Mannheim, 19. Juni 2016. (red/ms) 260.000 Einsätze mussten im vergangenen Jahr vom Polizeipräsidium Mannheim koordiniert werden – im Schnitt sind das mehr als 700 pro Tag. Von der Verkehrsstörung bis zum Tötungsdelikt. Ein riesiger Koordinationsaufwand, eine immense Arbeitslast – und dennoch: Hier, im Führungs- und Lagezentrum, von wo aus die Einsätze geleitet werden, ist von Hektik keine Spur.
Von Minh Schredle
Was als erstes auffällt, ist die Ruhe. Hier, wo im Minutentakt Notrufe eingehen, herrscht fast vollständige Stille. Kein Telefonklingeln. Keine aufgeregten Stimmen. Keine aufblickenden Lichter. Kurzum: Nichts, was ablenken könnte. Nichts, was die Ruhe stört.
Da draußen ist es schon hektisch genug,
erklärt Klaus Pietsch, Polizeioberrat und Leiter des Führungs- und Lagezentrums (FLZ) im Präsidium Mannheim, das für die Sicherheit von fast einer Millionen Menschen im südwestlichen Teil der Metropolregion Rhein-Neckar zuständig ist.
Herr Pietsch erklärt, dass pro Tag zwischen 600 und 1.000 Notrufe eingehen. Um die Einsätze gelungen koordinieren zu können, braucht es vor allem Konzentration:
Früher hatten wir hier noch Lautsprecher und andauernd haben Telefone geläutet. Das war nicht gut – da gab es immer ein Grundrauschen, das hier Unruhe hereingebracht hat. Diese Geräuschkulisse ist jetzt weg.
Heute tragen die Mitarbeiter im FLZ Headsets – wenn Anrufe eingehen, finden die Gespräche höchstens auf Zimmerlautstärke statt. Am anderen Ende des Raumes ist kaum noch etwas zu hören.
Jeder Notruf sei immer eine Stresssituation – zumindest für den Anrufer, sagt Herr Pietsch. Daher sei es umso wichtiger, dass das ganze Team eine „tiefe innere Ruhe“ ausstrahle. So würden sich für beide Seiten die Stressfaktoren minimieren.
Chaos und Ordnung
Steine fliegen, Fensterscheiben sind zertrümmert, Polizisten werden mit Molotow-Cocktails beworfen – Herr Pietsch hat Erfahrung damit, wie Einsätze ablaufen können, wenn alles drunter und drüber geht. Bevor er diesen Mai zurück an das Polizeipräsidium Mannheim zurückkam, war er seit 2008 bei der Bereitschaftspolizei in Bruchsal:
Da habe ich eine Menge erlebt, bundesweit fast alle Riesenevents. Ich war Einsatzleiter beim Papstbesuch und mittendrin bei Ausschreitungen im Hamburger Schanzenviertel.
Immer wieder gab es dabei brenzlige Lagen. Erhebliche Aggressionen – oder auch emotionale Belastungen. „In einem langen Polizistenleben, kommt man in eine Menge Situationen. Für manche braucht man seine Zeit, um sie zu verarbeiten,“ sagt er. Schreckliche Verkehrsunfälle oder Familiendramen, grausame Verletzungen, innere Konflikte.
Permanenter Lernprozess
Immer wieder kann das Unberechenbare eintreten. Eine plötzliche Eskalation. Eine Menschenmenge gerät in Panik – oder politische Gegner provozieren sich und schaukeln sich gegenseitig hoch, bis es zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt.
Nach dem Abpfiff kann man das Ergebnis besser voraussagen.
Herr Pietsch betont immer wieder, dass die Polizei ihre Einsätze immer wieder theoretisch durcharbeitet. Dass im Anschluss Besprechungen stattfinden: Was ist gut gelaufen? Was nicht? Was kam unerwartet? Welche Konstellationen können sich wiederholen? Was hat man für das nächste Mal gelernt? Und trotzdem:
Man kommt an Grenzen antrainierter Abläufe,
sagt Herr Pietsch. Dann ist einmal eine professionelle Distanz wichtig. Aber vor allem darf man den Kopf nicht verlieren. Die Emotionalität nicht Überhand gewinnen lassen. Sondern ruhig und konzentriert analysieren, wie sich Situationen wieder beruhigen oder zumindest entschärfen lassen.
Die Arbeit der Polizei ist permanenter Lernprozess mit ewigem Verbesserungspotenzial. 100-prozentige Sicherheit wird keine Staatsmacht je ihrer Bevölkerung garantieren können. Doch Risiken lassen sich minimieren. Und das fängt bei vermeintlichen Kleinigkeiten an – wie eben Blinklichtern im Führungs- und Lagezentrum (FLZ), die die Konzentration stören können.
Gesellschaft und Technologie verändern sich fortlaufend und mit ihnen die Polizei. Heute ist das FLZ modern und hochgradig spezialisiert. Jeder Arbeitsplatz ist mit vier Flachbildschirmen ausgestattet. Jeder davon zeigt etwas unterschiedliches an: Etwa eine Karte der Region, auf der die verfügbaren Streifenwagen in Echtzeit als Punkte repräsentiert werden; auf einem anderen ist ein Formular angezeigt, mit dem die wesentlichen Details zu einem Einsatz in Sekundenschnelle erfasst werden können: Wer ruft an? Wo und wann ist etwas passiert? Was ist vorgefallen? Wie viele Menschen sind betroffen? Gibt es Verletzte?
Neue Chancen – neue Herausforderungen
„Heute müssen wir keine Ordner mehr durchwälzen“, sagt Herr Pietsch. Die neue Technologie bringe große Vorteile für die Polizei – aber ebenso neue Herausforderungen. Als einfaches Beispiel nennt er Bestellbetrügerei über das Internet. Ein vergleichsweise junges Phänomen. Doch auch bei der Ausbildung der FLZ-Mitarbeiter gebe es heute höhere Hürden:
Die Spezialisierung nimmt zu und damit auch die Anforderungen. Mehr Sachverstand ist nötig, um die Technologie richtig anwenden zu können. Das geht nicht mal eben einfach so. Dafür braucht es besondere Schulungen.
Genaue Absprachen und ein einheitliches Vorgehen haben zentrale Bedeutung. Im Zweifelsfall muss jeder die Arbeit des Kollegen übernehmen können. Die Einsätze im FLZ werden im Schichtbetrieb von fünf eingespielten Teams mit je zwölf Mitarbeitern koordiniert. Die Arbeitstage dauern bis zu elf Stunden. Hält man das überhaupt so lange durch?
Die Konzentration will manchmal abnehmen. Aber sie darf nicht abnehmen,
sagt ein junger Beamter. Es sei manchmal sehr hart, gerade in den frühen Morgenstunden. Aber dennoch müsse man auch um 04:00 Uhr noch genauso in der Lage sein, einen Einsatz so schnell und sorgfältig aufzunehmen, wie zum Schichtbeginn: „Man gewöhnt sich an die Belastung.“
Wenn ein Notruf eingeht, wird die Nummer des Anrufers automatisch erfasst. Über den Funkmast, über den das Gespräch vermittelt wird, lässt sich außerdem die ungefähre Position des Anrufs bestimmen. Nicht auf den Meter genau – aber:
Das kann sehr hilfreich sein. Oft sagen Anrufer nur: „Ich bin in der Mannheimer Straße“ – die gibt es aber in fast jedem Ort in der Umgebung. So sehen wir gleich, ob ein Anruf aus Heddesheim oder Edingen kommt.
Wieder eine vermiedene Rückfrage. Zeitersparnis, die entscheidend sein könnte, Schlimmeres zu verhindern. Die Einsätze werden „nach Wertigkeit priorisiert“. Soll heißen: Wenn ein Streifenwagen bereits auf dem Weg zu einem Einsatzort ist, aber sich in der Zwischenzeit etwas noch Dringlicheres ergeben sollte, können die Polizeibeamten kurzfristig abgezogen werden und den Einsatzort wechseln.
Spezialisten am Werk
Die Mitarbeiter im FLZ vergeben die Aufträge in Eigenregie an verfügbare Einsatzkräfte. Im Zweifelsfall hat der Polizeiführer vom Dienst Weisungsbefugnis. Er ist die „oberste Instanz im Regelbetrieb“ – hält sich normalerweise aber aus dem operativen Betrieb heraus und kümmert sich um die Kommunikation mit Behörden und Medien.
Auf jedem Mitarbeiter lastet also eine große Verantwortung. Das tägliche Pensum an Vorfällen, über die man irgendwie den Überblick behalten muss, ist groß – in Spitzenzeiten laufen Dutzende Einsätze parallel. Trotzdem wirken die Polizeibeamten im FLZ nicht gehetzt, sondern ruhig und konzentriert. Hier sind Spezialisten am Werk. Im vergangenen Jahr haben die insgesamt etwa 80 Mitarbeiter sage und schreibe 260.000 Einsätze koordiniert.
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