Rhein-Neckar/Hamburg, 15. Juli 2018. (red/pro) Wir beschäftigen uns immer wieder mit der Medienwelt, weil sie jeden von uns angeht. Medien sind überall ein lokal- und regionalpolitisches, gesellschaftlich relevantes Thema. Häufig kritisieren wir dabei Autoren, Artikel, Methoden, manchmal loben wir auch. In diesem Fall stellen wir fest: Die Zeit hat ein „ProCon“ gemacht. Zwei Autorinnen schreiben unterschiedliche Sichtweisen zum Thema „Seenotrettung“. Es gibt viel Aufregung, gar einen „Shitstorm“. Dabei wäre eine nüchterne Analyse angebracht. Und das internationale Thema ist ein lokales und regionales Thema, das uns alle beschäftigen muss, wenn wir an Gesellschaft und Zukunft interessiert sind.
Von Hardy Prothmann
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um
„Ein starrköpfiger Mensch nimmt ein schlimmes Ende, und wer die Gefahr liebt, kommt darin um. Ein starrköpfiger Mensch macht es sich selber schwer, und der Sünder häuft Sünde auf Sünde. Gegen Hochmut ist kein Kraut gewachsen, die Pflanze des Unheils wurzelt ja in ihm. Ein vernünftiger Mensch lernt Weisheitssprüche, und wer nach Weisheit strebt, hört aufmerksam zu. Wie das Wasser ein brennendes Feuer löscht, so tilgt das Almosen die Sünden. Der die Wohltaten vergilt, wird dereinst ihrer gedenken, und wer fällt, wird eine Stütze finden,
steht in der Bibel, Buch Sirach, 3, 22.
Daraus wurde die Verkürzung: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“. Es geht wie in der Bibel aktuell in der Debatte um „Starrsinn und Vernunft“.
Todesboote
Möglicherweise habe ich etwas überlesen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass mal ernsthaft die „Schlauboote“ hinterfragt worden sind. Schlauchboote, in denen man 50, 100 oder mehr Menschen transportiert, sind völliger Unsinn. Solche Boote gibt es normalerweise nicht, denn sie erfüllen keinerlei Zwecke – außer den, möglichst viele Menschen auf ein Boot zu packen.
Und wenn man sich das mit Vernunft betrachtet, sind das per Konstruktion Todesboote. Es geht dabei überhaupt nicht um die Frage, ob ein solches Boot internationale Gewässer erreichen könnte. Es ist viel wahrscheinlicher, dass es vorher schon absäuft. Irgendetwas Spitzes, eine Gürtelschnalle, eine Nagelschere reicht, um es zu beschädigen. Vermutlich braucht es nicht mal das. Eine miese Verarbeitung reicht wohl aus.
Da mutmaßlich die meisten Menschen, die in Libyen solch ein Todesboot besteigen, nicht schwimmen können, reichen schon einige hundert Meter oder ein Kilometer, um die Menschen in absolute Lebensgefahr zu bringen. Die relative Lebensgefahr besteht schon beim Einsteigen. Auch die Schwimmwesten sehen nicht sehr vertrauenserweckend aus und wenn ein wenig Welle geht, ersäuft man mit Kopf über dem Wasser vermutlich auch.
Wer, wie auch immer einen Anreiz zur Hoffnung gibt, in solche Boote zu steigen, um gerettet zu werden, ist moralisch mindestens mitschuldig am Tod von Menschen.
Denn diese Boote geraten nicht in Seenot, sie sind per Konstruktion die Verkörperung von Seenot. Es kann gar kein anderer Zustand außer Seenot eintreten.
Gegensätzliche Perspektiven in „Die Zeit“
Die beiden Autorinnen Caterina Lobenstein und Miriam Lau betrachten die Debatte um die zweifelhafte „Seenotrettung“ aus unterschiedlichen Perspektiven, kommen sich in den Texten aber stellenweise sehr nahe. Miriam Lau nimmt dabei die böse Rolle ein, indem sie die Seenotrettung in Frage stellt.
Daraus wird im Internet ein Shitstorm, insbesondere bei Twitter. Tim Wolff, angeblich ein Satiriker und Chefredakteur der „Titanic“, schreibt auf Twitter: „Zeit-Redakteur auf offener Straße erschießen?“
Da verschlägt es einem die Sprache. Im Einsatz für das vermeintlich Gute wird zum Mord an Menschen aufgerufen?
Die Überschrift: „Oder sollten wir es lassen?“, war mindestens unglücklich. Der stellvertretende Chefredakteur Bernd Ulrich hat sich dafür auch entschuldigt.
Thematisch beschäftigen sich die Texte nicht als wissenschaftliche Abhandlung mit dem Thema, sondern eben als Artikel. Und man muss sie im Kontext betrachten. Bei Frau Lau kommt auch der korrekte Satz vor: „Wer in Not ist, muss gerettet werden, das schreibt das Recht vor und die Humanität.“
Fake News als Reaktion auf ein Dilemma
Wer behauptet, die Zeit habe mit diesen Pro und Kontra-Standpunkten die Debatte eröffnet, dass man erstmal ein paar hundert Menschen ersaufen lässt und damit das Problem löst, verbreitet Fake News.
Die Situation ist ein klassisches Dilemma: Rettest Du den einen, stirbt der andere und umgekehrt. Die Lösung kann also nicht sein, sich für den einen oder anderen zu entscheiden oder entscheiden zu müssen, sondern das Dilemma aufzuheben.
Wir hatten die Debatte schon anders 2015 anhand eines Symbolbildes eines kleinen Jungen, der auf der sehr kurzen Strecke zwischen der Türkei und Griechenland ertrunken war. Verantwortlich für dessen Tod war nicht die europäische Politik, sondern der Vater, der sich trotz Sicherheit in der Türkei entschlossen hatte, weiterreisen zu wollen und damit seine Familie ins Unglück geschickt hatte. Der Vater überlebte dank Schwimmweste, sein Junge nicht. Der hatte keine.
Das Dilemma in der Ägäis wurde gelöst. Die Türkei machte die Grenzen dicht, Europa zahlte dafür. Seither gibt es dort keine Todeszone mehr. Genau dieselbe Lösung würde das Problem vor der Libyschen Küste lösen, wenn da nicht ein großes Problem in Libyen herrschen würde, weil es da keinen wie Präsident Erdogan gibt, der hier vielen als „Diktator“ gilt. Tatsächlich gibt es bei allen innenpolitischen Konflikten keine Berichte über „grausame Zustände“ für Flüchtlinge in der Türkei und die hat rund doppelt so viel wie Europa aufgenommen, hat aber nur die Bevölkerungsgröße ähnlich Deutschlands.
Wer macht wen in Afrika für was verantwortlich?
Ähnlich wie im Irak und Syrien ist auch Libyen ohne Diktator Muammar al-Gaddafi ins Chaos gestürzt, nur viel heftiger als bei den beiden anderen Krisenregionen. Teile Europas waren bereit, Libyen anzugreifen, ganz Europa ist bis heute nicht bereit, die UNO auch nicht, Truppen nach Libyen zu schicken, den Flaschenhals zuzumachen und das Land einigermaßen zu befrieden und kontrollierbar zu machen. Möglicherweise wegen der blutigen Nasen, die man sich in Somalia, Afghanistan, Irak und Syrien geholt hat, wobei in allen Ländern unterschiedliche Bedingungen herrschten. Gemeinsam haben sie, dass die USA und europäische Truppen vor Ort waren und Chaos hinterlassen haben.
Die „böse“ Miriam Lau schreibt einen wichtigen Satz: „Interessanterweise gibt es einen Akteur, der in den Schuldzuweisungen der Aktivisten nie vorkommt: die afrikanischen Regierungen.“ Fehlt nur noch, dass man ihr strukturellen Rassismus unterstellt.
Denn die erzeugen die Flüchtlingsströme, lassen sie zu und verdienen möglicherweise noch daran. Ihre Landsleute nehmen sie nicht zurück, deswegen kann man auch nicht abschieben. Möglicherweise will man das auch so – nein, ich glaube nicht an eine „Verschwörungstheorie“, das hier jemand einen „Plan“ hat. Aber Menschen als Waffe einzusetzen, ist dort gang und gäbe. Menschen haben dort nicht viele oder keine Rechte – die erhalten sie erst durch Rettung in unsere Rechtssysteme, was unsere System, die darauf nicht eingestellt sind, vor immer größere Probleme stellt. Sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, als auch die Gemeinden, als auch die Polizei, als auch die Verwaltungsgerichte.
Politische und gesellschaftliche Grenzfragen
Die Argumentation, es kämen ja nicht mehr so viele Menschen wie 2015/2016, ist keine, denn es kamen eben 1,7 Millionen Menschen in diesen Jahren und selbst wenn es nur jährlich 200.000 mehr sind, ist der Sockel groß und die Summe gewaltig. Deutschland und Europa halten das aus. Auch drei, vier Millionen Menschen, wie Frau Lau richtig schreibt. Auch noch mehr – die Frage ist, aber wann hält man das nicht mehr aus und was, wenn weiter und weiter Menschen nach Europa drängen? Darauf hat niemand eine Antwort und deswegen ist die Debatte sehr wichtig und muss sich an Fakten und Lösungen orientieren und nicht an „Du bist böse, wenn Du nicht gut bist“.
Frau Lau schreibt ebenfalls sehr richtig auf, dass die Grenzfrage auch eine politische Grenzfrage werden wird: Wann reicht es und wann kippt die Stimmung derart, dass Parteien, die knallhart gegen Flüchtlinge sind, an die Macht kommen. Und damit sich da keiner vertut: Wenn die AfD in Deutschland zweitgrößte oder sogar größte politische Kraft wird, demokratisch gewählt, dann ist das so. Und wenn die Aktionen gegen die AfD noch heftiger werden, teils sind sie schon kriminell, dann hat niemand das Recht dazu, sondern dann ist das kriminell und wird verfolgt werden müssen. Man kann das dann Widerstand nennen – oder Starrsinn. Bibelzitat siehe oben.
Wer stark sein will, muss Härte beweisen können. Alles andere ist ideologischer Freisinn. Wie bei der „Kriminalisierungsdebatte“ um „Flüchtlinge“: Es kommt nicht auf die Zahl der friedfertigen Menschen an, sondern auf die kritische Größe der Kriminellen. Eine zivile Gesellschaft ist schon aber einer geringen Zahl von Kriminellen extrem belastet und möglicherweise nicht mehr umsetzbar. Um das mal an den Flüchtlingen deutlich zu machen: Hätten sich mehrere Millionen Syrer, die geflohen sind, bewaffnet zum Aufstand entschlossen, gäbe ich in Syrien keinen Krieg mehr. Die meisten Menschen sind aber keine Kämpfer und auch keine Killer, sondern werden dann Opfer von Kämpfern und Killern, wenn deren kritische Zahl zu groß ist. Und irgendwann auch zu Mittätern oder Kollaborateuren. Der direkte Vergleich zu Nazi-Deutschland schlägt fehl – der systemtheoretische nicht. Es braucht immer nur relativ wenige, um viele zu beherrschen.
Symptombetrachtung statt Analyse
Die Debatte über die „Seenotrettung“ geht vollständig fehl. Denn sie betrachtet nur dieses Symptom, aber nicht die Ursachen und aktuell ist nirgendwo der Ansatz einer Lösung zu erkennen. Die Warlords in Libyen zu bezahlen, ist sicher keine Lösung. Gegen die ist Herr Erdogan der edelste Mensch der Welt.
Wir bekommen immer wieder wohl gemeinte Hinweise, wir sollten uns auf „lokale“ Themen konzentrieren. Mit dem RNB-Style, starke Recherche, mutige Analyse seien wir wichtig und hätten ein „Alleinstellungsmerkmal“. Diese Hinweise nehmen wir ernst. Aber: Was in Libyen passiert, erreicht uns auch vor Ort. Weil auch hier Menschen sich Gedanken zu fernab machen, anstatt vor Ort. Irgendwann sind Menschen von fernab hier vor Ort und spätestens dann haben wir das angeblich außenpolitische Thema vor der Haustür. Und das haben wir seit vielen Jahren.
Es wird seit einiger Zeit immer wieder ein „konstruktiver Journalismus“ gefordert. Das lehne ich ab, weil Journalismus keine System- oder Unternehmensberatung ist, sondern sich kritisch mit dem beschäftigen soll, was andere machen.
Konstruktiver Vorschlag
Aber ich mache einen Vorschlag, den ich für sehr konstruktiv halte. Tatsache ist, dass die Kommunen in Deutschland und in anderen Ländern den entscheidenden Beitrag zur Integration leisten müssen. Sie stehen aber am Ende der Entwicklung und haben keinerlei Einfluss. Das könnte man ändern und in Mannheim gibt es einen Experten, der sich schon lange dem Thema interkommunale Zusammenarbeit weltweit annimmt: Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz.
Die Kommunen sind bislang nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden, sondern bekommen „Zuweisungen“ von Menschen. Sie regeln, dass es keine Obdachlosigkeit gibt, was sie enorm anstrengt, sie versuchen jede für sich, die Probleme in den Griff zu bekommen. Letztlich werden Menschen nicht in „Massenlagern“ verwahrt, dafür aber in dezentralen kommunalen Einrichtungen. Ländliche Regionen erleben Landflucht und brauchen Menschen, die eher im Handwerk und in der Landwirtschaft stark sind – die könnte man für sich anwerben. Industriestandorte brauchen technisch-geschickte Leute.
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist nach wie vor schwierig. Es leuchtet mir nicht ein, warum man Menschen, denen man hilft, nicht auch dazu verpflichten kann, Aufgaben zu übernehmen. Ich habe in meinem Leben schon mehrfach Freunde und Bekannte bei mir aufgenommen, die hatten dann Rechte und Pflichten im Haushalt. Sie mussten Miete zahlen, putzen, einkaufen, Ordnung halten. Viele klagen über ein Mannheim, wo das Unkraut sprießt und die Straßen nicht sauber sind. Warum können „Flüchtlinge“ nicht gegen kleines Entgelt solche Aufgaben übernehmen. Das wertet diese Menschen nicht ab – sie sorgen für Sauberkeit, die allen zugute kommt. Und sie haben Beschäftigung.
Man könnte auch humanitäre Lager einrichten
Was ist an zentralen Lagern schlimm, die Menschen erstmal nicht verlassen dürfen? Der „Internierungscharakter“? Den gäbe es nur, wenn das Ziel die Internierung wäre. Wenn das Ziel aber ist, diese Menschen in eine Freiheit zu überführen, in der sie sich einbringen können und in der sie gestalten können – was wäre daran „schlimm“? Soldaten kommen auch erstmal in eine Kaserne, erhalten Drill und werden auf Aufgaben vorbereitet. Niemand spricht von „Konzentrationslagern“.
Was viele Linke übersehen, ist, Freiheit an sich ist eine Utopie. Freiheit muss gelernt werden und Freiheit ist immer Verantwortlichkeit, Beschränkungen der Freiheit hinzunehmen, um insgesamt möglichst viel Freiheit zu erhalten. Alles andere ist Anarchie.
Die Situation vor der libyschen Küste ist eine moralische Anarchie. Die angeblich „Guten“ beteiligen sich an einem ausweglosen Dilemma, lindern auf den ersten Blick Not für die Menschen in angeblicher, aber auch tatsächlicher Seenot und erzeugen Probleme, für die sie sich nicht mehr interessieren. Sie holen sich den „Ich bin gut-Bonus“ ab und alle, die das „unterstützen“. „Nachhaltig“ aber geht anders. Nämlich mit Fragen: Und dann? Wie weiter?
Die Schießdebatte ist eine Ersaufdebatte geworden
Ich erinnere mich an die „Schießbefehl“-Debatte Anfang 2016. Was hatte die Wellen geschlagen. Sie war aus moralischem Druck erzeugt worden – ohne jede tatsächliche Relevanz. An einer deutschen Grenze ist niemand erschossen worden. An den Außengrenzen der EU sind viele tausend Menschen bereits gestorben – ohne einen Schuss abzugeben. Die jetzt aufkommende moralische Debatte ist geeignet, noch mehr Menschen umkommen zu lassen – oder einen Shuttleservice Afrika-Europa einzurichten, Zwischenstation Libyen.
Denn wer festen Willens ist, Menschen in Not zu retten, der kann nicht nur die angebliche Seenotrettung vor der libyschen Küste meinen, sondern muss fragen, wie viel Menschen bereits in der Wüste sterben, also auch dort Rettung anbieten. Dann weiter, wie viele an Mangelernährung, innerstaatlichen Konflikten sterben und auch da sofort Hilfe anbieten und organisieren. Man kann Zynismus auch anders definieren: Man rettet Menschen im Risiko auf dem offenen mehr, geht aber selbst nicht ins Risiko, wenn man sich hingegen entschlösse, sehr viel mehr Menschen vor Ort zu helfen, wo aber Kugeln fliegen, wäre das Risiko zu groß. Und Schwubsdiwups wäre das nicht mehr zumutbar – man ist ja schließlich nur Retter und nicht lebensmüde. Das sollen dann doch lieber die Soldaten machen, die man eigentlich ablehnt, aber die ja schließlich für sowas bezahlt werden, aber nicht entsendet werden sollten, denn sie könnten ja getötet werden oder schlimmer, selbst töten.
Wenn man die Dinge bis zum Ende denkt, kommt selten eine Blumenwiese dabei raus. Das kann eine werden, aber bis dahin ist der Weg nicht einfach, sondern sehr kompliziert und auch schmerzhaft.
Aktuell erleben wir einen Wettkampf zwischen Starrsinn und Vernunft – ein biblischer Topos. Wer hätte das gedacht.
Nein, wir sollten es nicht lassen. Weder die Rettung von Menschen, noch die Debatte. Aber wir sollten sie vernünftig führen und nicht mit Schaum vorm Maul.