Weinheim/Schriesheim/Rhein-Neckar, 29. April 2014. (red) Das Neutralitätsgebot verpflichtet Staatsbedienstete, sich in Wahlkampfzeiten neutral zu verhalten und keine Parteien oder Kandidaten zu begünstigen oder zu benachteiligen. Doch ist das immer “Auslegungssache” und wird im Zweifel leider sehr lax gehandhabt. Das ist bedauerlich, weil sich hier bedenkliche Defizite bei der “Vorbildfunktion” zeigen.
Von Hardy Prothmann
EU-Kommissar Günther Oettinger kommt rein zufällig vor der Europa-Wahl nach Schriesheim. Er wird von Bürgermeister Hansjörg Höfer (Grüne) empfangen, Landrat Stefan Dallinger (CDU) ist vor Ort, dessen Vorgänger Dr.?Jürgen Schütz, MdL Georg Wacker (CDU), Weinheims OB Heiner Bernhard (SPD), Heddesheims Bürgermeister Kessler (parteilos), außerdem Sparkassen-Vorstand Rüdiger Hauser und Volksbank-Vorstand Friedrich Ewald. Worüber wird geredet? Über Europa natürlich.
“Privateinladung”
Und die Zeitungen berichten – natürlich. Und was ist daran jetzt nicht neutral? Immerhin sind doch Politiker von Bündnis90/Die Grünen, SPD und CDU vor Ort. Wo soll also bitte eine Benachteiligung für andere entstehen? Ganz einfach: Sind Politiker von Die Linke, der FDP oder den Freien Wählern oder freien Wahllisten anwesend? Welche Namen werden genannt und welche nicht? Vom “Image-Dropping” profitieren also drei Parteien, flankiert von zwei Geldhäusern. Der Anlass ist “ganz sicher” nicht der Wahlkampf, sondern “angeblich” ein Besuch bei Alt-Bürgermeister Peter Riehl – vermutlich hat sich im ganzen Jahr leider kein anderer Termin finden lassen. Soll man das glauben? Warum war die Presse eingeladen, warum nur ein Teil davon, der genehm ist? Na klar, es ist ja keine “offizielle” Einladung eines Staatsbediensteten oder einer Behörde, sondern “nur” die private Einladung eines Alt-Bürgermeisters. Immerhin – man traf sich nicht in einem Gebäude, das der Stadt Schriesheim gehört. Wenn Herr Oettinger gerne Herrn Riehl besuchen möchte – warum macht er das nicht außerhalb des Wahlkampfs oder sogar ganz privat? Ein berichtenswerter Anlass ist nicht zu erkennen.
Keine grüne Wahlkampfveranstaltung?
In Weinheim war heute der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, zu Gast – in Begleitung der Bundestagsabgeordneten Dr. Franziska Brantner. GAL-Vorsitzender Alexander Boguslawski hatte eingeladen:
11.30 Uhr, Ankunft von Anton Hofreiter und Franziska Brantner am Weinheimer Rathaus, Obertorstraße 9
11.30 Uhr, Empfang beim Ersten Bürgermeister, Dr. Torsten Fetzner (die beiden Gäste werden von einer kleiner Abordnung der Weinheimer Grünen begleitet)
12.30 Uhr, Gemeinsames Mittagessen am Marktplatz (Café Florian)
14.00 Uhr, Besichtigung des neuen ZOB (Transport mit Pkw)
14.30 Uhr, Besichtigung des Neubaugebiets Lützelsachsen Ebene (mit Kindergarten, S-Bahn-Anschluss, Fernwärmeversorgung und kleinem Gaskraftwerk, zusammen mit A. Ernst von den Stadtwerken)
Ende zwischen 15- und 16 UhrWir würden uns freuen, wenn Sie über den Besuch berichten würden. Gern mit Fotograf im Rathaus und/oder an den anderen Besuchsorten. Dies ist keine Wahlkampfveranstaltung der GAL. Wir gegen davon aus, dass die Presse am Besuch eines führenden grünen Bundespolitikers generell interessiert ist.
Soso, keine Wahlkampfveranstaltung also? Was ist der Anlass für Herrn Hofreiter ausgerechnet vier Wochen vor der Wahl einen Besuch in Weinheim zu machen? Gibt es dafür einen nachvollziehbaren Grund? Ist der ZOB so interessant oder das Neubaugebiet, dass ein Parteivorsitzender in Begleitung der Wahlkreis-Bundestagsabgeordneten sich das anschauen muss – begleitet von grünen Lokalpolitikern? Und was soll bitte die Presse darüber berichten – außer, dass die Namen der beteiligten Personen “in die Öffentlichkeit” kommen? Ist eine Wahlkampfveranstaltung keine Wahlkampfveranstaltung, weil man sagt, dass es keine Wahlkampfveranstaltung ist? Wieso kann Herr Hofreiter nicht irgendwann außerhalb des Wahlkampfs kommen? Wieso wird dazu die Presse eingeladen? Was soll die berichten außer Namen? Dass ein Amtsträger wie Dr. Torsten Fetzner (Bündnis90/Die Grünen) auch noch im Rathaus empfängt – keine Verletzung der Neutralitätspflicht?
Städtische Bedienstete plaudern auf keiner SPD-Wahlkampfveranstaltung?
Bei einer SPD-Veranstaltung am Montagabend im Restaurant Alex unter Vorsitz der SPD-Stadträtin Stella Kirgiane-Efremidis mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Dr. Lars Castellucci zu Gast hat sich ein Mitarbeiter des Bauamts ausführlich über seine über zwanzigjährige Amtszeit und seine Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung ausgelassen. Er wurde von mir auf eine mögliche Verletzung des Neutralitätsgebots hingewiesen, was ihn kurz aus dem Konzept brachte, aber nicht weiter beeindruckte. Er setzte seine Ausführungen fort und beteiligte sich an der Diskussion als seit über 20 Jahren Angestellter beim Bauamt. Frau Kirgiane-Efremidis meinte, der Abend sei keine Wahlveranstaltung. Warum hat man dann die Presse dazu eingeladen? Warum kommt der Gast zum Thema Bürgerbeteiligung vier Wochen vor der Wahl? Immerhin – die Räumlichkeiten der Gastronomie sind privat.
Wir fragten deshalb beim Baudezernenten Dr. Torsten Fetzner an:
Sind die Bediensteten und Beamten der Stadt Weinheim über das Neutralitätsgebot informiert?
Wann und in welchem Umfang ist dies geschehen?
Welche Konsequenzen hat ein Verstoß dagegen?
Herr Dr. Fetzner schrieb uns zurück:
Die Bediensteten der Stadt Weinheim sind über das Neutralitätsgebot durch ein Rundschreiben informiert wurden. Wann es genau versandt wurde, müsste ich erfragen. Sie sollen demnach nicht bei Parteiveranstaltungen als Vertreter der Stadt Weinheim auftreten. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an solchen Veranstaltungen als Besucher nicht teilnehmen dürfen. Dieses Grundrecht bleibt unberührt. Nur soll eben kein städtisches Statement auf Parteiveranstaltungen abgegeben werden. In welcher Weise der Mitarbeiter sich in der o.g. Veranstaltung geäußert hat, kann ich nicht beurteilen, da ich selbst nicht teilgenommen habe. Ich hatte heute ein Gespräch mit dem Mitarbeiter und ihn nochmals auf das Neutralitätsgebot hingewiesen.
Kein Vorteile? Keine Nachteile?
Wie glaubwürdig ist ein solcher Hinweis, wenn die “Vorbilder” selbst an zweifelhaften Terminen teilnehmen und zuvor der Partei Die Linke eine explizit so genannte Wahlveranstaltung mit dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Dr. Dietmar Bartsch in einer städtischen Liegenschaft verbieten wollten, um dann festzustellen, dass sie auch schon andere hätten verbieten müssen, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann? Und ist das nicht eine Einladung, das Neutralitätsgebot bis an die Grenze des Erträglichen zu strapazieren? Geht so vorbildhaftes demokratisches Verhalten?
Von Seiten Die Linke schon – sie macht keinen Hehl aus dem Wahlkampf. Sie hat ordentlich angemeldet. Es treten keine sonstigen Würdenträger auf und es plaudern auch keine städtischen Angestellten. Insbesondere kleine Parteien mit klammen Kassen können selten auf (teure) private Orte ausweichen. Warum definiert man keinen Raum, der allen und damit neutral bei Bedarf zur Verfügung steht? Dann wäre auch das geregelt – ordentlich.
Gibt es einen Nachteil für andere Parteien durch das Verhalten der großen Parteien? Selbstverständlich, denn die FDP hat zur Zeit keine Bundestagsabgeordneten und auch keine Landtagsabgeordneten aus dem Wahlkreis, die freien Wähler ebenfalls nicht, freie Wählerlisten sowieso nicht, auch nicht die Piraten oder die AfD. Keine dieser kleinen Parteien kann “Name- oder Image-Dropping” in dieser Art betreiben. Keine dieser Parteien bekommt “bestellte” Presseartikel. Diese Texte sind zwar inhaltlich vollständig ohne Belang – aber die Namen fallen, die wichtigen Funktionen werden genannt und es gibt gestellte Grinsebilder. Bild und Name – das ist klassischer Wahlkampf, zu sehen auf tausenden Wahlplakaten, garniert als “redaktionelle” Berichterstattung. Kein Vorteil erkennbar? Kein Nachteil? Absolut “neutrales” Verhalten von Staatsbediensteten in Liegenschaften der öffentlichen Hand?
Wenn “Demokraten” wie in diesen Fällen keine “äußerste Zurückhaltung” pflegen, sondern durch ihr Agieren den Raum des Zulässigen bis an die äußerste Grenze strapazieren, muss sich niemand der Herrschaften wundern, wenn die Politikverdrossenheit wächst oder anderen Parteien unzufriedene Wähler zulaufen.