslosigkeit bei manchen Gruppen ist. Hier könnten wir mehr tun. Bei den Jugendlichen haben wir große Erfolge, bei den Älteren ist der Bedarf nach wie vor groß. Das Zauberwort hierfür heißt „Eingliederungsmittel“. Sie sind gekürzt worden, dabei bestünde gerade jetzt die Chance für viele Menschen tatsächlich ihr Leben zu verändern. Auch hier möchte ich den Abgeordneten gerne eine Forderung mitgeben: Wenn die Arbeitsagentur zum Jahresende ihre Rücklagen auf fast 11 Milliarden Euro erhöhen kann, wäre es genauso möglich gewesen, in Städten wie Mannheim Langzeitarbeitslosen mehr Perspektiven zu bieten. Sorgen Sie bitte mit dafür, dass die Eingliederungsmittel erhöht werden. Es hilft einzelnen Menschen, es hilft aber auch der örtlichen Gemeinschaft und unserer Gesellschaft insgesamt.
Unsere vierte Antwort ist es, insbesondere jungen Familien mit durchschnittlichem Einkommen, mehr Chancen zu geben, in Mannheim zu bleiben und hier Wohneigentum erwerben zu können. Die Konversion gibt uns auch dafür neue Möglichkeiten: Allein 400 erschwingliche Doppel- und Reihenhäuser werden in diesen und den kommenden Monaten angeboten. Auch sie sind ein Weg, Sozialstruktur in unserer Stadt zu stabilisieren. Ähnliches gilt auch für Stadtteile wie den Jungbusch und die Neckarstadt-West. Wohnangebote im zumindest mittleren Preissegment und entsprechende Projekte sind hier ein Beitrag zur sozialen Stabilisierung.
Herausforderung Lebensqualität
Wir gestalten solche Prozesse aktiv oder regen sie an, wenn der Markt dies noch nicht leistet. So ist auch das Projekt T4 und T5 zu verstehen, als Stabilisierung eines immer wieder zurückgeworfenen Quartiers, nicht als Verdrängung von sozial Schwächeren.
Mit Investitionen in den sogenannten Umweltverbund, also den Öffentlichen Personennahverkehr, den Radverkehr und den Fußgängerverkehr haben wir 2016 in besonderer Weise die Stadt langfristig gestaltet. Unsere größte Investition der letzten Jahre, die Stadtbahnlinie Nord, schließt die größte Lücke in unserem Stadtbahnnetz. 40.000 Menschen sind neu beziehungsweise besser an unser Stadtbahnnetz angeschlossen. Die Fahrgastzahlen steigen schneller an als erwartet. Und auch der Anteil des Radverkehrs an den innerstädtischen Verkehren ist in fünf Jahren von 13 auf 18 Prozent gestiegen. Ein wichtiger Lückenschluss ist hier die Bismarckstraße. 25 Prozent Anteil des Radverkehrs an den innerstädtischen Verkehren ist unser realistisches Ziel für die nächsten Jahre.
Wenn wir aber über Mobilität sprechen, meine Damen und Herren, dann geht es nicht allein um technische und Verkehrsplanungsfragen und um Fragen der Umwelt. Die Möglichkeit, Angebote wahrzunehmen und am Leben unserer Stadt teilzuhaben, ist nicht zuletzt eine soziale Frage, die nicht allein finanziell zu beantworten ist. Können die 83-Jährige aus der Gartenstadt, die nicht mehr Auto fährt, und der 12-Jährige vom Waldhof bequem die Innenstadt, den Bahnhof, das Stadion erreichen? Und: Wie erscheint dort der öffentliche Raum?
Mehr Raum für die Fußgänger, weniger Geschwindigkeit für Autofahrer wie für Fahrradfahrer dort, wo sich Menschen aufhalten, verweilen – das sind Fragen der Lebensqualität, nicht nur der Mobilität. Es ist die Frage danach, wie wir leben wollen. Jan Gehl, der dänische Stadtplaner, den wir im letzten Jahr mit dem Bertha- und Carl-Benz-Preis ausgezeichnet haben, sagt, dass man die Lebensqualität einer Stadt daran messen könne, wie viele 80-Jährige und 8-Jährige auf der Straße zu finden sind. Ihren Blickwinkel und ihre Bedürfnisse sollten wir zum Maßstab machen.
Es nutzt uns allen. Die Qualitäten des öffentlichen Raums, die für sie notwendig sind, sind Qualitäten, die wir alle schätzen. Genügend Raum, Sicherheit, Zugänglichkeit, Angebote zum Verweilen. Daher – und nicht allein aus wirtschaftspolitischen Gründen – die Investition in die Planken. Deshalb werden wir aber auch bei den Fragen der Gestaltung und der Unterhaltung des öffentlichen Raums 2017 weitere Schritte gehen, um unsere Leistung zu verbessern. Wir können zwar nicht mehr 8 Jahre alt werden, aber 80 – wenn wir es nicht schon sind – wollen wir alle werden.
Heimat ist da, wo ich mich nicht erklären muss
Wie wir leben wollen, ist vielleicht eine gute Frage, etwas von der Spaltung zu überwinden, die sich derzeit auftut. Sind unsere Vorstellungen über das „gute Leben“ wirklich so verschieden?
Ich habe schon oft Johann Gottfried Herder zitiert. „Heimat ist da, wo ich mich nicht erklären muss.“ Dieses Heimatgefühl geht uns allen verloren, je weniger wir uns in der Lage sehen, das Gegenüber, viele unserer Mitmenschen noch zu verstehen. Dabei entsteht dieses Gefühl ja nicht allein durch andere Kulturen.
Das Gefühl, sich erklären zu müssen – oder noch schlimmer – sich nicht erklären zu können, tritt zwischen zwei Lagern auf, die jeweils die anderen entweder als ‚fremdenfeindliche Untergangspropheten‘ oder ‚naive, unser Land gefährdende Spinner‘ wahrnehmen und denen, die das Gefühl haben, mit allem was sie sagen, entweder so oder so eingeordnet zu werden.
Wirklich problematisch daran ist, dass diese Frage zum Kernpunkt der gesamten Wahrnehmung unseres Alltags gemacht wird. Ständig werden die Unterschiede, die es natürlich in einer Gesellschaft gibt, das Nichtverstehen betont und zum zentralen Bezugspunkt für die eigene Befindlichkeit gemacht. (Denken wir zum Beispiel an die letzten Tage: Es gibt noch andere Themen als ein Polizeieinsatz in Köln und eine zugegebener Maßen unkluge Äußerung einer Einzelnen dazu.) Wenn wir dies lange so fortsetzen, verlieren wir alle unser Gefühl in der „Heimat“ zu sein.
Gerade deshalb ist es so wichtig, Gemeinsamkeit zu betonen, herauszuarbeiten, wahrzunehmen, zu stärken und zu feiern.
Wie wollen wir leben?
„Wie wir leben wollen“ – diese Frage beantworten wir in wichtigen Details vielleicht sehr unterschiedlich, für ganz vieles jedoch in großer Übereinstimmung. Im letzten Jahr haben wir mit 480 Teilnehmern einen großen Workshop, den „Urban Thinkers Campus“ durchgeführt und uns als eine von nur 26 Städten weltweit, mit der neuen Agenda der Vereinten Nationen für die Zukunft der Städte befasst.
Wir wollen Sie in diesem Jahr, im Juli, einladen, in gleicher Weise diesmal die gewünschte Zukunft Mannheims zu beschreiben. Wie wollen wir 2030 in Mannheim leben und was können wir dafür tun? „Mein Mannheim 2030“ – das soll uns nicht nur Orientierung geben über den Tag hinaus, es kann uns einen realistischen Blick für die Herausforderungen und Chancen vermitteln und uns damit stärken.
Hauptsache Stadt
Dass Städte Lösungen anzubieten haben, dass sie pragmatisch handeln, wo andere Ebenen ideologische Debatten führen, das ist 2016 immer häufiger angesprochen worden. 2016 war ein Jahr der Städte. Die Washington Post beschrieb im November die Städte als ein Bollwerk gegen den Nationalismus, die Vereinten Nationen verabschiedeten auf der Habitat-Konferenz in Quito, auf der ich sprechen durfte, die neuen Ziele zur Entwicklung der Städte, und von der Bundesregierung, über die EU bis zum Vatikan wird immer mehr Institutionen bewusst, dass die Städte entscheidende Akteure für die großen globalen Fragen sind. Vom Klimawandel, über wirtschaftliche Entwicklung und Innovation, die Zukunft der Demokratie, Arbeit gegen Radikalisierung, Migration und Frieden: die Bedeutung lokalen Handelns ist unübersehbar. Mannheim spielt in all diesen Fragen ein aktive Rolle, weil wir wissen, dass unsere Zukunft von globalen Entwicklungen mit geprägt sein wird.
Am unmittelbarsten haben wir dies 2016 durch die Fluchtbewegungen gespürt. Wer glaubwürdig für Hilfe vor Ort und internationale Verständigung eintreten will, muss praktisch etwas tun. In den Gebieten, aus denen Menschen flüchten und in den Gebieten, in denen Flüchtende als erstes Aufnahme finden. Natürlich setzt dies voraus, dass Bund und EU solche Projekte finanzieren. Die direkte Kooperation aus der Erfahrung von Städten ist aber ungleich wirkungsvoller und nachhaltiger als sonstige Projekte.
Ich habe deshalb bei verschiedenen Gelegenheiten eine Initiative vorgeschlagen, 500 konkrete Projekte zwischen Städten in Europa und Städten im Mittleren Osten und Nordafrika zu finanzieren und werde dies übernächste Woche im zuständigen Bundestagsausschuss erneut tun. Wir gehen mit unserem Kooperationsprojekt zur Stadtentwässerung und zur wirtschaftlichen Entwicklung im palästinensischen Hebron mit gutem Beispiel voran. Und wir stellen einen Antrag auf Förderung eines Berufsbildungsprojekts in der direkt an der syrischen Grenze liegenden türkischen Stadt Kilis, die übrigens mehr Flüchtlinge aufnimmt als sie Einwohner hat.
Meine Damen und Herren, wir fordern nicht nur, wir handeln. Aber auch wenn wir deutlich mehr und erfolgreicher in den Herkunfts- und Fluchtgebieten handeln, Menschen werden weiter zu uns kommen. Auch hier ist Handeln und Gestalten gefragt, selbst wenn wir von Entscheidungen anderer abhängen – das ist nun mal der Alltag der Kommunalpolitik.
Viele Fragen zum „Ankunftszentrum“ sind aktuell seriös nicht zu beantworten
Wir haben in den nächsten Wochen für uns die Frage zu beantworten, welche Rolle wir bei der Unterbringung von Flüchtlingen im Land spielen wollen. Bislang haben wir so gut wie keine Verpflichtung zur dauerhaften Unterbringung. Dafür sind wir Erstaufnahmestadt. Dies war mit Blick auf unsere Sozialstruktur und die Migration aus Bulgarien und Rumänien eine bewusste, und bislang in der Sache richtige Entscheidung, wie gerade die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen.
Politisch hat dies übrigens wohl keine Auswirkungen gehabt. In einem FAZ-Artikel dieser Tage begründen Mannheimer AfD-Wähler ihre Entscheidung damit, dass Wohnungen vorrangig an Flüchtlinge vergeben würden. Das ist durch die Mannheimer Erstaufnahme in den Kasernen ja gerade nicht der Fall – spielt aber ersichtlich für die Wahrnehmung in einer postfaktischen Welt gar keine Rolle.
Mit dem Vorstoß des Landes, ein sogenanntes Ankunftszentrum 2019 oder 2020 zu errichten und Mannheim andererseits nicht mehr als Erstaufnahmestadt zu berücksichtigen, stellen sich zunächst eine Reihe von Fragen, insbesondere zu einem solchen sogenannten Ankunftszentrum selbst: Zur Aufenthaltsdauer der Geflüchteten, ihrem Verbleib nach der Entscheidung über ihren Status, zu ihrer Zahl, zur Größe der Einrichtung – und vor allem zur Frage, ob Mannheim dann weiterhin von der Verpflichtung zur Unterbringung freigestellt bliebe.
Erst wenn alle diese Fragen durch das Land beantwortet sind, kann auf dieser Basis eine Antwort gegeben werden, was tatsächlich das Beste für unsere Stadt ist. Bei einer Verpflichtung zur dauerhaften Unterbringung und den jetzigen Zugangszahlen müssten mittelfristig wohl für 3.000 bis 4.000 Menschen Unterkünfte dezentral in den Stadtteilen geschaffen werden. Ob also ein Ankunftszentrum auf jeden Fall abzulehnen ist, ist seriös noch gar nicht zu bewerten. Auch hier heißt es kühlen Kopf zu bewahren.
Handeln und Gestalten
Das Beste für die Stadt zu finden, darum geht es auch bei der Gestaltung des nun möglichen, grünen Bands von der Innenstadt bis zur Vogelstang. Hier wird der Gemeinderat im Sommer eine Entscheidung treffen. Diese Entscheidung und die Konzeption der Bundesgartenschau sind gleichzeitig wichtige Voraussetzungen, um mit Bund und Land weiter und mit Aussicht auf Erfolg über die Freigabe und den Kauf von Spinelli verhandeln zu können. Ohne eigene, überzeugende Planung träfen andere die Entscheidungen ohne uns oder – sie hätten sie längst getroffen. Die Planung für eine zeitlich definierte Realisierung des Grünzugs und die Bundesgartenschau war und ist kluge Interessenwahrung für unsere Stadt.
Gestaltungsfragen sind aber nicht nur die Fragen, bei denen es um Investition in Flächen, Gebäude und Personal geht. „Wir müssen Gemeinschaft gestalten“, „wir müssen verdeutlichen, was unsere Werte sind“, „Die islamischen Gemeinden sollen sich zu unseren Grundwerten bekennen.“ „Wir müssen der Radikalisierung entgegentreten“.
Sie alle haben diese Appelle in den letzten Monaten und Jahren gehört. Was bedeutet das aber konkret? Wer kümmert sich darum? Auch hier handeln wir. Auch hier geht es um Gestaltung.
Eine Basis für mehr Sicherheit und Vertrauen in Mannheim ist der gemeinsame Dialog von Polizei, Stadt und islamischen Gemeinden, den wir 2016 fortgesetzt haben und bei dem es gerade auch um die Fragen der Radikalisierung geht. Ohne Frage: Der islamistische Terrorismus fordert uns heraus. Er ist uns 2016 sehr nahe gerückt. Der Anschlag in unserer Partnerstadt Berlin-Charlottenburg bewegt uns alle – und auch die Anschläge in Brüssel, Nizza, Orlando und Istanbul.
Der Terror wird nicht gewinnen
Auf den islamistischen Terror gibt es polizeiliche, psychologische und gesellschaftspolitische Antworten. Sie werden gegeben – national und lokal. Der islamistische Terrorismus wird nicht gewinnen. Er wird auch eines Tages ein Ende haben, er wird uns aber noch über Jahre beschäftigen.
Eines ist dabei sicher: Ausgrenzung und Hass gegenüber muslimischen Einwohnern und Migranten wird keinen Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderung leisten, sondern weitere Rekrutierungsfelder für Radikalisierung schaffen.
Seien wir dabei vorsichtig mit unserer Sprache. Spätestens nach 2016 sollte niemand die Wucht von Kampagnen und die Wirkung von abwertender Sprache unterschätzen. Denn wie schnell Kampagnen und Sprache Atmosphären verändern, gar zu Gewalt führen, konnten wir in England beobachten. Die Brexit-Kampagne kostete einer jungen Abgeordneten das Leben. Für viele beruflich und sozial voll integrierte Europäer stellte sich das Gefühl ein, nicht willkommen zu sein. Gegen polnische Migranten, wie es sie hoch integriert mit 18.000 Menschen auch in unserer Stadt gibt, gab es in England gar offene Gewalt.
Yona Yahav, der Oberbürgermeister unserer israelischen Partnerstadt Haifa, der wirklich weiß, was Terror und Konflikt in einer Gesellschaft bedeuten, pflegt zu sagen: „Auf Wertschätzung zahlt man keine Steuern, man sollte sehr freigiebig damit sein.“ Er meint damit gerade auch die Wertschätzung anderer Kulturen, was nicht bedeutet, Werte zu relativieren. Mangelnde Wertschätzung löst eine wechselseitige Spirale nach unten aus. Lassen Sie uns zu Wertschätzung zurückfinden. Das ist eine Frage des Anstands und der Klugheit, nicht der Political Correctness.
Toleranz ist notwendig und hat Grenzen
Genau in diesem Sinne war eine der wichtigsten Aktivitäten des Jahres 2016 die Begründung des Bündnisses für Vielfalt. Mittlerweile gehören ihm mehr als 180 Institutionen in unserer Stadt an. In den ersten Bündniswochen im Herbst 2016 haben allein 90 Veranstaltungen stattgefunden. Die zugrundeliegende „Mannheimer Erklärung“ ermöglicht es, alle Unterzeichner auf die Einhaltung der darin formulierten Verpflichtungen anzusprechen, konkretes Handeln einzufordern. Es ist eine alle Seiten bindende Erklärung. Sie ist gerade keine Schönwettererklärung. Sie fordert die Anerkennung aller Menschen und aller Formen der Lebensgestaltung ein. Schon das ist alles andere als selbstverständlich. In ihr heißt es weiter: „Die Anerkennung von Vielfalt kann in diesem Verständnis aber nicht grenzenlos sein. Als wesentliches Merkmal unserer freiheitlich demokratischen und pluralistischen Gesellschaft hört Toleranz dort auf, wo sich Einzelne, Gruppen, Institutionen und Strukturen in ihrer Haltung und ihrem Handeln gegen die Werte unseres Grundgesetzes sowie gegen die Werte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte richten. Auf unseren Widerspruch und unseren Widerstand trifft erst recht jeder Aufruf zu Hass, Gewalt und Ausgrenzung.“
Es ist damit eine Erklärung, die sich gegen den doppelten Angriff richtet, dem sich unsere offene Gesellschaft derzeit ausgesetzt sieht: Dem Angriff durch religiös begründete Verachtung unserer Werte und dem Angriff durch diejenigen, die die offene Gesellschaft als nicht widerstandsfähig genug denunzieren, sich zu ihren Verteidigern aufspielen, ihre Werte im Kern aber selbst ablehnen und verraten.
Die Mannheimer Erklärung ist eine Plattform für alle guten Willens, gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens. Und sie ist ein Bündnis, das so in anderen Städten nicht existiert. Sie ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit und Bereitschaft vieler zum Dialog.
Alle, die in den letzten Jahren an diesem Dialog mitgewirkt haben, haben etwas für unsere Stadt beigetragen. Sie legen die entscheidenden Grundlagen dafür, dass eine vielgestaltige Stadt weiter Heimat sein kann. Ihnen gebührt unser Dank.
Geschichte und Kunst sind auch Heimat
Heimat ist zum einen Gemeinschaftsbezug, sie braucht aber zum anderen auch den konkreten Ort. Im Jahr 2017 werden zwei Projekte baulich fertig gestellt, die die Identität unserer Stadt stärken werden. Sie werden als Bauwerke und Orte wirken und sie werden Gemeinschaft gerade auch über ihre Angebote bilden. Ich spreche vom Marchivum – unserem neuen Stadtarchiv, das das Gedächtnis der Stadt nicht nur in Form von Archivalien und Dateien, Veröffentlichungen und Vorträgen abbilden wird, sondern auch durch Ausstellungen. Der Ochsenpferchbunker wird 2017 seine äußere Verwandlung abgeschlossen haben. Die neue Ausstellungspräsentation unserer Stadtgeschichte wie auch das NS-Dokumentationszentrum werden dann noch etwas Zeit brauchen. Der Ochsenpferchbunker, ein Symbol für die Zeit größten Schreckens und größter Zerstörung, wird ein attraktiver Ort der Begegnung und des Nachdenkens über unsere Stadt, Ihre Geschichte und Gegenwart. Diese besondere Transformation ist zum nationalen Leuchtturmprojekt des Städtebaus ausgewählt und so auch finanziell gefördert worden. Es ist ein Beispiel positiver Gestaltung, ein Projekt, das sich mit Zaghaftigkeit nicht realisiert hätte. Ich bin sicher: Auf das Marchivum werden die Mannheimerinnen und Mannheimer stolz sein.
Das wird auch für die neue Kunsthalle gelten, die im Sommer als Gebäude fertiggestellt sein wird und im Dezember die Pforten als Museum öffnet. Ein Ort der Begegnung, der sinnlichen Erfahrung und des Nachdenkens auch hier. Die neue Kunsthalle wird schon baulich eine Einladung an alle sein und den Anspruch „Kunsthalle für alle“ einlösen. Das offene große Atrium, das eintrittsfrei besucht werden kann, wird ein Marktplatz für unsere Stadt werden. Ein öffentlicher Raum als privates Geschenk – das ist ebenso eine Besonderheit, die sich ohne die Kraft der Idee und Vision nicht realisiert hätte.
Visionen werden wahr
Stichwort „Vision“. 2016 war ein gutes Jahr für unsere Stadt bei unserem größten Stadtentwicklungsprojekt überhaupt: Der Konversion und hier insbesondere bei Franklin. Erinnern Sie sich? Der Vertrag zum Erwerb von Benjamin-Franklin, Sullivan und Funari wurde erst im Dezember 2015 wirksam. Das ist nicht einmal 13 Monate her. Im letzten Jahr sagte ich hier:
Die Unkereien, dass das Land seine eingegangene Verpflichtung zur Räumung nicht einhalte oder die Realisierung der Investitionen wegen der parallel betriebenen Flüchtlings- unterkunft illusionär seien, bringen uns keinen Schritt weiter. Im Gegenteil: Dass wir uns auf Zusagen des Landes und die Investoren verlassen und unser Handeln danach ausrichten, ist die notwendige Botschaft, um ein so wichtiges Vorhaben der Stadtentwicklung anzugehen.
Heute stehen die ersten Neubauten schon kurz vor dem Richtfest. Entgegen der Befürchtungen vor einem Jahr sind alle Investoren bei der Stange geblieben – die offenen Fragen, die Flüchtlingsunterbringung, all das hat die Entwicklung nicht behindert. Die Pläne der privaten Investoren selbst gehören zum interessantesten, was derzeit in unserem Land entwickelt wird. Neue Energie- und Mobilitätskonzepte, neue Wohnformen, ungewöhnliche Bauten und ein wirklich gemischtes Quartier prägen die Idee Franklin. Und es ist keine Idee, die auf dem Papier steht.
Turley mit seinen sozialen und ökologischen Wohngemeinschaften und seiner Mischung von Arbeiten und Leben und das grüne Gewerbegebiet Taylor sind weitere Beispiele für Entwicklungen, die unserer Stadt guttun.
Haltung ist das Gegenteil von Verachtung
Dass sich diese Projekte so entwickeln hat viel mit Haltung zu tun. Ohne realistische Zuversicht wäre dies alles nicht erreichbar gewesen. Mutlosigkeit und Pessimismus hätten all diese Projekte nicht entstehen lassen- ohne dass nachweisbar gewesen wäre, dass es anders möglich war. Das ist ja das Perfide an einer pessimistischen, Chancen gering schätzenden und Risiken überbetonenden Weltsicht: sie wirkt als self-fulfilling prophecy, als selbsterfüllende Prophezeiung.
Wenn wir versuchen genau mit diesen Erfahrungen und mit etwas Abstand auf das Jahr 2016 zu blicken, was ist dann das Bedrohlichere: Die Entwicklung der Sicherheitslage oder die gesellschaftliche Reaktion darauf?
Zum Erstarken populistischer Bewegungen in nahezu der ganzen westlichen Welt gibt es zwei ganz unterschiedliche Sichtweisen.
Die eine verweist darauf, dass wesentliche Fragen von Regierungen und Opposition nicht ausreichend bearbeitet worden seien. Das sind insbesondere die Fragen der Steuerung der Migration, die Diskussion über die Werte der Gesellschaft und die Erwartungen, die wir gegenüber allen haben müssen, die in Europa leben, die Durchsetzung des Rechts oder die von vielen als unreflektiert nur Wirtschaftsinteressen dienend wahrgenommene europäische und internationale Politik. Die Reaktion, eine neue politische Kraft zu wählen, die in welcher Weise auch immer diese Fragen anspricht, ist danach logisch und Teil des demokratischen Korrektivs.
Es gibt eine andere Betrachtung, die darauf verweist, dass die konkret vorgeschlagenen Rezepte und Haltungen nicht nur genau die falschen seien, sondern vor allem diese neuen Bewegungen das demokratische System als solches in Frage stellen. Dass es sich um Bewegungen handelt, die die historisch bekannten, und in leidvolle Katastrophen führenden Muster von „reinem Volk“ und „korrupter Elite“, „gesundem Volksempfinden“ und „Volksverrätern“ neu bedienen.
Meine Damen und Herren, beide Beschreibungen schließen sich nicht aus. Sie sind zugleich zutreffend. Das spiegelt sich auch bei den Wählern.
Es gibt diejenigen, die in den genannten Fragen eine Alternative zum bisherigen Parteienspektrum suchen oder das bisherige Parteienspektrum zu bewegen suchen, was ja auch geschehen ist.
Und es gibt diejenigen, die eine Alternative zum System, d.h. letztendlich zur Wertordnung unseres Grundgesetzes wollen.
Die erste Gruppe ist irritiert, wenn sie für die zweite Gruppe in Haftung genommen wird. Nur: erstens bestimmt diese zweite Gruppe zunehmend Richtung und Linie der öffentlichen Debatte.
Und zweitens: eine klare Grenze zwischen diesen beiden Sphären ist von den Führungen der populistischen Parteien gerade nicht gewollt. Wer in populistischen Bewegungen die klare Grenzziehung zu den Extremen und Anti-Demokraten sucht, wird abgewählt. Herr Lucke und seine Anhänger sind da ja ein eindrückliches Beispiel.
Wir müssen streiten
Dennoch und gerade deshalb: Wir müssen mit allen, die nicht in letzter Konsequenz und absichtsvoll unsere Demokratie ablehnen, ins Gespräch kommen. Uns politisch – ohne wechselseitige Verachtung – streiten können. Zugleich dürfen wir die Gefahren für unsere Demokratie nicht unterschätzen.
Sie ist ein viel empfindlicheres und komplizierteres Gebilde als wir uns in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten klar gemacht haben. Und: Sie ist das Wertvollste, was wir haben.
Unsere Demokratie kann nur verteidigen, wer ihren Wesenskern versteht. Die Demokratie unseres Grundgesetzes ist eine repräsentative Demokratie und sie ist von Rechtsstaat und Gewaltenteilung nicht zu trennen.
Unser Grundgesetz ermöglicht nicht die reine und unmittelbare Volksherrschaft, weil wir – wie alle demokratischen Staaten- aus historischer Erfahrung wissen, dass diese, wo immer sie postuliert wurde, Terrorherrschaft war.
Eine Mehrheitsdiktatur, bei der – wie jetzt in der Türkei – das Volk zur Abstimmung gebeten wird, um weitere Maßnahmen gegen die Minderheiten zu beschließen bis hin zur Todesstrafe, ist keine Demokratie im Sinne unseres Grundgesetzes.
Die Minderheiten und die Einzelnen werden gerade durch die Zügelung der reinen Volksherrschaft geschützt. Durch repräsentative Wahlen, den Rechtsstaat und durch Gewaltenteilung. Demokratische Regierungen sind darüber hinaus nicht nur ihren Wählern, sondern auch ihren Nichtwählern verpflichtet. Demokratische Regierungen versuchen auf Kritik zu reagieren. Die populistischen Bewegungen greifen dagegen, wo immer sie die Macht erlangen, in die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat ein, verfolgen die Opposition, verändern das verfassungsrechtliche Gefüge.
Dabei können wir uns bei diesen Fragen nicht einfach auf die staatlichen Organe verlassen. Diesbezüglich hat mich ein Text von George Orwell sehr nachdenklich gemacht. Orwell, der wie kein anderer mit „1984“ den Alptraum des totalitären Staates beschrieben hat, schrieb 1945 in einem Kommentar, dass die vergleichsweise große Freiheit, die die freie Welt genieße, allein von der öffentlichen Meinung abhänge. Recht und Gesetz seien kein Schutz. Regierungen erließen zwar Gesetze, aber ob sie auch tatsächlich gälten und wie sich die Polizei verhalte, hinge „von der allgemeinen Stimmung im Lande“ ab.
Die Fragen zur Zukunft werden im Saal entschieden
Zur allgemeinen Stimmung tragen wir alle bei oder eben nicht. Lassen Sie es mich so formulieren: Die Frage der Zukunft unserer Demokratie wird nicht auf den Bühnen entschieden, egal wer gerade dort steht, sondern im Saal.
Ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Feinde unserer Demokratie und unserer Staates, gegen diejenigen, die die Systemalternative wollen, braucht die Unterstützung der Öffentlichkeit. Und zugleich brauchen wir die Achtsamkeit für die herausragende Errungenschaft unserer Verfassung. Verfassungspatriotismus nannte das einst der Staatsrechtler Dolf Sternberger.
Es ist der Stolz auf diese freiheitlichste und beste Verfassung, die es je gab. Dieser Patriotismus verlangt, der pauschalen Herabwürdigung aller Repräsentanten, aller staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, der Verneinung aller Leistungen und Erfolge unserer Demokratie und der Beschwörung von Untergangsphantasien nüchtern entgegenzutreten. Ein einfaches „ich“ – oder noch besser – „wir sind nicht ihrer Meinung“ hilft viel.
Treten wir der Hysterie mit dem Wissen unserer positiven Erfahrungen entgegen. Und behalten wir die Maßstäbe im Blick.
Wenn wir heute Erwachsenen alle nicht mehr sind, in 90 Jahren, wird die Stadt Mannheim ihren 500.Geburtstag feiern. In ihr werden Menschen wohnen, die stolz auf ihre Stadt sind und sich als Mannheimerinnen und Mannheimer sehen.
Menschen wollen stolz sein – lasst uns Gutes tun
Sie werden auf eine wechselvolle, aber bestärkende Geschichte zurückschauen können. Und: Nein, über Mannheim wird nicht die Flagge eines Kalifats wehen.
Man wird auf die Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zurückschauen und feststellen, wie gut es war, nüchtern und souverän geblieben zu sein oder es gar als völlig selbstverständlich und nicht der Erwähnung wert empfinden.
In diesem Sinne: Entkrampfen wir uns etwas, handeln wir stattdessen, tun Gutes für unsere Stadt und unser Gemeinwesen.
Und behalten wir bei allen Auseinandersetzungen im Blick, dass wir immer von Menschen reden.