Rhein-Neckar, 22. April 2015. (red/nw) Die Zahl der Asylbewerber wird in Zukunft weiter steigen. Die Überforderung bei Politikern wächst. Flüchtlingspolitik in Deutschland heißt jetzt schon, vor der Wirklichkeit zu flüchten. Dazu gehört, Probleme auf keinen Fall beim Namen zu nennen. Stattdessen wird ein Begriff verwendet, der rechtfertigen soll, ganze Völkergruppen vorsätzlich abzuschieben. Nicht der “Asylmissbrauch” nimmt zu – sondern die Verunglimpfung von Menschen.
Von Nadja Weber

Nadja Weber (23) ist Volontärin der Tegernseer Stimme und auf “Außenstation” bei uns. Ihre Recherche zeigt: “Asylmissbrauch” ist ein politischer Kampfbegriff, der sich gegen alle Asylbewerber richtet.
51,2 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit. Die Hälfte davon Kinder. 0,24 Prozent all dieser Flüchtlinge stellten 2014 in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Mehr als die Hälfte aller Deutschen sind bereit, diese Menschen aufzunehmen.
Doch verantwortliche Behörden und Politiker sehen sich mit dieser Aufgabe mehr und mehr überfordert. Die Abwehrpolitik der EU nimmt zu. Neben verstärkten Grenzkontrollen und einem undurchdringlichen Verwaltungsdschungel heißt der Kampfbegriff: „Asylmissbrauch“.
Wie die Augsburger Allgemeine Zeitung berichtet, spricht der bayerische Minister Joachim Herrmann (CSU) von einem Skandal und einem:
…tausendfachen Missbrauch des Asylrechts….
Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gegenüber Focus Online:
Der zunehmende Asylmissbrauch ist nicht akzeptabel.
Guido Wolf, CDU-Landtagsabgeordneter und Herausforderer von Winfried Kretschmann (Grüne) in Baden-Württemberg, sagt der Schwäbischen Zeitung:
Wir müssen auch Kante zeigen, dort, wo wir Gefahr laufen, dass das Asylrecht missbraucht wird

Leben in Containern oder Kasernen – das Leben von Asylbewerbern in Deutschland hat nichts mit “Luxus” zu tun, sondern meist nur mit der Sehnsucht, endlich sicher sein zu können.
Was vereint diese Herren? Die vorsätzliche Verunglimpfung ganzer Völkergruppen. Nicht nur das. Durch diesen Kampfbegriff werden Menschen kriminalisiert, die nichts anderes tun, als ein Grundrecht einzufordern. Politiker verwenden das Schlagwort “Asylmissbrauch” als vorsätzliche Rechtfertigung, Völkergruppen aus Deutschland abzuschieben. Menschen, die bedingt durch Krieg, Gewalt, Elend und Hunger eine sichere Zukunft suchen.
Nicht nur diese Politiker nehmen den Begriff des Asylmissbrauches in den Mund. Selbst die Integrationsministerin Baden-Württembergs, Bilkay Öney, spricht von der „Verhinderung von Asyl-Missbrauch“ (Stuttgarter Zeitung). Sie warnt davor, die deutschen Bürger zu überlasten:
Sie mögen es nicht, wenn das Asylrecht missbraucht wird.
Überlastet sind wohl an erster Stelle die Politiker.
Was steckt hinter dem propagandistischen Begriff? Unsere Recherche erweist sich als mühsam und langwierig. Behörden geben nur spärlich Informationen heraus. Das Ergebnis? Diesen Begriff gibt es nicht! Keine Definition, keine Erklärung, keine Zahlen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bestätigt:
Der Begriff „Asylmissbrauch“ ist kein gesetzlich definierter, sondern ein umgangssprachlicher Begriff. Daher gibt es hierzu keine statistischen Daten.
Wir erinnern uns: “tausendfacher Missbrauch” heißt es aus der Politik? Woher wissen diese Politiker das, wenn es überhaupt keine validen Zahlen gibt?
Selbst juristisch gibt es den Ausdruck “Asylmissbrauch” nicht. In Paragraph 84 des Asylverfahrensgesetz heißt es:
Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einen Ausländer verleitet oder dabei unterstützt, im Asylverfahren vor dem Bundesamt oder im gerichtlichen Verfahren unrichtige oder unvollständige Angaben zu machen, um seine Anerkennung als Asylberechtigter (…) zu ermöglichen.
Die Strafandrohung gilt jedoch ausdrücklich nicht für den Antragsteller. Politiker kriminalisieren jedoch genau diese Gruppe von Menschen mit einem Urteil, über das es nicht einmal nachweisbare Zahlen gibt. Der Mannheimer Rechtsanwalt und Asylrecht-Experte Jörg Schmidt-Rohr hält den Kampfbegriff für “absoluten Quatsch”. Er erklärt:
Die Menschen stellen aus gutem Grund einen Antrag auf Asyl. Damit nehmen sie ein Grundrecht war, dass jedem Menschen zusteht. Der Vorwurf des Missbrauchs ist gewagte Aussage.
Vorurteile verdecken die Realität
Die Vorurteile sind vielfältig. Nicht wenige haben den Eindruck, Deutschland werde regelrecht von Migranten überrannt. Doch Statistiken belegen: Diese Annahme ist falsch. In der EU liegt Deutschland seit Jahren mit der Zahl der Asylbewerber im Mittelfeld. Berücksichtigt man die Einwohnerzahl, lag Deutschland im Jahr 2013 mit 16 Asylanträgen pro zehntausend Einwohner auf Platz neun der EU-Mitgliedsstaaten.

Deutschland braucht Zuwanderung – weshalb man Asylbewerber kriminalisiert, ist vollkommen unverständlich. Sehr viele sind Kinder und die lassen sich am einfachsten integrieren.
In konservativen bis rechtsradikalen Lagern heißt es: “Wir können doch nicht die Probleme der ganzen Welt lösen!” Lösen vielleicht nicht, sich aber für Lösungsansätze einzubringen, sollte in unserer Verantwortung liegen. Dabei wird gerne ausgeblendet, dass die EU-Politik mitverantwortlich für die Situation in den Flüchtlingsländern ist. Durch Handelsabkommen mit Dritte-Welt-Ländern berauben wir sie ihrer Ressourcen. Die Menschen dort verlieren die Möglichkeit, sich eine Lebensgrundlage zu schaffen. Hinzu kommen politische und religiöse Verfolgung sowie Bürgerkriege oder Terrorismus.
Der Teufelskreis dreht sich weiter. Als eines der reichsten Länder der Welt ist Deutschland ein durchaus “attraktives” Ziel vieler Flüchtlinge. Doch die Politik zeigt sich mit Organisation, Verwaltung und Koordination der Asylbewerber überfordert.
Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr 25.673 Flüchtlinge aufgenommen. Im Vergleich zum Vorjahr sind das 85 Prozent mehr. Die neuesten Statistiken belegen, dass allein im Januar 2015 insgesamt 3.695 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg kamen. Davon rund 1.000 Menschen aus dem Kosovo – von hier kamen in den vergangenen Monaten in großen Schüben Menschen, was wohl aber wieder nachlässt, da bekannt wird, dass die meisten wieder abgeschoben werden. Insgesamt muss Baden-Württemberg in diesem Jahr mit gut 40.000 neuen Asylbewerbern rechnen.
Bei Politikern und Behörden wächst die Überforderung, bei den Deutschen die Skepsis. 19 Überfälle gab es in Baden-Württemberg auf Flüchtlingseinrichtungen. Davon neun Demonstrationen, zwei Körperverletzungen und sogar zwei Brandstiftungen, zählt der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg auf.
Anm. d. Red.: Naja Weber ist Volontärin der Tegernseer Stimme – sie ist für zwei Wochen auf Außenstation bei uns zu Gast, während unser Volontär Minh Schredle bei der TS mitarbeitet.