Rhein-Neckar/Dresden/Stuttgart, 11. Juni 2018. (red/ps) Der deutschen Gesellschaft mangelt es erheblich an Medienkompetenz und vor allem an Nachrichtenkompetenz – betrachtet man die Ergebnisse einer Studie der Technischen Universität Dresden. Denn insbesondere künftige Lehrer, also Menschen, deren Beruf es ist, Wissen an junge Menschen zu vermitteln, zeigen eine auffällige Nachrichteninkompetenz. Gepaart mit desolaten Lehrplänen. Die Autorin Petra Sorge hat dazu Prof. Dr. Lutz Hagen befragt – die Inhalte des Interviews sind erschütternd. Medien- und Nachrichtenkompetenz sind entscheidend gesellschaftsrelevant und die Lage ist äußerst kritisch.
Interview: Petra Sorge
Herr Professor Hagen, Sie haben im vergangenen Jahr Lehramtsstudenten gefragt, ob ein Journalist in einer Nachricht explizit seine eigene Meinung äußern darf. 45 Prozent sagten: Ja.
Prof. Dr. Lutz Hagen: Genau. Aber da gibt es ja noch Schlimmeres, zum Beispiel, dass ein Drittel der Meinung ist, Journalisten bräuchten eine Lizenz, ein weiteres Drittel sagte: „Weiß nicht“…
Lizenzen? Genehmigungen? Systemjournalismus?
…und 42 Prozent der angehenden Lehrer wussten nicht, dass ein Journalist keine Genehmigung braucht, wenn er einen Bericht über einen Minister veröffentlichen will.
Hagen: Nicht einmal die Hälfte konnte die politische Linie der überregionalen Zeitungen korrekt einordnen: Sie glaubten, dass die Süddeutsche Zeitung konservativ oder die Welt links sei. Das ist schon traurig. Und das liegt auch daran, dass sich in den politischen Vorgaben – also den Lehrplänen, den Dokumenten der Kultusministerkonferenz (KMK) und in den Studiendokumenten für die Lehramtsstudenten – sehr wenige Bezüge zur Nachrichtenkompetenz finden.
Was verstehen Sie unter Nachrichtenkompetenz?
Hagen: Das sind Fähigkeiten, die Journalisten traditionell für Ihren Beruf brauchen, die aber durch den Wandel der Öffentlichkeit inzwischen für alle relevant geworden sind: Woran erkenne ich Fake News? Welchen Nachrichtenquellen kann ich trauen? Wie kommt die Nachricht in meinen Newsfeed? Allgemein sind das Fähigkeiten, Nachrichtenmedien und ihre journalistische Inhalte zu verstehen, kritisch beurteilen und für die eigenen Zwecke sinnvoll und effektiv nutzen zu können.
Fehlende Nachrichtenkompetenz führt zu einem Fest der Fake News
Sie sagen, dass Nachrichtenkompetenz heute für alle relevant sei. War es denn vor dem Internet nicht so relevant?
Hagen: Natürlich hat es immer Sinn gemacht, wenn man die Qualität einer Information beurteilen kann. Aber vor 30 Jahren waren Nachrichtenmedien durchweg Medien, und man wurde nicht mit Meldungen ganz unterschiedlicher Herkunft im Newsfeed überflutet. Auch gab es kaum die Möglichkeit, dass einzelne Personen als Amateur-Kommunikatoren in der Öffentlichkeit stehen und sich darüber Gedanken machen müssen, wer diese Kommunikation aufgreift.
Wohin führt es, wenn eine Gesellschaft die Nachrichtenkompetenz verliert?
Hagen: Das führt dahin, dass Fake News fröhliche Urstände feiern und die Leute echte Nachrichten von Fake News nicht mehr unterscheiden können. Es ist ein großes Problem, wenn Personen wie Donald Trump durchkommen mit Falschaussagen und Lügen und Leute das für bare Münze nehmen. Wenn Leute die Qualität von nachrichtlicher Information nicht mehr sicher beurteilen, dann wird gute Informationsqualität nicht mehr angemessen entlohnt und Journalismus wird unterfinanziert.
Medienkompetenz muss Nachrichtenkompetenz sein
Was muss sich ändern?
Hagen: In den Vorgaben der Länder und der KMK wird ganz viel von „Medienkompetenz“ gesprochen. Aber den Politikern scheint nicht hinreichend klar zu sein, dass dieser Begriff auch Nachrichtenkompetenz umfasst. Stattdessen fokussiert man auf technische Aspekte. Das Internet ist ja zunächst einmal ein technisches Medium, weshalb Medienkompetenz auch Aspekte wie Bedienfähigkeit, Datenschutz oder Schutz vor Mobbing im Netz umfasst. Aber dazu gehören nicht nur technische Fertigkeiten. Es geht nicht nur darum, hier lauter kleine Bill Gates und Mark Zuckerbergs zu produzieren. Wir müssen inhaltlich denken und an die öffentliche Aufgabe, die Informationsmedien haben, um das Funktionieren der Demokratie zu gewährleisten. Das gilt auch für die Lehrbücher.
Inwiefern?
Hagen: In den Deutschbüchern, in denen das Thema Medien ganz überwiegend vorkommt, ist Journalismus so eine Art Textkunde. Da werden kurz die Gattungen Nachricht, Reportage, Kommentar behandelt. Was ganz wenig betrachtet wird, das sind die politischen Aspekte, die öffentliche Aufgabe: Warum haben wir überhaupt Medien? Was ist Binnen-, was ist Außenpluralismus? Das muss viel mehr gelehrt werden. Man könnte auch ein Fach Medien- oder Nachrichtenkunde einführen. Und: Es muss irgendwie auch den späteren Lehrerinnen und Lehrern vermittelt werden.
Veraltetes Bild der Nachrichtenmedien
Aber wenn sie sagen, Medienkompetenz wird eher technisch verstanden – wie erklären Sie sich dann, dass auch die digitalen Medien in den Lehrplänen so unterrepräsentiert sind? 57 Prozent der untersuchten Dokumente beziehen sich auf die Zeitung, aber nur 3 Prozent auf soziale Medien.
Hagen: Die Lehrpläne haben wir ja vor allem im Hinblick auf Nachrichtenkompetenz untersucht. Und da ist es eben so, dass ein veraltetes Bild der Nachrichtenmedien präsentiert wird, das vor allem auf die gedruckte Zeitung fokussiert.
Sie haben sich ja vor allem die politischen Vorgaben angesehen, also: Dokumente. Was gibt es denn jetzt schon für Indizien, dass Schüler Fake News tatsächlich nicht von echten Nachrichten unterscheiden können?
Hagen: Wenn man sieht, welche Kreise Fake News in den sozialen Medien ziehen. Oder: Wir haben 2016 eine Studie für die sächsische Landesmedienanstalt durchgeführt, die erhebliche Defizite unter Schülern aufgedeckt hat. Sie nennen zum Beispiel als vertrauenswürdigste Quelle einfach das Medium, das ihnen am nächsten ist, zum Beispiel Radio PSR oder was man da halt so hört. Nur wenige kommen auf die Idee, Deutschlandfunk oder die Frankfurter Allgemeine zu nennen.
Kohorteneffekt
Kann man da Schlüsse auf die Gesamtbevölkerung ziehen?
Hagen: Ja, in der Tat gibt es keinen Anlass zu vermuten, dass es unter den Erwachsenen grundsätzlich anders ist. Journalistische Kompetenz hat auch früher nicht zum Bildungskanon gehört. Allerdings geht die Nutzung von Nachrichtenmedien im Trend zurück. Das ist ein sogenannter Kohorteneffekt: Jede jüngere Generation liest weniger Nachrichten. Und auch das Pflichtgefühl sich politisch zu engagieren, etwa zur Wahl zu gehen, geht seit Jahrzehnten zurück. Außerdem gibt es schon immer einen sogenannten Lebenszykluseffekt, der darin besteht, dass man sich umso eher mit politischen Nachrichten befasst, je älter man wird. Aus diesen Gründen und weil die Informationsumgebungen der Jüngeren heutzutage komplexer sind, verfügen die Jüngeren vielleicht über weniger Nachrichtenkompetenz, obwohl sie eigentlich mehr davon bräuchten.
Info:
Die Vermittlung von Nachrichtenkompetenz ist im Unterricht kaum vorgesehen. Das ergab die Studie „Nachrichtenkompetenz durch die Schule“ des Instituts für Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden, die im Herbst 2017 vorgestellt wurde. Dafür untersuchten die Forscherinnen Rebecca Renatus und Anja Obermüller unter Leitung von Prof. Dr. Lutz Hagen im Auftrag der Stiftervereinigung der Presse für die Fächer Deutsch, Gemeinschaftskunde, Ethik und Geschichte verschiedene Quellen: die politischen Vorgaben seitens der Kultusministerkonferenz (KMK), die Lehrpläne der Bundesländer (207 Dokumente), Unterrichtsmaterialien in Schulbüchern (361 Bücher), Projektbeschreibungen von Landesmedienanstalten sowie Studienordnungen von Lehramtsstudiengängen (208 Dokumente) mittels einer Inhaltsanalyse. Demnach wird Medienkompetenz zwar in allen Ländern und vor allem im Fach Deutsch thematisiert. Einen speziellen Fokus auf journalistische Angebote und Inhalte gibt es aber nur in 43 Prozent der Lehrpläne. Noch schlechter sah es in den Studienordnungen aus: In lediglich fünf Dokumenten fanden die Forscher einen Bezug zu Nachrichtenmedien. Eine zusätzliche Umfrage unter Lehramtsstudenten ergab zwar eine hohe Wertschätzung von Nachrichten, aber erhebliche Lücken beim faktischen Wissen über die Entstehung von Nachrichten, den Journalismus oder das Funktionieren des Pressesystems. Hier die Präsentation der Studie. (ps)
Dazu haben Sie ja mit den Lehramtsstudenten der Fächer Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde und Ethik bereits eine hoch spezialisierte junge Akademikergruppe befragt.
Hagen: Diese Altersgruppe nutzt ja selbst kaum noch klassische Medien und zieht ihre politischen Nachrichten zunehmend aus sozialen Netzwerken. Wenn ich bei mir in der Vorlesung frage, wer von den Studierenden eine Zeitung abonniert hat, da geht vielleicht jede 30. Hand hoch. Da fehlt zum einen das politische Interesse, zum anderen aber auch diese Selbstverpflichtung, sich politisch zu informieren.
Algorithmen statt Journalismus – Hauptsache umsonst ist ein gesellschaftliches Problem
Aber unterliegen Sie da nicht dem Irrtum, dass, wer keine Tageszeitung abonniert hat, sich nicht mehr politisch informiert? Inzwischen kann ich doch aber so viele Informationen gratis im Netz abrufen, ich würde sogar sagen, man kann sich heute vollumfassend online informieren, oder?
Hagen: Es gibt schon unglaublich viel Information, darunter auch viel qualitativ Hochwertiges, aber wer sortiert das und schlägt den Pfad durch den Informationsdschungel? Jedenfalls zunehmend weniger Journalisten als früher. Stattdessen wählen Algorithmen für uns aus und bestätigen möglicherweise nur unsere Vorurteile. Und klar ist doch auch: Das sind Nachrichten, für die man nichts bezahlt.
Wie sollten denn Journalisten auf die Befunde aus Ihrer Studie reagieren?
Hagen: Natürlich sollten sie Mängel bei der Nachrichtenkompetenz und der schulischen Erziehung dazu thematisieren. Es ist ja in ihrem Interesse, dass journalistische Qualität kompetent beurteilt werden kann. Weil das eben auch bedeutet, dass journalistische Qualität einen Wert hat und dass man damit Geld verdienen kann. Der Journalismus ist durch die kurzfristige Aufmerksamkeitsökonomie immer stärker unter Druck, alles muss immer schneller berichtet werden, es fehlt die Zeit, um sorgfältig zu recherchieren. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Und das hängt auch damit zusammen, dass andere Qualitätskriterien wie beispielsweise Relevanz und Richtigkeit einen zunehmend geringeren Stellenwert genießen.
Baden-Württemberg ist Schlusslicht in Sachen Nachrichtenkompetenz
In Ihrer Studie landete Baden-Württemberg auf dem letzten Platz von 16 Bundesländern: Nicht einmal 19 Prozent der Lehrpläne in Baden-Württemberg griffen das Thema Nachrichtenmedien auf. Wie erklären Sie sich das?
Hagen: Genau das ist auch für uns ganz schwer zu erklären. In der Tat ist Baden-Württemberg das Bundesland, in dem Nachrichtenkompetenz in den Lehrplänen am seltensten vorkommt. In Brandenburg dagegen am häufigsten. Es ist nicht so, dass es bei den Bundesländern eine Systematik nach Größe oder politischer Couleur der Landesregierung gibt. Vielleicht sind die Lehrpläne in Baden-Württemberg im Hinblick auf Nachrichtenkompetenz einfach länger nicht mehr angepasst worden als anderswo.
Was hat sich seit der Veröffentlichung Ihrer Studie im vergangenen Herbst getan?
Viel Resonanz – keine Reaktion
Hagen: Wir haben viel Medienresonanz auch in der überregionalen Presse bekommen.
Aber hat jemand aus den Kultusministerien, Schulbuchverlagen oder von der KMK bei Ihnen angerufen?
Hagen: Nein. Ich habe nur von Journalisten und Wissenschaftlern Anrufe erhalten. Es gibt Kollegen in Österreich, die dort jetzt die Kompetenz von Schülern untersuchen wollen. Und auch wir wollen diesen blinden Fleck unserer Untersuchung noch schließen.
Nachrichtenkompetenz betrifft uns alle
Der da wäre?
Hagen: Wir wollen die Schüler und das Lehrpersonal befragen. Es geht um die faktische Ausprägung der Nachrichtenkompetenz. Genau diese Untersuchung fehlt noch, und da schreiben wir an der TU Dresden gerade einen Förderantrag – wahrscheinlich werden wir als Kontrollgruppe Erwachsene mit reinnehmen. Eine andere Frage ist auch, was die Lehrer tatsächlich im Unterricht machen. Auch das haben wir noch nicht untersucht.
Bräuchte es auch eine Bildungsinitiative für die Gesamtbevölkerung?
Hagen: Das würde ich nicht für verkehrt halten! Nachrichtenkompetenz zu vermitteln und zu thematisieren ist nicht nur eine Aufgabe, die sich an die Jungen richtet. Das betrifft uns alle.
Hinweis der Redaktion:
Dieser Beitrag erscheint in einer Reihe von Artikeln zur Medien- und Nachrichtenkompetenz, die das Rheinneckarblog exklusiv thematisiert. Wir üben immer wieder nachhaltig und belegt “Medienkritik” (unabhängig vom Medium), weil wir das als absolutes Top-Thema seit vielen Jahren ausmachen – auch lokal und regional. Mit “Medien” ist nicht nur klassischer Journalismus gemeint – der ist längst mächtig unter Druck durch soziale Netzwerke und das Internet insgesamt. Wir als “klassisches” Internetmedium, also ein Angebot, das es ohne das Internet nie gegeben hätte, stellen uns den Herausforderungen und der Kritik. Weil niemand am Internet vorbeikommt, ob er/sie es nutzt oder nicht. Das Internet bestimmt Gesellschaften, Politik bis hin in die Privatsphäre. Dieser Beitrag erscheint auch explizit im Rahmen einer vielfachen Kritik an einem bei uns “erfundenen Terroranschlag”, der uns bundesweit teils sehr extreme Kritik eingebracht hat. Die Autorin Petra Sorge wurde explizit von uns beauftragt, sich die Studie der TU Dresden zu widmen, dazu ein Interview zu führen, auf dessen Verlauf wir keinen Einfluss genommen haben und hat mit unserer “Aktion” inhaltlich nichts zu tun. Es grenzt schon an Nötigung, die geschätzte Autorin von irgendwelcher inhaltlicher Nähe zu unserem Text freistellen zu müssen, um mögliche Nachteile für sie auszuschließen. Tatsächlich ist das aber scheinbar notwendig. Wir schätzen die Autorin Petra Sorge als kompetente und zuverlässige Journalistin sehr – wie gut sie ihren Job macht, belegt dieser Text und sehr viele andere wertvolle Arbeiten der Autorin bei anderen Medien.