Hemsbach/Rhein-Neckar, 28. August 2015. (red/sl) Ekelerregende hygienische Zustände in Schwetzingens Container-Ghetto, Tumulte auf Franklin wegen Nichtigkeiten und regelmäßige Ausschreitung im Heidelberger Patrick-Henry-Village – die Unterbringung von Asylsuchenden läuft vielerorts nicht unbedingt reibungslos ab. Auch in Hemsbach ist die Ausgangslage alles andere als ideal. Und trotzdem gelingt das Zusammenleben hier deutlich besser als in vielen anderen Ortschaften. Woran liegt das? Wir haben uns angeschaut, was man dort anders macht.
Von Sandra Ludwig
Schon auf der Zufahrt hört man laute Musik und Kindergeschrei. Draußen sitzen einige Bewohner, unterhalten sich und beobachten das Kommen und Gehen. Es ist Sozialsprechstunde und das ganze Wohnheim scheint auf den Beinen.
Der Luisenhof, früher ein rustikales Hotel und dann Seniorenwohnheim, liegt weit außerhalb der Ortschaft Hemsbach an der Bundesstraße. Das Altersheim hat Anfang 2014 seine Zulassung wegen Brandschutzmängeln verloren. Im November 2014 mietete der Landkreis Rhein-Neckar das leerstehende Gebäude für die Unterbringung von Flüchtlingen an. Rund 80 Menschen leben hier.
Das Innere des Luisenhofs ist alles andere als großzügig geschnitten, die Luft ist stickig. Im Flur müssen sich die Bewohner geradezu aneinander vorbei quetschen. Doch trotz dieser Umstände ist die Arbeit mit Asylsuchenden in Hemsbach ein Erfolg und gelingt deutlich besser als im Vergleich zu vielen anderen komfortableren Unterkünften.
Das liegt hauptsächlich am Engagement der Haupt- und Ehrenamtlichen der Stadt und an einer hervorragenden Organisationsstruktur. Viel Verdienst daran trägt Thomas Pohl. Er ist der Leiter des Ordnungsamts der Stadt und Flüchtlingsbeauftragter. Und er erfüllt seinen Beruf mit großem privaten Einsatz. Der Beamte hat sein Handwerk, Verwaltung, von der Picke auf gelernt – doch er verwaltet nicht nur, er setzt sich auch persönlich ein. Das ist es, was den Unterschied ausmacht.
“Wir kümmern uns”
Ein Rundgang mit ihm zeigt, was in Hemsbach anders läuft, erfolgreicher läuft. Schon vor der Tür grüßen die Bewohner ihn freundlich, Herr Pohl ist sofort im Gespräch. Im Erdgeschoss, wo die Asylsuchenden für die wöchentliche Sozialsprechstunde anstehen, kommt man mit Fragen auf ihn zu. Bei vielen Menschen erkundigt sich Herr Pohl selbst:
Hat das mit der Bankkarte funktioniert?,
fragt er eine junge Nigerianerin. Ein paar Probleme hat sie noch – den richtigen Umgang mit so einer Karte hat der jungen Frau zuvor offenbar niemand richtig erklärt. Zuerst ist sie ganz aufgebracht. Herr Pohl schafft es, sie zu beruhigen: “Wir kümmern uns”, verspricht er.
Man merkt, dass Herr Pohl die verschiedenen Hintergründe der Bewohner kennt. Während seiner Runde durch die vier Stockwerke nimmt er sich Zeit; er macht sich Notizen, hakt nach, erkundigt sich nach den Anliegen der Menschen. Er hört zu. Zugewandt und aufgeschlossen.
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Thomas Pohl bildet die Schnittstelle zwischen Stadt, Landkreis, Ehrenamtlichen und Flüchtlingen und er nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Vertreter der Stadt Hemsbach wehren sich zwar dagegen, zur Vorzeigekommune im Umgang mit Asylsuchenden stilisiert zu werden – aus Sorge, dass es hier zu einem “wie-geht-das-gut”-Medienzirkus werden könnte. Aber sie haben sich frühzeitig mit der Flüchtlingsaufnahme und ihren Konsequenzen auseinandergesetzt.
Und möglicherweise müssen die Hemsbacher auch auch den Medienzirkus ertragen und managen, denn in vielen Orten läuft es nicht gut und positive Beispiele sind rar. Das große Problem: In 90 Sekunden TV oder 80 Zeilen Zeitung lässt sich nicht erzählen, was besonders ist.
Für den Hemsbacher Bürgermeister Jürgen Kirchner war von Anfang an wichtig, Willkommenskultur zu leben. Die Organisation von Ehrenamtlichen und ein direktes Herantreten an die Flüchtlinge stehen für ihn im Mittelpunkt. Außerdem bringt Jürgen Kirchner Einiges an Erfahrung mit: seine Diplomarbeit in Sozialpädagogik schrieb er zum Thema Asyl am Beispiel der Gemeinde Hemsbach. Er arbeitete bereits in den 1990er Jahren in der Stadtverwaltung, als Hemsbach Bürgerkriegsflüchtlinge vom Balkan aufnahm.
Enge Beziehungen
Kurz nachdem die Stadt vom Kreis im Oktober 2014 von der Zuweisung von Asylsuchenden erfuhr, setzte sich die Verwaltung mit Kirchen und sozialen Vereinen in Verbindung. Zusammen planten sie eine gemeinsame Struktur für die ehrenamtliche Arbeit. So entstand die Arbeitsgruppe „Bürgerschaftliches Integrationsprojekt“ (BIP). Das Projekt koordiniert die Arbeit der Ehrenamtlichen. Zum Beispiel Hausaufgabenhilfe, Unterstützung bei Behördengängen oder Kinderbetreuung. Vertreter der Stadt in der Arbeitsgruppe ist Thomas Pohl.
Abgesehen von der direkten Unterstützung informieren sich die Ehrenamtlichen über die Situationen und Rechte von Flüchtlingen: sie arbeiten sich in behördliche Anforderungen und Abläufe, aber auch Berichte des UNHCR oder Amnesty International ein. Für die Ehrenamtlichen findet regelmäßig ein Plenum statt, vier Sprecher vertreten sie.
Außerdem gibt es beim BIP ein offenes Ohr für die Sorgen und Probleme der Helferinnen und Helfer. Durch die nötige Empathie und die Nähe zu den Asylsuchenden sind die Ehrenamtlichen auch persönlich betroffen, wenn Anträge abgelehnt werden. Das BIP fängt sie in solchen Fällen auf.
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Wie nah sich die Flüchtlinge und Ehrenamtlichen in Hemsbach kommen, sieht man auch an Marlies Flotho. Die Ehrenamtliche hat mal wieder ihre Kisten voller Spielsachen mitgebracht und im ehemaligen Restaurant des Luisenhofs herrscht eine ausgelassene Stimmung. An einem Tisch bauen Kinder Lego, daneben malen ein paar Jungs. Laufend knuffen sie sich und kommentieren ihre Bilder gegenseitig.
Mittendrin liest Marlies Flotho Unterlagen. Sie ist verärgert – der Kreis fordert von einigen Flüchtlingsfamilien Gebühren für eine Kinderbetreuung außerhalb des Flüchtlingsheims. „Die Leute habe hohe Rechnungen erhalten und waren natürlich geschockt,“ berichtet sie. Frau Flotho hat aber schon Ideen, wie sich das finanzieren lässt. Sie will ihre Beziehungen zu einem kirchlichen Träger nutzen.
Bemerkenswerte Erfolge
Die Hemsbacher Strategie des direkten Anpackens geht auf. Die Deutschkurse für erwachsene Asylsuchende liefen schnell an und Ehrenamtliche unterstützen ihre Lernbemühungen. Das zuständige Arbeitsamt lobte die Stadt bereits.
Was Ihre Bewohner in neun Monaten gelernt haben, ist in anderen Orten der Stand nach zwei Jahren, haben die uns gesagt
berichtet Herr Pohl stolz. Entsprechend ist unter den Bewohnern des Flüchtlingsheims eine hohe Bereitschaft vorhanden, Deutsch zu sprechen – auch das fördert eine Begegnungskultur zwischen Bevölkerung und Hilfesuchenden. “Wir fühlen uns hier sehr wohl und sind den Menschen von Hemsbach für ihre Mühe und Offenheit dankbar“, sagt ein junger Gambier.
Gemeinsames Lernen
Die Flüchtlingskinder werden in Hemsbach schrittweise an die Schule herangeführt. Erst machen sie bei pädagogischen Spielen mit – oft ist das notwendig, um traumatische Erlebnisse zu überwinden. Gleichzeitig werden sie so auf den Kindergarten vorbereitet. Danach geht es in die Schule – und zwar nicht in einen separaten Unterricht, sondern gemeinsam mit den Hemsbacher Kindern. Bürgermeister Kirchner sagt dazu:
Es gibt zwar durchaus auch frustrierende Momente, aber wenn alle mit anpacken, kann es funktionieren.
Das Engagement der Stadt und der Ehrenamtlichen, die Flüchtlinge ins Hemsbacher Gemeindeleben zu integrieren, wird dankbar angenommen. Im örtlichen Fußballverein spielen mittlerweile vier gambische Männer mit – übrigens sehr erfolgreich. Auch beim Stadtlauf nahmen Heimbewohner teil. Auf Einladung des SPD-Abgeordneten Gerhard Kleinböck besuchten einige von ihnen den Landtag und verfolgten eine Sitzung mit großem Interesse.
Die Heimbewohner sind neugierig, wie das Leben in Deutschland funktioniert und wie man sich angemessen verhält. Für die gambischen Flüchtlinge hat Herr Pohl eine besondere Strategie entwickelt. Kommt es zu Problemen, tagt das “Parlament”: die alleinstehenden jungen Gambier diskutieren in der Gruppe, ob ein bestimmtes Verhalten angemessen ist, was falsch gelaufen ist und wie man mit einer Situation umgehen soll.
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Beim Besuch im Wohnheim fällt auf, wie achtsam einem die Bewohner die Hand geben, begleitet von einem direkten Blick in die Augen. Herr Pohl hat den Menschen die Bedeutung des Händedrucks in Deutschland erklärt. In Gambia hingegen blickt man den Anderen bei der Begrüßung aus Respekt nicht direkt an. “Es ist so viel Lernbereitschaft und Integrationswille vorhanden”, berichtet er.
Herr Pohl ist begeistert von dieser Lernbereitschaft. Verständnislos schüttelt er den Kopf: “Diese Leute sollen eine Bedrohung für Deutschland sein?”, fragt er. Damit bezieht er sich auch auf den viel zu oft unreflektierten Sprachgebrauch in der Asyldebatte, der hilfesuchende Menschen zu bedrohlichen Naturkatastrophen stilisiert – der “Flüchtlingsstrom”, die “Flüchtlingswelle”, die “Asylflut”.
Verpasste Chancen
Die Integration von Asylsuchenden könnte die in Deutschland wachsende Überalterung abfedern und den Fachkräftemangel ausgleichen. Dennoch – der unsachliche Ton der Asyldebatte und der Fokus auf die Probleme der Zuwanderung verstellen den Blick auf die immensen Chancen, die sich aus ihr ergeben.
Das Beispiel Hemsbach zeigt: mit Engagement von Seiten der Bürokratie und der Zivilgesellschaft, die die Menschen im Blick haben – und nicht einen weiteren Verwaltungsvorgang – können Asylsuchende ihr Potenzial nutzen und sich positiv in die deutsche Gesellschaft einbringen.
Im Obergeschoss, das von jungen gambischen Männern bewohnt wird, bleibt Herr Pohl eine Weile. Zwei Ehrenamtliche helfen Bewohnern beim Lesen von Briefen der Behörden. Drum herum plaudern Afrikaner und necken sich kameradschaftlich, in einer Ecke findet ein lebhafter Wettkampf im Armdrücken statt. Immer wieder hört man den Ausruf “Wunderbar, wunderbar!” Herr Pohl – mal ganz für sich allein – beobachtet die Runde. Er sieht zufrieden aus – und auch ein wenig stolz.