Frankenthal, 27. Januar 2017. (red/cr) Im Frankenthaler Mordprozess haben am vergangenen Donnerstag die Mutter und die Schwester der Mutter des getöteten Babys ausgesagt. Erst nach zwei Jahren Beziehung zum Angeklagten voller Gewalt hatte sich die Nebenklägerin ihrer Familie anvertraut. Als die helfen wollte, kam die Hilfe zu spät. Hätten sie früher einschreiten können?
Von Christin Rudolph
Warum hat die Familie so lange nichts gemerkt? Und als sie Bescheid wusste, nichts sofort gehandelt?
Vor allem um diese Fragen drehte sich der Prozesstag am vergangenen Donnerstag.
Im Fall des im Mai 2016 getöteten Babys geht es nicht nur um Mord, Körperverletzungen und Geiselnahme – die Tatbestände der Anklage. Nach Aussagen der Nebenklägerin, der Mutter des getöteten Kindes, gingen der Tat zwei Jahre Beziehung voller Gewalt voraus.
Schwester der jungen Mutter sagte aus
Am vergangenen Donnerstag sagten die 18-jährige Schwester und die Mutter der Nebenklägerin aus. Bei den Fragen der Juristen ging es vor allem um das Verhältnis der Zeuginnen zum Angeklagten David L. und darum, wie viel sie wann von den Misshandlungen wussten. Was sie dagegen getan haben – oder auch nicht.
Es war ein hochemotionaler Verhandlungstag begleitet von Schluchzen und Schniefen der Familienmitglieder der jungen Mutter und im Publikum. Die Nebenklägerin Jesmira S. hörte sichtlich angespannt die Aussagen ihrer Mutter und ihrer Schwester.
Die zweitälteste von vier Schwestern, Vanessa S., trägt ebenso wie weitere Familienmitglieder einen Pullover mit einem Foto des getöteten Babys und der Aufschrift “Unser Engel S. ist immer mit uns” (Anm. d. Red.: Name von der Redaktion gekürzt). Sie sagte aus, die blauen Flecken an ihrer älteren Schwester habe sie gesehen. Sie habe David L. darauf ansprechen wollen. Doch ihre Schwester Jesmira S. habe sie panisch gebeten, das nicht zu machen.
Späte Offenbarung
Anvertraut habe sich Jesmira S. ihr aber erst etwa drei Wochen vor der Tat. Der Grund: Angst, dass David L. seine Drohung wahr werden lassen könnte und ihre Familie umbringen würde.
Vanessa S. wirkte ergriffen als sie zugab, dass sie selbst und ihre Familie bis wenige Wochen vor der Tat kaum etwas über die Misshandlungen wussten. Kontakt zu ihrer Schwester habe sie häufig gehabt. Der Angeklagte habe sich vor ihrer Familie immer verstellt – er soll sehr nett gewirkt haben.
Als Vanessa S. erzählte, wie sie vom Tod ihrer zwei Monate alten Nichte erfahren habe, brachen sie und ihre ältere Schwester in Tränen aus.
Wir haben heute einen kleinen Menschen verloren,
habe ihr Bruder damals gesagt. Sie habe sofort im Gefühl gehabt, so die Zeugin, dass der Todesfall etwas mit David L. zu tun habe:
Weil David ein Psychopath ist.
David L. selbst ließ der Gefühlsausbruch nicht kalt – doch was er fühlte, war kaum an seinem Gesichtsausdruck abzulesen. Meist schreibt er während der Verhandlungen Notizen an seinen Verteidiger oder wirkt abwesend. In dem Moment sah er ständig zwischen dem Boden, in Richtung des Zeugenstandes und seiner Ex-Freundin hin und her.
Konflikt zwischen Müttern
Als sich die Zeugin Vanessa S. wieder gefasst hatte, verlieh sie ihrer Trauer ganz anders Ausdruck. Das Leben ihrer Nichte, so die junge Frau, könne mit keiner noch so hohen Strafe wiedergutzumachen sein.
Am 24. Januar hatte der Verteidiger des Angeklagten bereits Jesmira S. zu ihrem Verhältnis zu der Exfrau des Angeklagten gestellt. Zwei Tage später befragte er Vanessa S. ebenfalls dazu.
Die sagte aus, es habe Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrer Schwester und der Ex-Frau von David L. gegeben. Der Kontakt sei schließlich abgebrochen, weil Jesmira S. enttäuscht war, dass die Mutter nicht aussagen will – obwohl eine ihrer Töchter bei der Tat schwer verletzt wurde.
Anonyme Anzeige bleibt vorerst anonym
Wie bereits am vergangenen Verhandlungstag ging die Nebenklägerin in Abwehrhaltung, als es um die Ex-Frau des Angeklagten ging. Auch die Zeugin konnte oder wollte nicht allzu viel dazu sagen. Im Zusammenhang mit einer anonymen Anzeige beim Jugendamt gegen die Ex-Frau des Angeklagten etwa sagte sie:
Eine anonyme Anzeige sollte auch anonym bleiben.
Jesmiar S. hatte am vergangenen Dienstag ausgesagt, die Anzeige nicht aufgegeben zu haben. Nach Aussagen von ihr, ihrer Schwester und ihrer Mutter hatte sie sich regelmäßig liebevoll um die Kinder von David L. gekümmert.
Deren Mutter, die Exfrau von David L., soll außerdem der Familie nach der Tat erzählt haben, dass auch sie während ihrer Beziehung zum Angeklagten von diesem geschlagen worden sein soll.
Fragen zur Vergangenheit
Im weiteren Verlauf der Zeugenaussage fragte der Verteidiger nach einem Vergewaltigungsvorwurf innerhalb der Familie. Vanessa S. fragte, was das mit dem Fall zu tun habe. Sie, ihre Schwester und einige im Publikum wirkten angespannt.
Als die Zeugin schließlich doch von einem acht Jahre zurückliegenden Fall erzählte, bei dem Jesmira S. von einem Verwandten missbraucht worden sein soll, tuschelte diese aufgeregt mit ihrem Anwalt.
Außerdem spielte der Verteidiger auf ein Gerichtsverfahren an, dessen Gegenstand es war, das Jesmira S. ein Auto zerkratzt haben soll. Doch die zwei Jahre jüngere Schwester sagte, davon wisse sie nichts.
Merkwürdige Bilder und Texte
Bei der Befragung wurde Vanessa S. außerdem auf frühere Aussagen gegenüber der Kriminalpolizei angesprochen. Dabei ging es um Profilbilder und Statusmeldungen des Angeklagten auf WhatsApp.
Ob ein Profilbild mit Bezug zu Israel eine Rolle im weiteren Prozess spielen wird, ist noch unklar. Ein Bild hatte jedoch sehr wahrscheinlich einen Bezug zum Fall. Einige Tage vor der Tat soll der Angeklagten ein Gedicht als Profilbild eingestellt haben.
An die Angfangszeilen erinnerte sich die Zeugin: “Es ist passiert, es ist eskaliert, ich habe sie geschlagen”. Dieses Bild könnte möglicherweise als Beweismittel dienen.
Mutter sagte aus
Als zweite Zeugin wurde die Mutter der Nebenklägerin, die 38-Jährige Adelina S.-A.. Sie erinnerte sich an den Verlauf der Beziehung zwischen Jesmira S. und David L. – zumindest an den Teil, den sie mitbekommen hatte. Ihre Tochter habe sich bereits kurz nach Anfang ihrer Liebesbeziehung sehr verändert. Sei verschlossener geworden, “nicht mehr so lebenslustig”.
Zu zweit hätten sie nie etwas unternehmen dürfen, immer sei der Angeklagte, der damalige Freund ihrer Tochter, dabei gewesen. Am Anfang habe sie noch den Ausreden für die blauen Flecken geglaubt. Bei Bissspuren und Kratzern habe ihre Tochter gesagt, das wäre Spaß gewesen. Doch mit der Zeit, so die Zeugin, seien ihr Zweifel gekommen.
Zu David L. habe sie lange ein gutes Verhältnis gehabt. Adelina S.-A. sagte sogar, sie habe ihn und seine Kinder in ihre eigene Familie aufgenommen. Dabei brach sie in Tränen aus. David L. hingegen bleib wie immer undurchsichtig und redete mit seinem Verteidiger.
Zwei Jahre voller Vermutungen
Der Angeklagte sei, so die Zeugin weiter, immer respektvoll mit ihr umgegangen. Etwa zwei bis drei Monate vor der Tat jedoch habe sie gespürt, dass er sie hasse. Aggressiv erlebt habe sie den Angeklagten nur ein einziges Mal in zwei Jahren.
Nämlich etwa drei Wochen vor der Tat, als sie zusammen mit ihren zwei jüngsten Töchtern auf ihr Enkelkind in der gemeinsamen Wohnung von David L. und Jesmira S. aufgepasst hatte.
Der Angeklagte habe sich damals aggressiv verhalten und habe herumgeschrien. Darauf und auf die Verletzungen der Tochter habe die Zeugin David L. nie angesprochen. Aus Angst vor seiner Reaktion, wie Adelina S.-A. sagte. Hier wurde sehr genau nachgefragt. Auch, wann sie was wusste.
Ungenaue Fluchtpläne
Als die Tochter sich ihr schließlich etwa zwei bis drei Wochen vor der Tat anvertraute, hätte sie sofort versucht zu helfen, so die Zeugin. Zum einen hätte sie bei einem Frauenhaus angerufen und gefragt, wie ernst die Morddrohungen des Angeklagten gegen die Familie zu nehmen sind.
Dort hätte sie die Antwort bekommen, man müss durchaus mit der Ausführung der Drohung rechnen – hätte sich Jesmira S. also tatsächlich von David L. getrennt, wäre ihre Familie möglicherweise in Lebensgefahr gewesen.
Wirklich konkrete Pläne schien die Familie für diesen Fall jedoch nicht zu haben. Adelina S.-A. sagte aus, sie wäre erst einmal mit ihrer Tochter zu einer Verwandten geflüchtet und hätte sich dann darüber Gedanken gemacht. Was genau der Rest ihrer Familie, ihr Mann und ihre anderen vier Kinder solange machen sollten, wurde nicht ausgeführt. Sie habe mit ihrer Familie darüber gesprochen, so die Aussage.
Widerspruch in der Aussage?
Vanessa S. hatte dazu ausgesagt, sie wäre einfach davon ausgegangen, dass man die Polizei eingeschaltet hätte, sobald Jesmira in Sicherheit gewesen wäre.
Die Trennung betreffend wurde also etwa drei Wochen lang geplant und abgewartet. Die übereinstimmende Begründung der Zeuginnen: Es habe unbedingt ein Tag abgewartet werden müssen, an dem der Angeklagte nicht zuhause ist. Um die Konfrontation zu vermeiden.
Im Kontrast dazu steht eine Aussage von Adelina S.-A. im Zusammenhang mit dem Drogenkonsum des Angeklagten. Sie habe zwar irgendwann in den vergangenen zwei Jahren erfahren, dass er früher Drogen genommen hatte. Von einem aktuellen Konsum habe sie aber nichts gewusst – dann hätte sie Hilfe geholt, so die Aussage der Zeugin.
Hilfe kam zu spät
Zu einem weiteren scheinbaren Widerspruch befragte der Sachverständige Dr. Haag die Mutter der Nebenklägerin. Er betrifft die vorherige Beziehung von Jesmira S. Ihre Mutter wollte genauso wenig wie Jesmira S. am zweiten Verhandlungstag bei ihrer Befragung etwas dazu sagen. Adelina S.-A. versuchte der Frage auszuweichen. Schließlich war nicht klar, ob sie die Hintergründe nicht kennt, nicht kannte, oder ob sie einfach nichts dazu sagen wollte.
Im Publikum kam, wie auch vorher bei dem Thema, Unruhe auf. Doch die Antworten der Zeugin bewahrten sie nicht davor, auf unbequeme Fragen antworten zu müssen. In den Akten ist eindeutig festgehalten, dass Jesmiar S. in psychatrischer Behandlung war, weil sie in ihrer früheren Beziehung zu einem Zuhälter für diesen arbeiten musste.
Der Sachverständige Dr. Haag fragte intensiv nach, wie denn die Mutter so lange – fast zwei Jahre – so ein gutes Verhältnis zum Angeklagten hätte haben können, wenn schon die vorherige Beziehung ihrer Tochter so problematisch gewesen war.
Die Zeugin wurde immer aufgebrachter und lauter. Ihre Aussage: Ja, sie habe den Verdacht gehabt, dass David L. Jesmira S. schlägt. Aber die Entscheidung, ob und wann sich ihre Tochter von jemandem trenne, sei ihre eigene.
Hintergrund: Dem Angeklagten David L. (32) wird vorgeworfen, am 14. Mai 2016 seine erst zwei Monate alte Tochter ermordet sowie seine damalige Lebensgefährtin und einen Bekannten schwer verletzt zu haben. Das Kleinkind soll er vom Balkon geworfen haben. Dieses stürzte 7,5 Meter tief, schlug mit dem Kopf auf und verstarb vor Ort an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Auf eine weitere sechs Jahre alte Tochter aus einem anderen Verhältnis soll er mit einem Messer eingestochen haben – das Mädchen überlebte nur durch einen glücklichen Zufall.