Rhein-Neckar/Mainz/Wiesbaden/Erbil/Berlin, 10. Juni 2018. (red/pro) Der mutmaßliche Mörder der 14-jährigen Susanna F. ist zurück in Deutschland und wird heute dem Haftrichter vorgeführt. Die Geschwindigkeit, mit der der Mann ausgeliefert worden ist, ist atemberaubend. Vermutlich hat es damit zu tun, dass nach vielen Morden aus der jüngeren Vergangenheit ein Exempel statuiert werden soll, dessen Signal “Handlungsfähigkeit” sein soll. In der Causa “Mordfall Susanna F.” ist aber noch Vieles sehr offen.
Kommentar: Hardy Prothmann
Unser Text: “Zeiten des Zorns” ist viele tausend Mal gelesen worden. Ebenso: “Mordfall Susanna F. – aus recherchetaktischen Gründen lassen wir Sie mitdenken“. Ich freue mich sehr über sehr viele differenzierte Rückmeldungen auf allen Kanälen.
Im Zweifel für den Angeklagten
Die Bild-Zeitung hat mit enormen Aufwand (ein halbes Dutzend Reporter im Irak) aktuell zur Verhaftung, Auslieferung, Rückführung und Inhaftnahme des mutmaßlichen Täters berichtet – ohne jeden Zweifel.
Das ist journalistisch ein leider widerliches Kellerniveau, das alles, was für mich und andere Kollegen Mindeststandard ist mit Rekordniveau unterläuft. Die Bild verfügt über enorme Mittel, die ich auch gerne hätte, aber nicht für ein derart widerliches Ergebnis. Die Bild hatte vor Jahren schon mal jemanden gejagt – den Wettermoderator Jörg K. – auch er ein Ausländer, der in Haft kam, letztlich freigesprochen worden ist und in vielen Prozessen einerseits seinen Leumund zu verteidigen suchte und Schadensersatz erfolgreich eingeklagt hat.
Das ich daran erinnere, könnte Sie jetzt aufreden, aber wenn, haben Sie genau nichts verstanden: “in dubio pro reo” – Im Zweifel für den Angeklagten ist ein zentrales Prinzip unseres Rechtsstaats. Und das muss auch für Ali B. gelten, egal, wie die empörte Gefühlslage ist.
Man kann, darf, muss alle notwendigen Fragen zu dessen Schuld und zu den Abläufen stellen – aber ohne Vorverurteilung, ohne Vergeltungsfantasien und ja, leider auch ohne Empathie, auch, wenn das sehr schwer fällt.
Kommandoaktion
Wenn man den Ablauf richtig verfolgt hat Ali B. am 02. Juni Deutschland verlassen und kam am 03. Juni in seiner irakischen Heimat an. Aus dieser war er geflohen war und 2015 in Deutschland angekommen. Wann er aus dem Irak geflohen ist, ist unbekannt.
Nur sechs Tage später ist er wieder in Deutschland, drei Tage nachdem er als mutmaßlicher Täter für einen Mord benannt worden ist. Damit stelle ich fest, dass die irakischen Behörden, in diesem Fall jene einer kurdischen Autonomieregion sicherlich überhaupt keine Prüfungen unternommen haben, um herauszufinden, ob ein Tatverdacht zureichend ist und ein Staatsbürger an ein anderes Land überstellt werden sollte. Klar ist, dass diese rekordverdächtige Rückabschiebung in Deutschland undenkbar wäre.
Vollständig unklar ist, was diese Aktion gekostet hat: Wie viele Sicherheitsbeamte sind in den Irak geflogen, welcher administrativ-diplomatische Aufwand wurde im Hintergrund betrieben? Und welche (finanziellen) Zusagen waren damit verbunden?
Völlig unklar ist auch, nach welchen rechtsstaatlichen Prinzipien aus deutscher Sicht diese Kommandoaktion rechtfertigt ist.
Völlig irre Erklärungen
Die Deutsche Welle hatte nach eigenen Angaben die Mutter des Tatverdächtigen erreicht. Zur Erinnerung – der reiste nicht alle aus, sondern mit der insgesamt achtköpfigen Familie. Die Mutter soll gesagt haben, dass ihr Mann totkrank sei und dieser lieber im Ramadan auf irakischem Boden sterben sollte, als in einem fremden Deutschland. Von einer Tat ihres Sohnes will sie erst im Irak erfahren haben – der Sprößling sei betrunken gewesen und könnte sich an nichts erinnern.
Übersetzt: Eine streng-gläubige Muslim erklärt in ein und demselben Gespräch, dass ihre religiös-traditionellen Gefühle und Verbindlichkeiten angesichts ihres todkranken Mannes sie verpflichtet, in das Land zurückzukehren, aus dem sie wegen Todesgefahr geflohen sein will, um dort dem Mann ein würdevolles Grab zu ermöglichen. Diese Strenggläubige zuckt mit den Schultern, dass ihr Sohn “besoffen” eine 14-jährige Jüdin vergewaltigt und ermordet haben soll. Sie will zudem, dass ihr Sohn lieber nach irakischem Recht (Todesstrafe) verurteilt wird, als im fernen Deutschland, wohin man geflohen war, um was, ja, dem Tod zu entgehen.
Das ist vollständig irre.
Wer jetzt meint, alles sei irre, irrt. Alle Flüchtlinge pauschal mit diesen irren Verhältnissen gleichzusetzen muss nach menschlichem Ermessen falsch sein. Tatsächlich stellt sich aber die entscheidende Frage, wie viele Irre mit dem Flüchtlingsstrom ins Land gekommen sind und die Hinweise darauf, dass das nicht eben wenige sind, sind gegeben.
“Erfolg” belegt massive Defizite
Der Aktionismus der deutschen Bundesregierung in Sachen Ali B. zeigt eins: Die Nerven liegen blank. Zu viele massive Fehler sind in der Vergangenheit passiert und jetzt will man Entschlossenheit zeigen.
Doch der Versuch schlägt durch Erfolg fehl: Ganz offensichtlich ist es möglich, massiv, entschlossen und erfolgreich vorzugehen, wenn man denn will.
Der Umkehrschluss ist: In der Vergangenheit hatte man keinen Plan, häufig gezaudert und damit viele, viele Opfer erzeugt (von immensen Kosten nicht zu reden). Nicht nur Deutsche, sondern aus aller Herren Länder, ob beim Terrorattentat in Berlin oder täglich in Flüchtlingsunterkünften oder täglich in allen Städten und Gemeinden, in denen Irre und Kriminelle agieren können.
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Viele offene Fragen
Es stellen sich aber noch viele andere Fragen in diesem Mordfall:
- Gab es nur einen Täter?
- Starb Susanna F. wirklich in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai oder erst später? Immerhin wurde ihr Mobiltelefon offenbar noch am 24. Mai benutzt, die Nachricht an ihre Mutter kann nicht von einem Asylbewerber mit schlechtem Deutsch stammen. Wer hat diese also geschrieben?
- Starb das Mädchen also später? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Könnte es sein, dass die achtköpfige Familie, die allesamt abreisten, irgendwie involviert ist?
- Wo war der Tatort? Die Ermittler gehen davon aus, dass der Auffindeort der Leiche nicht der Tatort ist. Wie kam die Leiche in dieses schwer zugängliche Gelände entlang einer Bahnschiene? Und die Ermittler meinen ferner, ohne Werkzeug hätte die Leiche nicht in der betonharten Erde verscharrt werden können – wer hat sie also mit welchen Werkzeugen dort verscharrt? Wo sind diese Werkzeuge?
- Die Polizei hat angeblich schnell eine Telekommunikationsüberwachung gestartet – wieso gibt es keine Angaben, von wo die whatsapp-Nachricht an die Mutter gesendet worden ist?
- Warum war die Leiche noch relativ “frisch” und ohne Fäulnisprozesse? Dazu haben die Ermittler nichts mitgeteilt.
- Wie viele fremde DNA-Spuren wurden gesichert? Keine Information der Ermittler.
- Angeblich wurde das Mädchen erdrosselt – gibt es ein Tatwerkzeug?
- Trifft es zu, dass Ali B. einen Drogenhandel organisiert hatte? Wieso wusste man polizeilicherseits nichts davon?
- Angeblich soll die irakische Botschaft “Laissez-passer”-Dokumente ausgestellt haben – wie oft kommt sowas vor und nach welchen Regeln?
- Angeblich war bei der Ausreisekontrolle alles in Ordnung. Abflughafen war Düsseldorf. Nordrhein-Westfalen! Schon wieder. Wäre das in Stuttgart oder Frankfurt auch so gelaufen?
- Es gibt eine Anzeige vom 17. Mai, dass der Tatverdächtige ein 11-jähriges Flüchtlingsmädchen vergewaltigt haben soll. Fünf Tage vor dem angeblichen Mordzeitpunkt an Susanna F. (14). Was hat die Polizei hier unternommen beziehungsweise unterlassen?
- Wieso stand der Tatverdächtige nicht im Fokus der Ermittlungen, nur weil es vier Alis in der Unterkunft gab? Meinen die Ermittlungsbehörden das ernst oder interessiert halt so ein Flüchtlingsmädchen nicht so sehr im deutschen Rechtsstaat? Welche Ermittlungsergebnisse gibt es seither in dieser Causa?
- Welche Bedeutung hat ein angebliches Geständnis des Tatverdächtigen im Irak (unserer Meinung nach keine)?
Dubiose Zeugen
Wir wissen aktuell noch überhaupt nichts über die Auswertung von Computern und Mobiltelefonen. Auch nichts über die “Kenn-Beziehung” zu einem jüngeren Bruder des Tatverdächtigen.
Vollständig dubios sind die Zeugenangaben vom 29. Mai und 03. Juni. Eine “Bekannte” der Susanna F. soll der Mutter mitgeteilt haben, dass ihre Tochter tot sei, die Polizei konnte aber keinen Kontakt herstellen? Und ein “13-jähriger Flüchtling” meldet sich dann bei der Polizei, als Ali B. bereits im Irak ist, um mitzuteilen, er sei der Täter?
Ich habe als Journalist mit nahezu 30 Jahren Berufserfahrung schon viel erlebt, aber noch nie so viele Absurditäten wie in diesem Fall.
Möglicherweise liege ich falsch – davon gehe ich immer aus, um immer wieder Fakten zu checken – aber hier ist noch “jede Menge Musik” drin, das ist alles so ungereimt und abenteuerlich, dass es einem die Sprache verschlägt. Mein journalistischer Instinkt sagt mir, dass wir noch weit, weit weg von den wahrhaftigen Fakten sind.
Schuldig per Verdacht ist nicht rechtsstaatlich
Damit Sie das richtig verstehen – ich schreibe immer, wie das der rechtsstaatliche und journalistische Anstand gebietet, von mutmaßlich oder verdächtig. Denn bis zu einem rechtsstaatlichen Urteil gilt die Unschuldsvermutung – auch für Asylbewerber und auch dann, wenn alles scheinbar vollständig klar erscheint.
Und ich weiß selbst, wovon ich rede, seit ich seit Ende März selbst ein Tatverdächtiger bin, wenn auch aus anderen Gründen. Mein “Verbrechen” ist, dass ich verantwortlich für die Veröffentlichung eines fiktiven Terroranschlags bin, mit dem ich auf Fake News, Falschmeldungen, falsche Verdächtigungen und unzureichende Medienberichterstattung wie ein völlig unzureichendes Sicherheitskonzept aufmerksam machen wollte. Die Methode kann man kritisch sehen, sogar völlig daneben finden, Tatsache ist, dass ich unmittelbar tatverdächtig wurde, die “öffentliche Ordnung” zu stören, in dem wir einen fiktionalen Text über ein völlig öffentliches Chaos veröffentlicht haben. Glauben Sie nicht? Ist Fakt.
Man wird schnell schon auf Verdacht schuldig gesprochen – von Medien, von der Allgemeinheit. Mit Rechtsstaatlichkeit, die jeder hochhält, hat das nichts zu tun. “Schuldig per Verdacht” ist nicht rechtsstaatlich, sondern das Gegenteil.
Rachegefühle sind nachvollziehbar – aber letztlich falsch
Vollständig widerlich empfinde ich Beiträge in sozialen Netzwerken, die dem Tatverdächtigen ein Todesurteil im Irak wünschen. Das Todesurteil ist in Deutschland abgeschafft und alle, die sich Tod und Folter für tatsächlich schuldige Täter wünschen, haben nicht ansatzweise verstanden, dass ein freiheitlich-demokratischer Staat als höchste Strafe den Entzug der Freiheit verhängt und sich nicht zum Richter über Leben und Tod macht, denn damit steht man auf derselben Stufe wie Mörder.
Rachegelüste kann ich als menschliches Gefühl verstehen, bei allen, die es nicht schaffen, sich darüber hinwegzusetzen. Ich kann sogar in bestimmten Fällen nachvollziehen, dass Rache konsequent ausgeübt wird. Doch dann ist das eine Straftat, die der Staat zurecht sühnt. Wer sich auf Rache einlässt, wird von Rache beherrscht – immer und ohne Ende. Deshalb ist Rache keine Lösung.
Aktuell gibt es einen Tatverdächtigen. Ob er alleine oder in Tateinheit mit anderen tatsächlich schuldig ist, müssen die Ermittlungen, die Anklage und die Verurteilung ergeben. Ob er 20 Jahre alt ist und damit unter Jugendstrafrecht fällt oder nicht, ist ebenfalls offen.
Wir halten uns an verifizierbare Fakten und stellen alles andere in Zweifel. Das ist unser Job.
Denken Sie drüber nach. Teilen Sie diesen Artikel – diskutieren Sie.
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