Weinheim/Mannheim/Rhein-Neckar, 19. Mai 2014. (red) Zum Kommunalwahlkampf haben die Parteien Spitzenvertreter eingeladen – natürlich hatte das nie etwas mit Wahlkampf zu tun. Deswegen haben wir diese Termine nicht besetzt. Die Linke hat uns ein Gespräch mit dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Dr. Dietmar Bartsch vorgeschlagen – ausdrücklich aus Wahlkampfgründen, das hat uns dann interessiert. Wer schon immer mal wissen wollte, was denn der Marx heute noch für einen Linken bedeutet, was der Unterschied zwischen Kommunismus und Sozialismus ist und wie ein Bundeslinker sich die Zusammenarbeit mit anderen Parteien – auch der CDU- vorstellt, bekommt die Antworten in unserem Interview.

Dr. Dietmar Bartsch (links) im Gespräch mit Hardy Prothmann in den Redaktionsräumen von Rheinneckarblog.de.
Interview: Hardy Prothmann
Wie ist das, wenn man vom Verfassungsschutz beobachtet wird?
Dr. Dietmar Bartsch: Ich wurde seit 1991 und werde seit dem 17. Januar 2013 nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet. Das habe ich schriftlich versichert bekommen. Ich bin jetzt im sogenannten Vertrauensgremium. Das besteht aus neun Abgeordneten und die stellen die Finanzmittel für die Geheimdienste zur Verfügung. Also für den Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und MAD>
Sie wurden aber auch von Verfassungsschutzämtern der Länder beobachtet?
Bartsch: Ja. Es ist schon irre, wenn frei gewählte Parlamentarier vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Es ist allerhöchste Zeit, dass in den Ländern abschließend – und zwar laut – gesagt wird: Es ist beendet. Am besten von den Ministerpräsidenten. Das ist auch hier in Baden-Württemberg noch nicht geschehen.
Was ist denn mit der Beobachtung, gerade in den neuen Ländern, von den gewählten Vertretern der NPD? Darf man die dann trotzdem beobachten?
Bartsch: Ich bin der Auffassung, dass gewählte Vertreter kein Verfassungsschutz und kein Geheimdienst zu überwachen hat. Ich bin der Meinung, die NPD muss verboten werden, nicht beobachtet. Das ist der richtige Weg. Wir haben beim Verbotsverfahren sehen müssen, dass diese Form der Überwachung dazu geführt hat, dass das Verfahren erledigt worden ist. Und das hat im Ergebnis sogar zu einer Stärkung der NPD geführt. Die Partei war schon fast am Ende. Aber mit dem Verfahren und allem drum herum, hat sich die NPD wieder gefunden. Eine Partei kann man verbieten. Aber ihre Abgeordneten zu überwachen – das darf nicht sein.
Wurden Sie auch nachrichtendienstlich beobachtet?
Bartsch: Das kann ich abschließend nicht einschätzen. Aber ich gehe davon aus, dass zumindest von Landesämtern auch die entsprechenden Methoden eingesetzt worden sind.
Wenn Sie versuchen, das aus dem Blickwinkel einer anderen Person zu betrachten: Was könnte denn die Grundlage für so eine Beobachtung sein? In wie weit haben Sie und die Linke eine verfassungsfeindliche Einstellung?
Bartsch: Es gibt keine Grundlage. Punkt. Schon die damalige PDS hat nachgewiesen, dass wir auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Wir haben Stadträte, Bürgermeister, sind in Landesregierungen. Stellen Sie sich mal vor, die Linke wäre an der Regierung beteiligt und beschließt dann, eine andere Partei zu beobachten – der Gedanke ist völlig absurd. Anders herum ist das aber so gewesen. Eigentlich gibt es klare Richtlinien: Wer die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen will, der gehört beobachtet. Dass wir über diese Gesellschaft hinaus wollen, dass der Kapitalismus in dieser Form die grundsätzlichen Probleme der Menschheit nicht lösen kann – davon bin ich fest überzeugt und dazu bekenne ich mich.
Sie wollen aus der Marktwirtschaft raus?
Bartsch: Man ist als Unternehmer gezwungen, dafür zu sorgen, dass man seine Leute bezahlen kann und in die Zukunft investieren kann, damit das Unternehmen lebensfähig ist. Nur mit zunehmender Größe eines Unternehmens, mit der Abkopplung des Produktions- vom Finanzbereich, wird dieser Prozess verschärft. Und ich glaube eben nicht, dass das die Grundlage für eine zukunftsfähige Gesellschaft sein kann. Aber das hat überhaupt nichts mit Verfassungsfeindlichkeit zu tun. Alle einschlägigen Artikel des Grundgesetzes geben das her.
Sind Sie ein Marxist?
Bartsch: Der Genosse Marx hat damals gesagt, er wolle kein Marxist sein. Weil so etwas sogar aus seiner Sicht absurd war. Ich finde es bewundernswert, was Marx an wissenschaftlicher und politischer Leistung vollbracht hat.
Kann man davon heute noch etwas anwenden?
Bartsch: Man kann. Zum Beispiel, wenn man „Das Kapital“ liest, erkennt man darin auch heute noch die Grundlage des gesellschaftlichen Funktionierens. Es gibt andere Bereiche, in denen er unheimlich viel geleistet hat. Aber ob Marxismus dafür ein angebrachter Begriff ist – daran zweifle ich. Ich glaube weiterhin, dass es absurd wäre, wenn jemand der von 1818 bis 1883 gelebt hat, für das Jahr 2014 alle Lösungen parat hätte. Menschen, die das annehmen, sind mir etwas suspekt. Marx hätte das sicher abgelehnt.
Aber man kann von Marx noch etwas lernen?
Bartsch: Man kann von Marx noch eine Menge lernen. Er ist einer der größten Gelehrten, Philosophen und Politökonomen, die Deutschland je hervorgebracht hat. Ich denke auch, das ist unbestritten. Man sollte nicht über ihn reden, sondern ihn lesen. Es gibt sehr viele fragwürdige Interpretationen, sogar Perversionen seiner Aussagen, die im Grunde nicht mehr viel mit seinen eigentlichen Theorien zu tun haben.
Was ist denn der Unterschied zwischen Marxismus und Kommunismus? Gibt es einen?
Bartsch: Der Marxismus will alles erreichen, was der Genosse Marx in seine Theorien aufgestellt hat. Und ein Ergebnis, was von Marx als Ziel angestrebt wurde, ist die klassenlose Gesellschaft – und die ist gemeinhin als Kommunismus bekannt. Inzwischen ist der Begriff Kommunismus ja ein Stück weit zum Schimpfwort verkommen. Hierzulande hat das keinen guten Klang. In anderen Ländern, etwa Italien oder Spanien, ist der Begriff Kommunismus nicht so negativ belegt wie in Deutschland. Hier wird er sofort mit der Teilung Deutschlands assoziiert und dem Mauerbau. Eigentlich verbirgt sich im Wort Kommunismus ja der Gedanke des Gemeineigentums. Ein edler Gedanke, dass es Chancen für alle geben soll. Aber für die Politik heute ist der Ausdruck einfach ungeeignet – die Leute verbinden ihn mit Nordkorea. Aber die Verhältnisse dort haben nicht das Geringste damit zu tun, was Marx angestrebt hat.
Ist Sozialismus ein besserer Begriff?
Bartsch: Wir bekennen uns dazu, eine Partei des demokratischen Sozialismus zu sein. Diesen Begriff finde ich auch durchaus attraktiver. Die Begriffe sind eben unterschiedlich belegt. Wichtig ist aber eigentlich nicht das Wort, sondern unsere Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft sein sollte: Eine Gesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen Voraussetzung für die Freiheit aller ist. Im Moment ist das eine schöne Vision. Visionen sind wichtig, die brauchen wir. Aber genauso bedeutend ist, dass wir uns überlegen, was man heute umsetzen kann. Und da streben wir nach einer solidarischen, sozialen und demokratischen Gesellschaft.
Was ist der Unterschied zwischen sozial und sozialistisch? Wir haben ja zum Beispiel eine soziale Marktwirtschaft…
Bartsch: Nein, haben wir nicht. Sozial ist eine Wirtschaft, die gerecht ist. Sozialismus beruht ja am Ende des Tages auf einer anderen Eigentumsordnung. Sozialismus will die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigen. Das ist der Kern. Für die freie Entfaltung des Einzelnen ist Voraussetzung, dass Ausbeutung beseitigt wurde.
Sie waren in der ehemaligen DDR im Kadersystem fest drin, oder? Sie haben ein herausragendes Abitur abgelegt und hätten sicher Karriere gemacht.
Bartsch: Abitur ist ja noch nicht gleich Mitglied einer Diktatur sein. Ich habe mein Abitur mit ausgezeichnet gemacht und hatte überall eine Eins – das war auch in der DDR besonders. Danach habe ich in Berlin studiert, im Verlag gearbeitet, später eine Aspirantur gemacht. Ich habe erst im vereinten Deutschland promoviert, das war 1990. Ich war zu Zeiten der DDR noch ohne Verantwortung und bin erst nach der Wende zum Chef eines Verlags geworden. Plötzlich hatte ich die Verantwortung für 500 Leute. Dann wurde das zu einer GmbH und wir mussten uns auf die Marktwirtschaft umstellen.
Manchmal gibt es Ärger zwischen Ihnen, Gysi und Lafontaine? Warum?
Bartsch: Ich habe die Neigung, Positionen und Ansichten, von denen ich überzeugt bin, auch beizubehalten. Aber ich neige nicht zu Autoritätsgehabe . Gysi und Lafontaine gehören zu den größten Politikern Deutschlands. Aber deswegen muss man ja nicht alles teilen, was sie sagen.
Wenn man etwas über Sie liest werden Sie gerne als Reformer bezeichnet. Was bedeutet das?
Bartsch: Das weiß ich auch nicht. Diese Begriffe werden einem ja zugeordnet. Ich war auch schon „der Altkommunist“. Andernorts nennt man mich vielleicht anders.
Aber Sie gehen auf die SPD zu…
Bartsch: Ich will, dass die Ziele, die wir haben, umgesetzt werden. Und wenn es dafür Bündnispartner mit gemeinsamen Vorstellungen gibt, kann man mit ihnen zusammen arbeiten.

Wahlkampfauftritt in Weinheim – hier kamen über 30 Bürger, während zeitgleich zur SPD-Veranstaltung weniger als die Hälfte kamen. Links Stadtrat Carsten Labudda, rechts Dr. Dietmar Bartsch.
Gilt das auch für die CDU? Wäre das vorstellbar?
Bartsch: Es geht mir um die Sache. Etwa im kommunalen Bereich gibt es schon Zusammenarbeiten zwischen CDU und der Linken – der Stadtrat Carsten Labudda beispielsweise ist in Weinheim doch oft in konstruktivem Austausch mit CDU-Stadträten. Warum also nicht? Auf Landesebene gibt es leider bisher kaum gemeinsame Nenner. Dabei gibt es genügend gemeinsame Interessen, damit man eine Stadt, ein Land oder auch die Bundesrepublik in eine bestimmte Richtung leiten kann. Da habe ich überhaupt nichts dagegen, mit den Sozialdemokraten zu kooperieren. Es gibt auch in der SPD Personen, mit denen ich meine Probleme habe – aber die gibt es ja überall. Ein erreichbares Ziel nicht anzugehen, weil man auf Prinzipien beharrt – das ist für mich eine absurde Position.
Aber ist die SPD nicht der natürlichste Gegner, den die Linke hat?
Bartsch: Natürlich nicht. Da sollte man zunächst mal aus historischen Gründen vorsichtig sein: Die Spaltung der Arbeiterklassen war eine Voraussetzung dafür, dass sich der Faschismus in Deutschland an die Macht kommen konnte. Dass es manchmal Konflikte zwischen den beiden Parteien gibt, kommt daher, dass es große Überschneidungen in der Wählerschaft gibt. Aber wenn man in einem Land Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie will, dann sind die Sozialdemokraten aus meiner Sicht der erste Bündnispartner. Trotzdem sind wir Wettbewerber. Jeder muss um seine Stimmen kämpfen. Aber politische Gegner sind eher CDU, CSU und FDP. Aber auch mit denen würde ich zusammenarbeiten, da, wo wir ähnliche Ziele hätten. Was ich mir dagegen nicht vorstellen kann, ist jemals mit einer Partei aus dem rechten Spektrum, beispielsweise AfD, zu kooperieren.

Dr. Dietmar Bartsch mit SPD-Stadtrat Wolfgang Metzeltin, der den Kollegen der Linken „außerordentlich“ schätzt.
Wie passt das zusammen: Im Osten ist die Linke besonders stark. Aber ebenso gibt es dort die größten Probleme mit Rechtsradikalismus.
Bartsch: Einen kausalen Zusammenhang sehe ich da nicht.
Den habe ich auch nicht hergestellt. Trotzdem ist das Phänomen so vorhanden.
Bartsch: Ich denke es hat damit zu tun, dass bestimmte Traditionen aus dem Westen so in den neuen Bundesländern nicht vorhanden waren. Es gab dort keine Sozialdemokratie. Auch heute ist sie dort nicht stark. Und die NPD ist dort am stärksten, wo die sozialen Konflikte am größten sind: Nämlich in Vorpommern an der Grenze zu Polen. Dort ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Der Frust ist groß. Und die schieben das dann auf Sündenböcke. Und die NPD bietet schnelle Lösungen an. Das ist ein ernsthaftes Problem, das sich nicht mit ein paar schönen Worten lösen lässt. Da muss vor Ort harte Arbeit geleistet werden. Insbesondere für die jungen Leute müssen attraktive Angebote geschaffen werden. Dann werden die Rechten schlechte Chancen haben. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass die NPD bei der nächsten Wahl auch in Sachsen aus dem Landtag fliegt und bei den Kommunalwahlen im Norden generell deutlich schlechter abschneiden wird.
Hinweis: SWR-Chefreporter Dr. Thomas Leif hat verschiedene Politiker im Vorfeld der Wahlen interviewt
Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Gregor Gysi, sieht in der AfD, die er als „rechte Partei“ beschreibt, durchaus eine ernsthafte Konkurrenz. Er widerspricht aber dem gängigen Klischee, dass es sich um eine „Nazi-Partei“ handele. Und eben darum müsse man sich mit ihr intensiv auseinandersetzen. (Siehe Interview SWR)